Karl-Sczuka-Preis für Radiokunst 1989

Südwärts, südwärts

Ein Studiomikrofon
Ein Studiomikrofon © Deutschlandradio / Ellen Wilke
Hörspiel von Anselm Ruest und Hartmut Geerken · 18.04.2017
Ein deutscher Emigrant in Frankreich wird 1940 von französischen Autoritäten zusammen mit vielen anderen Leidensgenossen in einem Güterzug südwärts deportiert. Einerseits heißt es, die Emigranten sollten vor dem Zugriff der vorrückenden Nazitruppen geschützt werden, andererseits wurden sie wie Kriegsgefangene behandelt.
Der jüdische Emigrant, der libertäre Autor und Philosoph Anselm Ruest, schreibt während des mehrtägigen Transports und unmittelbar danach einen äußerst detaillierten dokumentarischen Bericht über diese Verschickung im verschlossenen Viehwaggon von Cépois nach Marseille. Der Text fand sich in Ruests Nachlass. Die artifizielle Ausdrucksweise in klassisch gedrechselten Sätzen macht den beklemmenden Reiz dieses Berichts aus, vor allem im Hinblick auf die menschenunwürdige Situation, die er beschreibt. Hartmut Geerken hat sich diesem Text zu nähern versucht, indem er 1988 die aus Ruests Text vage rekonstruierte Strecke mit offenem Mikrofon nachfuhr. Was er akustisch einfangen konnte, hat nichts mehr zu tun mit Ruests Bericht. Fast 50 Jahre sind vergangen, und aus unverschweißten Gleisen sind verschweißte geworden. 1988 gibt es nichts, was an die Deportation von 1940 erinnert, es sei denn, dass die Orte, an denen Ruest und Geerken sich aufhielten, und die Strecken, die sie fuhren, deckungsgleich waren; aber auch das bleibt unsicher.
Realisation: Hartmut Geerken
Mit Peter Fricke

BR 1989
Länge: 47'33
Hartmut Geerken wurde für das Hörspiel "südwärts, südwärts" mit dem Karl-Sczuka-Preis für Radiokunst 1989 ausgezeichnet.
Anselm Ruest (1878–1943), Berliner Schriftsteller und Kritiker. 1933 Flucht nach Paris. Ab 1939 in mehreren Internierungslagern. Starb nach schwerer Krankheit 1943 in Carpantras.