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Kartografische Kuriositäten

Der Belgier Frank Jacobs dürfte wohl einer der weltweit leidenschaftlichsten Kartensammler überhaupt sein. Er hat sich auf fehlerhafte Karten spezialisiert und sammelt sie regelmäßig auf dem Blog "Strange Maps”. Die schönsten Beispiele gibt es jetzt als Buch.

Von Ruth Rach | 23.11.2012
    "Eine langweilige Karte gibt es nicht. Es gibt nur einen langweiligen Kartenleser."

    Frank Jacobs sitzt in einer Bar in London. Gleich um die Ecke liegt die belgische Botschaft. Dort arbeitet er in der Wirtschaftsabteilung. Er trägt ein grasgrünes Ghostbuster-T-Shirt, damit habe er seine Kollegen zum Lachen gebracht.

    "Karten eignen sich wunderbar dafür, deine eigene Odyssee zu projizieren. Das beste Beispiel stammt von Lewis Carol, dem Verfasser von Alice im Wunderland: eine leere, unbedruckte Seite mit dem Titel: The Sea."

    Auch die Karten, die Frank Jacobs für seinen Blog "Seltsame Karten" gesammelt hat, sind nicht unbedingt fürs Navigieren geeignet. Zum Beispiel ein Schaubild voller hauchzart kolorierter Schneehäubchen: lachsrosa, blassgelb, flaschengrün. Die höchsten Berge der Welt, aus dem Jahr 1831. Total falsch und genauso deswegen besonders faszinierend.

    "Genau diese Diskrepanz zwischen Fakt und Fiktion ist das Tor zu einem alternativen Universum, in dem andere Sprachen und andere Sitten existieren. Je mehr Fantasie du hast, desto fantastischer kannst du diese alternative Welt gestalten."

    Frank Jacobs kostet seinen Rotwein. Dunkel, würzig. Schwer. Dann erzählt er von Gerardus Mercator, dem flämischen Kartografen und Mystiker, der den ersten Atlas erstellte, Ende des 16. Jahrhunderts, mit besessener Detailtreue. Leider waren seine Quellen weniger exakt. So entstand die erste falsche Karte des wahren Nordens.

    "Laut Mercators Karte ist Kalifornien eine Insel, auf der Eisbären hausen. Herrlich irreal und doch – weil's ja auf einer Karte steht - irgendwie real."

    Frank Jacobs behauptet, dass alle Karten lügen: weil sie die Welt von drei auf zwei Dimensionen reduzieren. Was wir sehen, ist nicht das, was existiert.

    Eine Erkenntnis, die Politiker und Propagandisten schon seit Jahrhunderten zu nutzen wissen. Frank entfaltet eine Karte aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, die Südstaaten von einer riesigen schwarzen Schlange abgewürgt. Eine Illustration des sogenannten Anakondaplans von Generalleutnant Scott, er will die Wirtschaft des Südens durch eine doppelte Blockade lahmzulegen.

    "Wenn ich im Süden gelebt hätte, hätte das Bild allein schon Furcht und Schrecken in mir ausgelöst. Da braucht der Norden gar nicht erst anzugreifen, hier macht die Schlange praktisch schon die halbe Arbeit."

    Die Macht der Bilder. Karten führen in die Irre, oder zum Ziel, Karten als Metaphern, als Allegorie, zeigen Wege durch äuβere und innere Landschaften. Frank Jacobs Buch, das aus dem Blog entstand, fällt genau in der Mitte auseinander, entblöβt auf einer Doppelseite eine zweigeteilte Landschaft. Links ein wild wogendes Meer, rechts ein stiller runder Teich. Mittendurch ein schmaler gestrichelter Fluss, dazwischen mysteriöse Anhöhen. La Carte de Teindre, die Topografie der Zuneigung.

    "Diese Landschaft symbolisiert die Stationen der Liebe, vom unbekannten Gefilde über das gefährliche Meer, durch kleine Ortschaften wie Wertschätzung, Zärtlichkeit, aber auch am See der Gleichgültigkeit vorbei, und am Meer der Unbill. Diese Kartografie des Herzens war im 17. Jahrhundert in den literarischen Salons in Frankreich ungemein angesagt. Nicht zuletzt auch deswegen, weil es sich um ein Abbild der weibliche Anatomie handelt - unausgesprochen versteht sich, statt Schlüsselroman eine Schlüsselkarte."

    Im Urlaub fährt Frank Jacobs gern an seltsame Orte, die auf Uneingeweihte eher langweilig wirken können. Aber die schönsten Abenteuer erlebt er im bequemen Sessel. Beim Kartenlesen.

    Die Realität ist für ihn eher sekundär. Inzwischen hat er Tausende von Karten, nicht etwa in seinem Studierzimmer, sondern praktischerweise im Internet versammelt. Jeden Tag schicken ihm Fans neue Karten, mit einer verblüffenden Botschaft.
    Auch sie waren als Kinder – wie er - einsame Sonderlinge, die lieber hinter dem Ofen in ihrem Atlas lasen, während ihre Freunde Fußball spielten …

    Seltsame Karten: Ein Atlas kartographischer Kuriositäten von Frank Jacobs und Matthias Müller. Liebeskind. 125 Seiten.