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Katalanische Dichtungen

Bei der diesjährigen Frankfurter Buchmesse steht die Katalanische Sprache und Kultur im Vordergrund - Anlass genug, eine dreibändige Ausgabe des bisher in Deutschland weitgehend unbekannten katalanischen Dichters Salvador Espriu herauszugeben.

Von Hans-Jürgen Schmitt | 05.10.2007
    Wer glaubt, er komme mit seinem Spanisch in Barcelona gut durch die Stadt, der kann sich auch auf mancherlei Überraschungen gefasst machen: Ich meine nicht nur die täglichen Angriffe auf die Geldbeutel der Touristen, sondern, dass dort mindestens die Hälfte der Bewohner katalanisch spricht:

    "Du hast Leben gesagt und hast Gefahr gesagt und so, unnütz verdoppelt, zweimal dasselbe gesagt."

    So formulierte der große katalanische Dichter Salvador Espriu einmal seine wahrhaft stoische Auffassung vom Dasein. Das Katalanische ist kein Dialekt, sondern eine Sprache, die auf eine 800 Jahre alte Tradition zurückgeht, verwandt mit den Nachbarsprachen Französisch und Spanisch. Die katalanische Sprache war immer auch natürlicher Ausdruck des Autonomieverlangens dieser nordöstlich gelegenen Region Spaniens.

    Im Mittelalter und der Renaissance gelangte die Literatur zur höchsten Blüte, und erst im 18.Jahrhundert, als Spanisch Amtssprache wurde, erlosch das Katalanische weitgehend als Schriftsprache. Im Spanischen Erbfolgekrieg hatten die Bourbonen gegen die Habsburger gesiegt, auf deren Seite die Katalanen standen. Philipp V. zahlte es den Katalanen mit der fürchterlichen Macht des Zentralstaates heim, nachdem am 11. September 1714 Barcelona als letzte Bastion gefallen war. Der Dichter Salvador Espriu schrieb über diesen 11. September, der heute ob des heroisch geleisteten Widerstands Kataloniens Nationalfeiertag ist, folgendes Gedicht:

    "Wenigstens ließ man uns die
    Ehre, einzeln zu fallen.
    In der Verzweiflung nehmen wir hin die Dunkelheit.

    Morgen gehen wir wieder
    an die Arbeit, die Mühsal.
    Aufrecht gilt’s umzugraben
    die Terrassen der Angst.

    Brunnen bohren wir, zu den
    blinden Augen des Todes.
    Jenseits von Schlammgewässern,
    guter Boden, ein Saatfeld."

    Ein Gedicht in echt katalanischem Geiste, insofern als im Untergang zugleich an ein Trotzdem durch zähes Beharren und schöpferisches Weiterleben gedacht wird. Hier nun müssen wir fragen: Wer ist dieser Salvador Espriu, von dem der Zürcher Ammann Verlag rechtzeitig zum diesjährigen Buchmessen-Schwerpunkt "Katalanische Kultur und Literatur" in drei umfangreichen Bänden kühn die gesamte Lyrik dieses Dichters publiziert hat, herausgegeben und übersetzt von Fritz Vogelgsang, einem der herausragendsten und kenntnisreichsten Übersetzer spanischer und katalanischer Lyrik.

    1913 in der Provinz Girona geboren, starb Espriu 1985 in der katalanischen Hauptstadt Barcelona. Als Sohn eines Notars begann er mit 17 Rechtswissenschaft und Alte Geschichte zu studieren; danach wollte er sich im Ausland der Ägyptologie widmen. Bürgerkrieg und Francos Sieg machten Überlegungen des Republikaners Espriu, als Althistoriker an der Universität zu lehren, zunichte. Stattdessen führte er ab 1940 das Notariat seines verstorben Vaters fort. Und ab Ende der fünfziger Jahre arbeitete er als Justiziar in einer Krankenversicherungsgesellschaft. Eine wahrlich antipoetische Lebensweise ähnlich der eines Franz Kafka. In einem kleinen Selbstporträt skizzierte er sich 1952 so:

    "Ich rede nicht sehr gern von mir und von meinem Werk, vor allem nicht von meinen Gedichten. Davon abgesehen - ich weiß nicht, was Poesie ist, es sei denn ein bisschen Hilfe, um recht zu leben und, vielleicht, gut zu sterben. Fast schon vierzig, kann ich keinen Lebenslauf vorweisen, an dem irgend etwas interessant wäre. Ich habe noch nicht die Zeit gehabt zu heiraten, auch nicht die optimistische Tollkühnheit oder die selbstlose Verzweiflung, es zu tun. Ich glaube, dass man mit der Lektüre des Predigers, des Discours de la méthode, des Quijote, des Discreto und des einen und anderen Kriminalromans genug hat, um ohne existentialistische Schreie oder sonstige unangemessene Äußerungen dieses traurige Leben zu verbringen. Ich verabscheue Literaturpreise, den Geiz und den Schmutz, die Glückwünsche zu Weihnachten und zum Namenstag, die Ehrungen, den Wind, die Unordnung und den Lärm, das Ausgehen bei Nacht, Essen außer Haus, das ganze sogenannte gesellschaftliche Leben. Solange man mich in Ruhe lässt, bin ich jederzeit bereit, treuherzig zu glauben, dass du und selbst Sie, wer auch immer, die besten Schriftsteller der Welt sind."

    In dieser "strikten Zurückgezogenheit", wie der Übersetzer Vogelgsang Esprius Haltung nennt, entstand ein kapitales lyrisches Oeuvre, das insgesamt zu einer der bedeutendsten Dichtungen der iberischen Halbinsel im 20. Jahrhundert zählt.

    Esprius schriftstellerische Anfänge in den dreißiger Jahren sind fast ausschließlich von Prosatexten bestimmt. Es kann kein Zufall sein, dass der Dichter nach dem Bürgerkrieg mit Lyrik begann. Die katalanische Sprache war als Schriftsprache weithin aus der franquistisch dirigierten Öffentlichkeit verbannt. In kleinen Verlagen erschienen zwar nach und nach einige zensierte Prosatexte katalanischer Autoren. Die Lyrik, die ja fast immer zu einer Minderheit von Lesern spricht, hatte aber einen offenbar größeren Spielraum. Diesen Freiraum hat Salvador Espriu mit einer gewaltigen Lyrikproduktion genutzt, die Prosa hinten anstellend. Er ging nicht ins Exil, sondern blieb, um seine Dichtung als Rettung der katalanischen Sprache am Leben zu erhalten.

    "Aber wir haben gelebt, um für euch die Worte zu retten, um euch den Namen einer jeden Sache zurückzugeben, damit ihr dem richtigen Weg folgt, der euch zum vollen Besitz der Erde führt."

    Das ist kein imperialer Gestus Esprius, sondern immer eine ins Metaphysische gewendete Hoffnung. Um dem interessierten Hörer wenigstens einen ganz wesentlichen Aspekt von Esprius Dichtung aus den über 800 ins Deutsche übersetzten Seiten seines Werkes hier vorzustellen, folgen wir zunächst dem hier bereits eingeschlagenen Weg und deuten seine politische Dichtung.

    Im dritten Band der Ammann-Edition gibt es ein Unterkapitel mit dem uns vielleicht jetzt schon nicht mehr ganz befremdlichen Titel: "Aus einem alten und umzingelten Land." Das war oder ist manchmal heute noch das Gefühl der Katalanen. Zu diesem Kapitel gehört das schon zitierte Gedicht "11. September 1714". In diesem Gedicht und auch sonst in seiner Dichtung schlägt Espriu keine nationalistischen Töne an, sondern es ist eher eine umfassende nationale Wehmut, dass das Katalanische immer eine Sprache ohne Staat war; und dass der spanische Zentralstaat diese Sprache brutal unterdrückt hatte.

    "Unter dem schlanken, vieleckigen Glockenturm,
    in der Stadt unseres äußersten Ostens,
    hören wir noch, dicht am Rande des Meeres,
    von den Lippen der Seeleute schön
    die klare Sprache, die uns alle eint, vom ausgedehnten Palmenhain zur weißlichen Lagune,
    von dem Ort, wo ich bin, bis zu jenen Gipfeln,
    zu der breiten und langen Schwelle der trocknen Öde.
    Diese Sprache, die nach und nach
    zum rechten und harten Träger des Zorns geworden,
    unserer kalten, hartnäckigen, unbezwingbaren Passion.
    Erwache, erwach doch Mutter, Mutter Biene, und leih mir
    deinen spitzen Stachel, damit ich dir dienen kann,
    immer zu Ehren und zur Wiederbelebung der Wahrheit
    um anzugreifen und zu verletzten, um zu sprengen und zu durchbrechen,
    damit mein Volk, aufgerichtet, erneut sich wieder auf den Weg mache."

    Espriu ist der ganz und gar besonnene Dichter, der etwa dem Geschrei der Nationalisten, wer denn als katalanischer Autor nach Frankfurt zur Buchmesse reisen dürfe, Einhalt geboten hätte - vielleicht mit den klugen, schmerzvollen Versen aus seinem Gedicht "Man hat mich gebeten von meinem Europa zu sprechen". Dort berichtet der Dichter, wie sein kleines Land Katalonien über Jahrhunderte so viel Gewalt verschiedener Völker erleiden musste, und dass dies alles nur immer wieder in Bürgerkriege führte - zu Schmerz, Trauer, Zerstörung und Tod. Darum ist jetzt die Zeit, angesichts eines neuen Europas, auf eine höhere Einheit und Vereinigung zu hoffen:

    "Deshalb ist jetzt so tief unsere Hoffnung
    - in meinem Traum schon geschaute Wirklichkeit -
    uns einzufügen, zu einem Zeitpunkt, den wir nahen fühlen,
    wenn unsere Sprache und unsere Geschichte geborgen sind,
    in eine höhere Einheit
    Dass unsere Hoffnung nicht enttäuscht werde,
    nicht zu Hohn und Spott werde unser Vertrauen,
    das erbitten wir in Demut."

    Wer spricht hier? Ein Katalane? Ein Europäer? Doch vor allem auch ein Dichter, der nicht vereinnahmbar ist, da er für keine Ideologie oder politische Klasse spricht, sondern im Namen der menschlichen Vernunft und dies ausdrücklich mit Demut!

    Bisher haben wir uns Salvador Esprius Poesie mit einzelnen Gedichten genähert. Espriu aber ist recht eigentlich der Dichter von großen Zyklen, die ihn berühmt gemacht haben. Vor allem mit dem tausend Verse umfassenden Zyklus "Die Stierhaut", der von dem Schicksal des katalanischen Volkes und den Folgen des Bürgerkriegs erzählt. 1957/58 entstanden, wurde dieses große Weltgedicht 1960 in Barcelona veröffentlicht. Es handelt sich um eine epische Versdichtung, gegliedert in 54 Folgen. Jedes neue Gedicht nimmt das letzte Bild des vorangegangenen Gedichts wieder auf. Die Verse, meist kurzzeilig, reimlos, sind zum Teil lyrische, sehr konzise Verknappungen eins Gedankens, vermittelt oft auch durch spruchhafte, dann wieder sprachmagische Bilder. Der Ton beziehungsweise der Duktus des Gedichts ist getragen, aber nicht pathetisch. Der Titel "Die Stierhaut", der auf die kartografische Form der iberischen Halbinsel anspielt, signalisiert sofort, dass der Dichter nicht nur aus der Sicht Kataloniens spricht, sondern das Schicksal der ganzen Halbinsel im Blick hat.

    Um im Bild zu bleiben: Die Stierhaut entfaltet sich auf drei nicht zu trennenden Ebenen:
    Als politisches Gedicht mit einer moralischen Tendenz, als philosophisches Gedicht über den Tod und als poetologisch-existentielles Poem über die Rettung einer Sprache. Dabei wird Spanien nach dem alten hebräischen Namen "Sepharad" bezeichnet. Und so beginnt in eindringlichen Bildern dieser berühmt gewordene Zyklus:

    "Der Stier, in der Arena Sepharads,
    griff die aus-gebreitete Haut an,
    und emporschleudernd, machte er sie zur Fahne.
    Gegen den Wind gehisst, ist die Stierhaut,
    die Haut des blutbefleckten Stiers,
    jetzt ein vom Gold der Sonne aufgeblähter
    Lappen, ausgesetzt für immer der Marter
    der Zeit, unser Gebet
    und unser Lästerfluch. Opfer und Henker zugleich,
    Haß und Liebe, Wehklage und Gelächter,
    unter der tauben Ewigkeit des Himmels."

    Opfer und Henker? Gemeint ist das Volk der iberischen Halbinsel, das im Bruderkrieg so viel Blut vergossen hat, dass die Sonne nicht fähig ist, wie Espriu dichtet, das Blut auf der Stierhaut zu trocknen. Freilich, es geht Espriu nicht um die Rekapitulation jener tragischen Ereignisse des Spanischen Bürgerkriegs, der zum Zeitpunkt von Esprius Niederschrift zwanzig Jahre zurückliegt. Sein Leben und das seines Volkes waren tief davon berührt und geprägt. Das "Entsetzen des Herzens", die "Hände der Angst", die die Stierhaut als Trommel schlagen, sind die auch ganz subjektive Empfindung des Dichters Espriu, der für sein Volk und das alte "Sepharad" zeitenthoben spricht.

    "Abgott, den du dir aufgebaut, Abbild des eigne Übels.
    An einem fernen Tag unseres Winters,
    schon unter dem Schutz dieses Himmels,
    sahen wir mit Entsetzen, wie im Herzen des Neids
    der große Frevel Sepharads sich einfraß:
    die unendliche Traurigkeit der Sünde
    des Krieges ohne Sieg zwischen Brüdern.
    Hergekommen von drüben überm Meer
    Zu diesen dürren, immer mit Blut getränkten Feldern,
    überlebend in qualvoll durchgehaltener Mühsal,
    geleitet von dem Licht des erinnerten Tempels,
    erlangten wir allmählich einen freien Frieden."

    Mit Sepharad, dem alten, hebräischen Namen Spaniens kommen auch zahlreiche Bilder und Notate aus der Geschichte der Juden und ihrer Verfolgung ins Spiel. Bald ist Sepharad ein apokalyptischer Reiter, dann ein Klepper des Todes, ein siechender Bettlerkönig:

    "Wir füllen nun den Sack mit Oliven und Weizen,
    mit dem Herzen, den Lippen, die für uns stumm geworden,
    bringen alles zum Mehl in die Mühlen von Sepharad.
    Damit das Öl, das Mehl, der Kummer und die Mühsal
    Heilung bringe, Sepharad, dem siechen Bettlerkönig."

    Erstaunlich wechseln mit den reflexiven und metaphorisch verdichteten Verse ganze szenisch gebaute Geschichten, etwa der Tod der Besitzerin eines Ladens in Venedig oder die Schilderung eines kleinen Schneiders, der sich umbringt. Denn, so Espriu:

    "Hier auf der Bühne Sepharads,
    hängen wir alle
    an Fäden, die geheime
    Hände bewegen, hüpfen im hübschen
    Lumpenballet.
    Wenn der Landwind sich niederlegt
    hier auf den Feldern,
    zerfetzen wilde Böen
    vom Meereswind
    all das Papier des brüchigen Kulissenzaubers."

    Dies ist das zunächst fatalistische Bild des gemeinsamen Schicksals. Doch Esprius Appell lautet: "Niemals darf ein ganzes Volk sterben für einen einzelnen." Der Dichter lenkt über den historischen Anlass hinaus zur Rettung der Sprache, indem er nun gegen Idole, fette Worte, Lüge und Taubheit seine Dichtung formt:

    "Wir steigen auf den Worten,
    hinab zum Brunnengrund des Schreckens
    Auf den Trittsprossen
    unserer Worte
    wandelt sich der Himmel
    allmählich zum Kerkerabgrund

    zum engen Dunkel,
    und plötzlich sind wir
    Brunnenlochgrauen
    Im langsamen Takt geht das Herz
    der Zeit und bringt uns mehr und mehr
    in die tiefste Pronomenwirrnis.
    Zuweilen sind wir du, vielleicht
    niemals er und immerzu ich,
    Wenn man pausenlos dieses Urwort
    der Gefangenschaft sagen muß."

    Die Schärfe von Esprius Anklage - "Wir bohren den Dolch unseres Schreis ins steinharte Herz von Sepharad" - weicht aber im Verlauf des Gedichts immer mehr einer sokratischen Gelassenheit:

    "Welches Leid wäre nicht erträglich, wenn du Zeit und Tod anerkennst
    Und solltest du, wenn endlich du ans Tor deiner Nacht kommst,
    ans Ende des Wegs, der keine Rückkehr kennt,
    bloß sagen können: ’Danke - dafür, dass ich gelebt hab’."

    Das ist nicht resignative Introspektion, sondern Leben vom Ende her gedacht und gelebt.
    Espriu, der dichtende Erzählerphilosoph, hält trotz seines Pessimismus an der Hoffnung, "dem hellsten der Wörter", wie er sie nennt, fest. Wie nach einer langen Reise ist der Dichter immer mehr bei sich selbst angekommen, hat sich die Stierhaut am Ende in ein Pergament verwandelt.

    "So haben wir sorgsam
    die Flüsse und Gebirge durchmustert,
    die öde Hochebene und die Städte,
    und haben jeden Traum
    ihrer Menschen geträumt.
    Wir sind mit dem Wind
    in den Feldern gewesen, in den Wäldern,
    in dem Rauschen der Blätter und der
    Brunnen,
    Und schreiben nun
    auf diese ausgebreitete Haut,
    auf ein verhohlenes und unsterbliches Herz
    in Ruhe, Zug um Zug,
    den Namen Sepharads."

    Doch nicht als Harmonisierung Esprius ist dieser Schluss des großen Zyklus "Die Stierhaut" zu verstehen, sondern eher als "demütige Hoffnung", wie der Dichter sagt, dass die Zerrissenheit, die die iberische Geschichte spiegelt, so sich nicht fortsetzen möge.

    Dies ist einer der großen Zyklen des Katalanen Salvador Espriu. Wenn man das spannende Editionsgebirge weit durchschreitet, gilt es zumindest auf ein weiteres zentrales Werk hinzuweisen. Die Dichtung Esprius steht auch im Zeichen des Ariadnemythos und des Labyrinths. Im Zyklus "Ende des Labyrinths", aus dreißig Gedichten bestehend, wird die andere Seite seiner Dichtung besonders deutlich: das Thema des Todes als Verstrickung des Lebens in ein labyrinthisches Dasein. Als Motti und Grundlagen setzt Espriu ein Zitat der Mystiker Meister Eckehart und Nikolaus von Kues voran. Das lapidare Zitat von Eckehart steht in dessen Schrift "Von der Abgeschiedenheit":

    "Soll das Herz vollkommene Bereitschaft haben, so muß es beruhen auf dem reinen Nichts - in diesem liegt zugleich das höchst Vergnügen, das es geben kann."

    Das entspricht Esprius unabdingbarer Haltung, wie wir sie kennen gelernt haben. Jetzt im "Ende des Labyrinths" führt der meditative Weg in eine Finsternis, die es zu erforschen gilt.

    "Wie die Augen der Nacht
    mich empfingen, mich kennen!
    Ganz langsam lässt das Eis
    die Worte ferne rücken.

    Meine Angst reitet
    auf dem Rücken der Nacht, bebenden Morgengrauens.
    Mitten im Schlaf
    verfolgt sie mich.
    Die arme Liebe
    meines Gemüts
    spricht den Namen des Nichts
    voll Haß auf alle Wörter."

    Das ist hochverdichtete Gedankenlyrik, ein Abenteuer des Geistes sui generis, im einzelnen der Bildfolge leicht eingängig, im Ganzen des Zyklus dunkel hermetisch. Dieser Weg, der ins Nichts führt, setzt freilich keinen nihilistischen Endpunkt, sondern evoziert eine mystische Befreiung:

    "Entronnen in den Schnee
    hoch im Gebirge droben,
    hab ich auf fernstem Gipfel
    weiße Worte gesprochen.

    Mit Lippen voller Blut
    sag ich eisige Worte,
    Die klare Einsamkeit
    meiner eigenen Seele

    Lange noch, steil empor,
    winken Zweige mir nach.
    Über der letzten Tanne:
    ein erstes Reich der Flügel.

    Schon fühle ich mich frei
    vom Erinnern und Hoffen.
    Nur Schneelieder allein
    können mich begleiten."

    Von dem Dutzend Lyrik-Publikationen Esprius, die die Zürcher Ammann-Edition vereint, seien vor allem auch die Bände "Karwoche" und "Buch von Sinera" hervorzuheben, auch weil sie neben dem Stierhautzyklus wohl am zugänglichsten sind. "Karwoche" stellt ins Zentrum Esprius Todesthematik, wohingegen "Buch von Sinera" den Dichter auf dem Lande zeigt, den einsamen, der sich leidenschaftlich der Landschaft seiner Kindheit zuneigt, dem aufsteigenden Nebel, den Ästen eines Baumes in einer wunderbar einfachen Sprache.

    Sinera ist das Anagramm von Arenys (del Mar), wo Espriu seine frühen Jahre verbrachte und wo er begraben liegt. Liest man heute spanische Kritiker wie etwa Andrés Trapiello über Espriu, so scheinen diese dem unpolitischen Espriu den Vorzug zu geben. Doch ich denke, wenn Salvador Espriu bei uns eine Chance hat, dann als Dichter der "Stierhaut".

    Hier können wir in einer genial sprachschöpferischen Dichtung das Schicksal einer Sprache und eines Volkes auf genuine Weise erst eigentlich begreifen. Es wäre im Übrigens die zweite Chance, Espriu in Deutschland zu entdecken. Eben jener Fritz Vogelgsang hatte bereits 1985 und 1986 in dem kleinen Frankfurter Verlag Vervuert "Die Stierhaut" und "Ende des Labyrinths" mit zwei weiteren Zyklen herausgebracht. Ein mutiger Außenseiterversuch, der uns schon damals begeistert hatte.

    Bleibt zu hoffen, dass diesmal diese wunderschöne Espriu-Edition in kongenialer Übersetzung Fritz Vogelgsangs die Tür zu einer großen katalanischen Welt-Dichtung öffnet.

    Salvador Espriu: Poesias - Dichtungen
    Katalanisch/Deutsch, Übersetzung Fritz Vogelgsang,
    3 Bände in Schubern, 800 Seiten. Ammann Verlag Zürich 2007, 58 Euro