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Karoline Menge: "Warten auf Schnee"
Ein Zustand unbedingter Einsamkeit

Beklemmung pur: Zwei junge Mädchen in einer abgelegenen Ortschaft werden von ihrer Mutter verlassen. Als auch alle anderen Dorfbewohner verschwinden, bleibt nur die Hoffnung auf eine andere Welt hinter den Hügeln. Karoline Menges Debütroman "Warten auf Schnee" kennzeichnet eine bedrückende Trostlosigkeit.

Von Martin Grzimek | 21.11.2018
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    Ein Debütroman von bedrückender Trostlosigkeit (Buchcover: Frankfurter Verlagsanstalt / Hintergrund: picture-alliance/ dpa / Marius Becker)
    "Wenn man in einem Dorf wohnt, das beinahe nur aus alten Leuten besteht, erlebt man ständig, dass jemand verschwindet. Als Kind machte mir das Angst, ich dachte, dass bald niemand mehr da sein würde, aber ich konnte mir nicht vorstellen, was das bedeutete. Ich hoffte, dass es anders sein würde, dass hier, in diesem Dorf, die Naturgesetze außer Kraft gesetzt würden."
    Über ein solches Dorf hat Karoline Menge mit "Warten auf Schnee" ihren ersten Roman geschrieben, ein ebenso mutiges wie beklemmendes Unterfangen. Denn die sechzehnjährige Pauli, die in dem Buch von ihrer trostlosen Situation und Kindheit erzählt, wird wehmütig feststellen müssen, dass die von ihr beschworenen "Naturgesetze" nicht durchbrochen, sondern ‚in Kraft’ geblieben sind. Am Ende ihrer Aufzeichnungen haben nicht nur alle Bewohner das Dorf verlassen, sondern sie selbst ist die Einzige, die zurückbleibt. Sogar die eigene Mutter und die etwas jüngere Karine, eine Pflegetochter der Familie, sind eines Tages wortlos fortgegangen und nie wiedergekommen.
    Erinnerungen in lakonischer Erzählweise
    "Meine Mutter ging an einem Nachmittag im Januar. (...) jetzt, da sie fort ist, weiß ich nicht, ob ich sie je wirklich gekannt habe. Ich sitze am Fenster, jeden Tag, und schaue und versuche, mich zu erinnern, wer sie gewesen ist."
    Es sind kleine häusliche Szenen, an die sich das junge Mädchen an ihrem Fensterplatz erinnert: das karge, gemeinsame Abendessen, stets gleiche Rituale des Zubettgehens oder die Blumenbild-Collagen bastelnde Mutter. Der Vater, ein Biologe, fährt ab und zu mit seinem Auto durchs Dorf, bis es kaputt geht. Offensichtlich war es das einzige Auto, das in dem Ort je gesehen wurde. Irgendwann verschwindet auch der Vater auf nimmer Wiedersehen. "Eines morgens war er weg", bemerkt Pauli ratlos dazu. Denn "wie mein Vater aus dem Dorf gekommen war, ohne Auto, weiß niemand". Das alles scheint sie nicht sonderlich zu berühren, gleichmütig nimmt sie das tägliche Einerlei wahr. Abwechslungen bieten die Schule und ein paar Besuche bei der streitsüchtigen Oma. Oder sie begleitet die Mutter, wenn sie einigen der Alteingesessenen eingekochte Früchte bringt.
    Doch dann taucht Powel auf, ein Junge, der "von weit her" ist und "ein Durcheinander in seinem Gesicht" hat, eine Fremdheit, die sie interessiert. Zudem betreibt sein Vater im Dorf für kurze Zeit einen Kiosk, "in dem es Gummitiere in allen Variationen, Bier, Tabak und Magazine", gibt, Zeitschriften mit Abbildungen nackter Frauen. Auch das etwas Neues für Pauli. Was Powel ihr jedoch über seine Herkunft erzählt, ähnelt fast ihrem eigenen Leben.
    "Powel erzählte mir von seinem Vater. Er hat gar keine Familie mehr, sagte er. Weder Eltern noch Geschwister. Alle sind sie früh gestorben, an der Kälte oder anderen Krankheiten. Bei uns zu Hause ist das Wetter die schlimmste aller Krankheiten, sagt man. Ist es zu heiß, sterben die alten Menschen an Herzversagen, die Kinder ertrinken im See. Ist es zu kalt, sterben die Alten an Stürzen, die Kleinen erfrieren in ihren Gitterbetten."
    Darstellung einer radikalen Beziehungslosigkeit
    Der Reigen der verlorenen Kinder wird in Karoline Menges Roman durch die etwas jüngere Karine ergänzt. Ihre Mutter habe sie "ins Haus geholt", da es"Kinder gebe, (...) die weggehen müssten aus ihrem Zuhause, weil sich niemand um sie kümmere." Für Pauli scheint allein wichtig zu sein, dass Karine "aus der richtigen Welt" kommt, weil sie etwas kennt, das Pauli selbst noch "nie gesehen" hat. Eine Zeitlang kümmert sie sich um Karine wie um eine Schwester. Doch dann – wie schon erwähnt – verschwindet plötzlich die Mutter. Die beiden Mädchen sind von nun an allein in dem Haus, versorgen sich notdürftig, durchstreifen den Garten, das Dorf, den Wald. Bis auch Karine nach einem ihrer Ausflüge nicht mehr zurückkommt. Vater, Mutter, die Schwester, die Leute aus dem Dorf – alle scheinen sich aufgemacht zu haben in eine andere, eine "richtige Welt", die Pauli sonst nur in Büchern gefunden hat. Ihr selbst bleibt nichts anderes als die völlige Vereinsamung. Eine fatale, nur schwer zu ertragende Beziehungslosigkeit durchzieht den ganzen Roman. Mutter und Vater sind namenlose Erscheinungen, unauffindbar ist der Ort der Handlung, ohne Hintergrund die Zeit, in der das alles stattfindet. Zurückbleibend mit ihren spärlichen Kindheitserinnerungen, glaubt Pauli wie ihre Vorfahren, die einfach nur "Vorfahren" sind und wiederum keine Geschichte haben, verrückt zu werden oder krank zu sein.
    "Den Namen dieser Krankheit kenne ich nicht, ich wusste nicht einmal, dass es eine solche Krankheit gibt. Aber sie ist bestimmt gefährlich, man kann darin verlorengehen, man kann sich darin verfangen und den Weg nicht zurückfinden. Vielleicht ist es eine Augenkrankheit oder eine Krankheit, die sich viel tiefer festsetzt, hinter den Augen, in der Stirnhöhle, sie setzt sich zwischen meine Gedanken und meine Augen, dass ich die Dinge anders sehe, obwohl ich weiß, dass sie nicht so sein können."
    Konturlose Schattenwesen
    Als müsste uns die Autorin vergewissern, dass ihre Erzählerin gleichwohl in einer konkreten Welt lebt, schickt sie das Mädchen gegen Ende des Buches noch einmal in eines der Häuser des Dorfes und lässt sie verlassene Räume durchstöbern. Für ein paar Seiten durchbricht die Erzählstimme die Monotonie ihrer Monologe und schildert in der gespenstischen Situation ihre Angst. Bisweilen schmücken den Text auch intensive Bilder. Haus, Garten, Wege tauchen in ein unwirkliches Licht und der Donner wirft, wie es heißt, "wild seine Fäuste auf das Dorf". Doch trotz der präzisen Sprachführung Karoline Menges, trotz des gewollt märchenhaften, sich ins Poetische verlierenden Tonfalls wirkt die Erzählung über Strecken hinweg auf ermüdende Weise mehr und mehr verunsichernd. Das stets Ungewisse macht die Personen zu konturlosen Schattenwesen, Handlungen verirren sich im leeren Raum, und die bloß behauptete Sehnsucht nach etwas Anderem lässt, wie der Titel des Romans, nur noch ein "Warten auf Schnee" zu, Schnee, der alles zudecken wird, was ohnehin schon erstarrt ist. Man könnte Karoline Menges Roman als den Versuch lesen, uns mit der Zustandsschilderung unbedingter Einsamkeit eine zeitlose Parabel gegen alles Laute, Bunte und allzu Selbstverständliche entgegenzuhalten. Doch dazu lässt uns dieser Roman zu sehr allein mit seinen unbeantwortbaren Fragen und läuft Gefahr, vor allem aus sich selbst ein Geheimnis zu machen.
    Karoline Menge: "Warten auf Schnee".
    Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a.M.
    200 Seiten, € 20,00