Dienstag, 16. April 2024

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Karl Friedrich Borée: "Ein Abschied"
Die letzten Tage von Königsberg

Karl Friedrich Borée wurde 1930 berühmt, als ihm mit dem Liebesroman "Dor und der September" ein Bestseller gelang. Danach schrieb er Anti-Kriegsbücher, kein Erfolgsrezept im Dritten Reich. Nun wurde sein Roman "Ein Abschied" über die russische Eroberung von Königsberg 1945 neu aufgelegt. Eine Entdeckung.

Von Wolfgang Schneider | 04.03.2020
Der Schriftsteller Karl Friedrich Borée
Lange vergessen und nun wiederentdeckt: der 1964 verstorbene Schriftsteller Karl Friedrich Borée (Lilienfeld Verlag / Autorenportrait Karl-Ernst Boeters)
"Die von den Russen bedrohte Stadt Königsberg befand sich bis zu ihrer tatsächlichen Einschließung, bis weit in den Januar 1945 hinein, in einem Zustande, den man wohl einer Euphorie vergleichen durfte, da der Todgeweihte, sei es durch die Gnade der Natur, sei es dank der Geschicklichkeit seiner Ärzte, an sein nahes Ende nicht glaubt."
Sie wollen es immer noch nicht wahr haben – dass der Untergang ihrer Welt kurz bevorsteht. Zwar haben die schweren Bombenangriffe vom August 1944 bereits die Innenstadt von Königsberg zerstört. Aber noch funktionieren die nationalsozialistischen Sprachregelungen von den Frontbegradigungen und den heroischen Abwehrschlachten. Königsberg, bereits voller Flüchtlinge aus den ländlichen Gebieten, wird offiziell zur Festung erklärt. Die Reaktionen der Menschen sind unterschiedlich: Manche machen sich erste zaghafte Gedanken über die Flucht, die offiziell noch verboten ist. Andere leben ganz im Hier und Jetzt und wissen, wo es noch frische Wurst gibt.
Eine Stadt kurz vor ihrer Erstürmung
Karl Friedrich Borées Roman "Ein Abschied" bietet eine faszinierende Darstellung der finalen Wochen in jener einstmals deutschen Stadt, die mit dem Namen des Philosophen Immanuel Kant verknüpft ist. Marian Burger heißt die Hauptfigur: Er arbeitet als Chemiker in einer großen Zellstofffabrik, deren Produktion als "kriegswichtig" gilt. Dieser Umstand und ein Herzfehler haben ihn bisher vor der Einberufung bewahrt.
Es macht den Reiz dieses Buches aus, dass es zum einen Qualitäten eines authentischen Berichts der Ereignisse hat. Zum anderen aber ist es ein Roman, der einen kritisch reflektierenden Menschen mitten in den tödlichen Wirbel der Ereignisse stellt. Dass von den Sowjets und der Roten Armee nicht die Freiheit zu erwarten ist – darüber ist sich Burger bei aller Verachtung des Nationalsozialismus im Klaren. Die entscheidende Antithese ist für ihn nicht die zwischen linker und rechter Politik, sondern die zwischen Freiheit und Unfreiheit. Er sucht seine Zuflucht in einem radikalen Individualismus, der vor dem Hintergrund der NS-Ideologie, für die der Einzelne nichts und die "Volksgemeinschaft" alles ist, so kühn wie realitätsfremd erscheint:
Der Held setzt auf radikalen Individualismus
"‚Der Staat‘, fuhr er lebhaft fort, ‚ist für mich da. Er soll mir die Möglichkeit verschaffen, zu werden und zu sein, der ich bin.‘"
Dieser Individualismus ist eine Reaktion auf die politischen Realitäten der dreißiger und vierziger Jahre, als im Zeichen totalitärer Ideologien die Freiheit des Einzelnen immer weiter beschnitten wurde. Dazu kommt, dass Burger sich nicht befähigt fühlt, Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen. Seiner Ehefrau Sibylle besorgt er – anfangs gegen deren Willen – einen Platz auf einem der letzten Schiffe, die Ostpreußen Richtung Westen verlassen. Er begreift den Abschied zugleich als Ende der Beziehung, die keineswegs von Lieblosigkeit geprägt war. Nur: Für ihn sei die Ehe keine Lebensform, meint Burger. Er will sich lieber dem Untergang Königsbergs aussetzen.
"Wozu taugt denn das ganze Leben, wenn man nichts erlebt? Und hier wird einem doch etwas geboten."
Statt heiraten will er dem Untergang Königsbergs zusehen
Diese Bemerkung ist nicht völlig ironisch gemeint. Obwohl er das Schlimmste befürchtet – "Plünderung, Verschleppung, Versklavung" und eine "Generalvergewaltigung der Frauen" –, bleibt er so lange wie möglich in Königsberg und beobachtet mit der quasi wissenschaftlichen Neugier eines Anthropologen die Zeichen der Auflösung in der umkämpften Stadt, wo in manchen Bunkern bereits die Sitten verwildern. Er selbst hält auf Anstand, etwa im freundlichen Umgang, den er mit den französischen Zwangsarbeitern in der Zellstofffabrik pflegt.
Fast amüsiert erlebt er, wie sich der angetrunkene Ortsgruppenleiter der NSDAP vor ihm noch einmal wichtig macht und mit dem Revolver fuchtelt. Doch Burger hört schon den "Ton der verfallenden Macht" in dem alkoholisch aufgeblähten Gerede des Mannes, der kurz darauf zu jammern beginnt, dass es "aus" sei.
"'Das einzige, was mich tröstet‘, sagte Schwarz, der jetzt aller seiner Sinne wieder mächtig zu sein schien: 'Es hat sich gelohnt, mein Lieber! Was war ich denn? Ein Dreck, ein rausgeschmissener Angestellter, der sich mit Vertretungen abquälte.‘"
Kurz bevor es zu spät ist, entschließt sich Burger dann aber doch noch, aus der eingeschlossenen Stadt zu fliehen. Zu Fuß macht er sich auf Richtung Pillau. Die Straßen sind voller Flüchtlingstrecks, die bei starkem Frost mühsam Richtung Westen voranzukommen suchen; der Tod ist allgegenwärtig.
"Der Wind wuchs zum Sturm, der Schnee fiel dichter. Menschen, Vieh und Fahrzeuge wurden von dem menschenfeindlichen Weiß bedeckt. Im Straßengraben stand Vieh, das im Schnee auf seinen Tod harrte. Immer mehr weggeworfener Hausrat lag auf den Seiten, immer mehr aufgegebene Wagen. Man sah Soldaten, die an Baumstämmen lehnten oder kauerten und sich einschneien ließen. War es nicht eigentlich gescheit, den sanften Todesschlaf zu suchen?"
Auf diesem strapaziösen Marsch, der ihn an seine Grenzen führt, lernt Burger etwas, das er bisher nicht wahrhaben wollte: dass Menschen aufeinander angewiesen sind. Dass sein individualistisches Selbstverständnis eine Illusion ist. Er gibt Verpflichtungen, denen man sich, so furchtbar und tragisch sie sein mögen, nicht entziehen kann. Als er Zuflucht auf dem kleinen Gutshof seiner früheren Verlobten Ulrike sucht, findet er die Freundin in einem komatösen Schlaf auf dem Bett – sie hat einen Selbstmordversuch mit Schlaftabletten unternommen. Wehrlos liegt sie da, kommt nur kurz zu Bewusstsein und erkennt ihn. Vergeblich versucht er, sie wachzurütteln. Unterdessen kommt die Rote Armee näher. Burger muss fliehen, kann sie aber nicht mitnehmen. In diesem Dilemma sieht er sich zu einer Tat genötigt, die seine Lebensphilosophie der Autarkie endgültig zunichte macht. Und das Finale des Romans hält noch weitere Erschütterungen für ihn bereit.
Kann man eine Diktatur schuldlos überstehen?
"Ein Abschied" lässt sich als Antwort auf die Frage lesen, wie intelligente Menschen, die den Nationalsozialismus ablehnten, ohne sich jedoch zum lebensgefährlichen offenen Widerstand durchringen zu können, durch die Hitler-Jahre gekommen sind – indem sie sich nämlich wie Marian Burger verkapselten und in eine innere Gegenwelt aus gehobener Kultur und stoizistischer Philosophie flüchteten. Noch während Königsberg beschossen wird und draußen die Flüchtlingstrecks vorbeiziehen, liest Burger Goethe. Zu dieser Haltung gehört auch die Abgrenzung von den verführbaren "Massen".
"Die Masse gebiert nichts. Nur den Führer …"
…, heißt es an einer Stelle. Dass gerade die akademischen Eliten früh eine Affinität zum Führerstaat entwickelten, wollte man 1951, als Borées Roman erstmals erschien, immer noch nicht wahrhaben. Der Abstand suchenden Mentalität Burgers entspricht auch Borées auf Haltung bedachter Stil: prägnant, gepflegt, nicht ohne Eleganz, manchmal aber auch angestrengt korrekt und etwas manieriert.
Während die Beschreibungen der letzte Tage von Königsberg und der Flucht durch die tödliche Winterlandschaft sich heute nicht weniger beeindruckend lesen als vor siebzig Jahren, haben einige Gedankengänge des Romans etwas Patina angesetzt, insbesondere, wenn sie das Geschlechterverhältnis und die vermeintliche "Natur" der Frauen betreffen. Aber dies muss bei der Lektüre nicht stören.
Das Dilemma des Helden ist weiterhin aktuell
Dass die Menschen nicht zu allen Zeiten gleich gedacht und gleich empfunden haben – das ist ja eine wichtige Erfahrung, die gerade Literatur vermitteln kann. Zeitlos dagegen sind die zentralen Fragen, die dieser kluge Roman stellt: Wie verhalten sich Menschen, wenn sich in historischen Krisenzeiten die bürgerliche Ordnung um sie herum auflöst? Wie findet der Einzelne trotz Terrorregime einen moralisch vertretbaren Weg zwischen Anpassung und Aufbegehren? Wann kippt das persönliche Freiheitsbedürfnis in Verantwortungslosigkeit? Die geglückte Verbindung des Historisch-Dokumentarischen mit solchen bis heute hochaktuellen Fragestellungen und moralphilosophischen Erkundungen macht "Ein Abschied" zu einer sehr lesenswerten Wiederentdeckung.
Karl Friedrich Borée: "Ein Abschied"
Mit einem Nachwort von Axel von Ernst
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf. 184 Seiten, 20 Euro.