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Katastrophe fürs Stadtbild

Souvenirs kann man in Venedig überall kaufen, nicht aber Brötchen und Gemüse. Hotels schießen aus dem Boden, Wohnungsmieten sind unerschwinglich. Große Bauprojekte gefährden das ökologische Gleichgewicht. Henning Klüver über die Probleme hinter der touristischen Fassade.

29.07.2005
    Wenn in Venedig die Mittagsglocken läuten und die Anbieter auf dem Rialto-Markt ihre Waren billiger abgeben, breitet sich Alltagsstimmung über der Lagunenstadt aus. Was dem Besucher so ganz typisch erscheint, wird dem Einheimischen jedoch zunehmend fremd. Christine Permutti, Wahl-Venezianerin und deutsche Honorarkonsulin, beschreibt die Tücken des Alltags:

    "Es wird immer schwieriger. Wir leben hier in diesem Gebiet Dorsoduro seit fünf Jahren. Als wir hier herkamen, gab es zwei Metzger, ein Gemüsegeschäft, ein Kurzwarengeschäft, ein Wäschegeschäft, ein Blumengeschäft, einen Bäcker. Die gibt’s nicht mehr."

    Dafür gibt es jetzt Andenkenläden, Geschäfte für Glaswaren aus Murano - und Antiquitäten aller Art, denn auch der begüterte Tourist möchte shoppen gehen. Es gibt immer weniger Winkel der Stadt, in denen Einheimische noch Strukturen für den Alltag finden, wo man Lebensmittel einkaufen, einen Arzt besuchen, ins Kino gehen oder sich ein Buch ausleihen kann. Immer mehr Berufszweige wandern von Venedig ab, Rechtsanwälte und Architekten, Lehrer und Computerspezialisten. Die Arbeitskräfte, die die Stadt benötigt, pendeln ein. 70.000 jeden Tag. Dabei wäre im Arsenale, auf der Isola di Sant‘Elena oder im alten Hafenbereich durchaus Platz für Büros und Schulen, für Kinos und Werkstätten. Stefano Boato, der in Venedig an der Universität Urbanistik unterrichtet, bringt es auf den Punkt:
    "Zusammengefasst heißt das: Die Stadt braucht neue Arbeitsplätze außerhalb des Tourismus, sie muss moderne Technologien anziehen, sie muss die riesigen Räume füllen, die zur Verfügung stehen und sie muss verhindern, dass die Dienstleistungen für Einheimische nicht zu Dienstleistungen für Besucher werden und Wohnungen keine Hotels."

    Aber wenn in Venedig geplant wird, dann muss es scheinbar immer die ganz große Nummer sein. Vor ein paar Jahren wollte man eine Expo, eine Weltausstellung auf die Laguneninseln holen. Der Plan scheiterte zum Glück. Dagegen braucht die Stadt, die untrennbar mit dem Schicksal der Lagune verbunden ist und mit dem ihrer Vororte Marghera und Mestre, ein neues Denken. So, wie es der Landschaftsarchitekt Andreas Kipar repräsentiert. Er saniert zum Beispiel industrieverseuchten Boden in Marghera mit Natur und dem Faktor Zeit. Er lässt auf einer Fläche von 2000 Hektar Bäume anpflanzen. An der Lagune wächst wieder Wald. Was das mit der Stadtentwicklung zu tun hat, beschreibt Andreas Kipar so:
    "Philosophie ist angesagt. Das heißt, Ruhe bewahren ist sicherlich in Venedig, auch wenn es da Gegenstimmen gibt, nicht unbedingt ein Schritt zurück, sondern vielleicht doch eher ein Schritt in die Zukunft. Gerade für die Innenstadt: Langsam Sanierung, behutsame Sanierung und weg von den Mammutprojekten, die letztendlich nur dazu dienen, Probleme von einer Seite auf die andere Seite zu schieben."

    Hoffnung setzen viele auf den neuen Bürgermeister Massimo Cacciari. Der Philosophieprofessor, der bereits einmal während der neunziger Jahre die Geschicke der Stadt lenkte, muss sich aber mit den Industrielobbies auseinander setzen, die weiter nur in Großprojekte investieren wollen, die sie gerne zukunftsweisend nennen. Eines dieser Großprojekte ist eine Metro unter dem Lagunenboden, die vom Flughafen bis zum Arsenal führen könnte. Der Urbanist Stefano Boato kommentiert:

    "Die Metro ist eine völlig absurde Sache, sowohl von der Seite der Umwelt als auch von der verkehrstechnischen Seite her gesehen. Es hat keinen Sinn, für 6000 Flugreisende am Tag eine Metro zu bauen, wenn es 70.000 Pendler gibt, die über die Gleise auf dem Damm von Mestre aus in die Stadt kommen. Im nächsten Jahr werden über diesen Damm Züge alle sieben Minuten ankommen und abfahren. Es wäre also unverantwortlich, für eine zusätzliche Metro öffentliche Gelder auszugeben, die das ökologische Gleichgewicht des Lagunenbodens, der fünf bis siebentausend Jahre alt ist, aus dem Lot bringen würde."

    Es wäre eine Metro nur für Touristen, die noch mehr Touristen anziehen würden. Jetzt schon sind die Übernachtungspreise in unvorstellbare Höhen geklettert. Selbst für eine Übernachtung mit Bed & Breakfast muss man 100 bis 200 Euro zahlen. Christine Permutti erzählt:
    "Ein Freund von uns aus Frankfurt sagt, also Bed & Breakfast in Venedig, das kann ich mir nicht mehr leisten. Ich suche jetzt Stuhl & Stulle!"