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Kastenstruktur und Korruption

Der Zeitungsredakteur lässt sich bestechen, der moslemische Streikführer kungelt mit den Arbeitgebern, und der Pachtherr biedert sich den englischen Herren an. In der deutschen Fassung seines Romans "Godan oder das Opfer" liefert der 1936 verstorbene indische Autor Premtschand ein reiches Bild des kolonialen Indiens.

Von Dorothea Dieckmann | 28.09.2006
    Jedem indischen Schulkind sind seine einprägsamen Geschichten und Figuren ein Begriff. Zur Feier seines 125. Geburtstags wurde er letztes Jahr landauf landab mit Inszenierungen und Rezitationen gefeiert. Im Internet kann man sei-ne Erzählungen in dramatisierter Form anhören, in den USA chatten indische Auswanderer über seine Bücher. Und doch ist in der westlichen Welt sein Name ein Fremdwort geblieben.

    Premtschand, wie der 1880 in Benares geborene Schriftsteller Dhanpat Rai familiär genannt wird, ist wie sein Zeitgenosse Tagore zu Hause eine Institution, anders als der Nobelpreisträger aber hierzulande erst zu entdecken. Der Anfang ist endlich getan. "Godan oder Das Opfer" heißt der opulente Roman, der nun 70 Jahre nach seinem Erscheinen auf deutsch vorliegt. Schon die ersten Sätze führen mitten in die Welt ländlicher Armut und Abhängigkeit:

    Als Hori Ram mit dem Füttern der zwei Ochsen fertig war, sagte er zu seiner Frau Dhanija: "Schick Gobar das Zuckerrohr hacken. Wer weiß, wann ich zu-rück sein werde. Und reich mir meinen Stab!" Dhanija hatte beide Hände voll Kuhmist. Sie kam gerade vom Brennfladenmachen. "Iß doch erst einen Happen", meinte sie. "Wozu denn die Eile?" Hori runzelte seine von Falten zerfurchte Stirn. "Komme ich zu spät zum Herrn, kann ich meine Aufwartung nicht mehr machen. Hat er erst einmal mit dem Baden und Beten begonnen, muss ich stundenlang warten."

    Baden und Beten, physische und spirituelle Reinheit, sind Merkmale der Brah-manenkaste, deren religiöse Deutungshoheit zu jener Zeit eng mit politischen und ökonomischen Privilegien verbunden war. Während aber die Pachtbauern trotz der Unterdrückung in der gottgegebenen Hierarchie sozialen Halt suchen, spielen unter den Herrschenden die Religions- und Kastenunterschiede kaum eine Rolle.

    Indem der Roman die Geschichte der Kleinbauernfamilie Ram mit dem Leben der städtisch geprägten Oberschicht verknüpft und kontrastiert, liefert er ein fundamentales Anschauungsmaterial der komplexen Verbindungen von Religion und Macht, Kasten- und Familienstruktur, Korporativismus und Korruption. Der oppositionelle Zeitungsredakteur lässt sich bestechen, der moslemische Streikführer kungelt mit den Arbeitgebern, und der Pachtherr, der wegen seiner Ghandi-Anhängerschaft im Gefängnis saß, biedert sich den engli-schen Herren an:

    "Auch mein Wohl und Wehe hängt von meinen Bauern ab, niemand könnte um ihr Wohlergehen mehr besorgt sein als ich. Doch wovon soll ich leben? Mit welchem Geld soll ich große Banketts für die englischen Beamten geben? Wo die Geldspenden für die Regierung hernehmen? Wie die Bedürfnisse von Hunderten von Familienangehörigen befriedigen? Wenn wir wirklich ehrlich und rechtschaffen sein wollten, so würden wir nicht einen einzigen Tag über-leben."

    Das mag schlicht und gestanzt klingen, doch Premtschand fehlt es nicht an ironischen Zwischentönen, wenn er die intellektuellen Winkelzüge und die aus Luxus geborene Freizügigkeit der Reichen und Gebildeten schildert. Auch auf dem Land pflegen die Hochkastigen die Doppelmoral, wenn sie sich etwa eine kastenlose Geliebte leisten, solange diese nicht mit ihren Speisen in Berührung kommt.

    Die Kleinbauern schlagen sich derweil auf ihren winzigen Parzellen nicht nur mit der tödlichen Verschuldung und der drohenden Vertreibung her-um, sondern verstricken sich im Gestrüpp von Heiratspolitik, Gefälligkeits-tausch und Familienfehde. Als in einer Familie der verwitwete Schwiegervater wieder heiratet, gerät die Frau seines Sohnes in Bedrängnis:

    Nun war die Stiefmutter ihres Mannes Herrin des Hauses. Dass sie sich jetzt unterordnen sollte, missfiel ihr, und es kam daher zwischen den beiden Frauen tagtäglich zu heftigen Auseinandersetzungen. Das Zerwürfnis artete dermaßen aus, dass eine Haushaltstrennung unvermeidlich wurde, und der uralte Brauch, dass es zum Zeitpunkt einer Haushaltstrennung zu einer Schlägerei kommen muss, wurde auch hier getreulich eingehalten.

    Aus den plastischen Episoden und Charakteren, in denen Premtschand das Leben festhält, ergibt sich ein reiches Bild des kolonialen Indien. "Godan" war der letzte Roman des vielschreibenden Autors, der sich nebenbei als Lehrer und Bollywood-Drehbuchautor durchschlug. Heute gilt er als Begründer der modernen realistischen Urdu- und Hindi-Literatur.

    Sein Enkel Alok Rai, Literaturwissenschaftler in Delhi, bedauerte vor einigen Jahren in der "Indian Times", dass der idealistische Sozialrealismus des Großvaters die gebildeten Zeitgenossen angesichts ihres intellektuellen Zynismus nicht mehr anzusprechen vermag.

    Dabei hat sich an der indischen Lebensrealität im Kern nichts geändert. Für das europäische Publikum liest sich "Godan", der in Premtschands Todesjahr 1936 erschien und erst 1968 ins Englische übertragen wurde, wie die ersten Romane der nachepischen Zeit, etwa der Don Quixote - exemplarisch, tragikomisch, ja possenhaft. Trotz der beispielhaften Verdichtungen eignet dieser Literatur nichts Folkloristisches, sondern ein zutiefst kritischer Impuls:

    Die hohen Herrschaften waren es, die die niedrige Gesinnung hatten. Wenn die reichen Leute sich nicht schämen, dann müssen es eben die Armen für sie tun.