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Kathedrale des Kapitalismus

Das Empire State Building ist nicht mehr der höchste, aber immer noch einer der populärsten Wolkenkratzer der Welt. Die Eröffnung am 1. Mai 1931 war ein Zeichen unverdrossener Zuversicht. Denn in den harten Zeiten der großen Depression ging New York nicht in die Knie, sondern errichtete wie aus Trotz eine Kathedrale des Kapitalismus.

Von Barbara Jentzsch | 01.05.2006
    350 Fifth Avenue, New York/New York 101 18. Das Empire State Building, das Wahrzeichen von New York, hat nicht die feinste, aber die populärste Adresse von Manhattan. 117 Millionen Besucher haben den 403 Meter hohen Wolkenkratzer seit seiner Einweihung am 1. Mai 1931 besucht. Damals wie heute schwärmen sie von der hinreißenden Eleganz und Schönheit. Der New Yorker Architekturkritiker John Tauranac:

    "Es ist, als ob man auf ein unverankertes Gebäude guckt, das sich nach oben verjüngt und über der Stadt schwebt - wie eine Ballerina, die in die Lüfte springt. Es ist ein enormes Bauwerk, aber es erdrückt einen nicht, wenn man auf der Straße dran vorbei geht. Man muss hochgucken, um es zu sehen. Man fühlt das Gewicht nicht auf seinen Schultern."

    Die Begeisterung der New Yorker für "Skyscraper" hatte die Felseninsel Manhattan Anfang des 20. Jahrhunderts mit Wolkenkratzern übersät. Als 1929 der Börsencrash und in seiner Folge die große Depression das Land in die Zange nahm, kam der Höhenrausch zwar zum Erliegen, doch New York ging nicht in die Knie, sondern errichtete nun gerade, "die Kathedrale des Kapitalismus", den mit 102 Stockwerken - bis 1972 zum Bau der World Trade Towers - größten Wolkenkratzer der Welt.

    Zwei geniale irisch-amerikanische Visionäre machten sich ans Werk: Al Smith, vierfacher Gouverneur des Bundesstaates, und John Jacob Raskob, Selfmademan, Finanzier und Gründer von General Motors. Raskob soll bei der Planung einen dicken Bleistift aus der Tasche gezogen und den Architekten gefragt haben:

    ""Wie hoch kannst Du das Ding machen, ohne dass es umfällt?”"

    Raskob und Smith wollten höher hinaus als alle anderen, und auf jeden Fall die Konkurrenz übertrumpfen: das auf 77 Stockwerke geplante Chrysler Building.

    Kein Problem: In Rekordzeit - ein Jahr und 45 Tage nach Beginn der Bauarbeiten - bohrte sich das Empire State Buildung in die Wolken. Die Presse schwelgte in den gigantischen Dimensionen des "achten Weltwunders": 330.000 Tonnen Gewicht, 7 Millionen Arbeitsstunden, 30.000 Quadratmeter Marmorböden, 1860 Treppenstufen, 73 Aufzüge in Schächten von 11 Kilometern, 60.000 Tonnen Stahlrahmen, 113 Kilometer Wasserleitungen, 85 Kilometer Heizungsrohre, 5000 Kilometer Telefonkabel sowie ein eigenes Postamt.

    64.000 Fenster blitzten in der Sonne, als Al Smith heute vor 75 Jahren das glitzernde neue Zentrum der Manhattan Skyline als ein Bauwerk pries, das sein Design und seine Ausstattung dem Verstand, der Energie, der Erfindungsgabe und der Muskelkraft der Menschheit verdanke.

    "The Empty State Building" witzelten die New Yorker über das anfangs nur zur Hälfte belegte Bauwerk, in dem nachts die Lichter anblieben, um Betrieb vorzutäuschen. Doch dann kam Hollywood und King Kong erklomm den Wolkenkratzer. Über Nacht wurde das Empire State Building zur begehrten Adresse, und Hollywood kam wieder und wieder: Mehr als 90 Filme wurden hier gedreht.

    Ein Drama anderer Art war die Kollision eines Air Force Bombers mit dem Wolkenkratzer. Im Juli 1945 donnerte im dichten Nebel eine zweimotorige B-25 in den 79. Stock der Nordfassade und riss 14 Menschen in den Tod. Das Loch maß fünfeinhalb mal sechs Meter. Das Gebäude soll nur ein kurzes Zittern durchlaufen haben.

    Höher als das Empire State Building recken sich heute die Sears Towers in Chicago und Kuala Lumpurs Petronas Towers. Aber Manhattans Riesenbleistift hat den unschlagbaren Status einer Ikone: Jedes Jahr drängen sich fitte New Yorker beim Wettrennen über die 1860 Treppenstufen. Heiratswillige, die sich durch Originalität und Style für den Empire State Wedding Club qualifizieren, können sich hier trauen lassen. Boy Scouts und Girl Scouts dürfen auf der Aussichtsplattform im 86. Stock Stadt-Camping machen, und an Feiertagen oder bei besonderen Ereignissen wird die Spitze des Gebäudes bunt beleuchtet. Für die 75. Geburtstagsparty sind die Farben des Hauses angesagt: schlichtes, strahlendes Weiß.