Freitag, 29. März 2024

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Katholische Kirche
"Reform der Herzen und der Mentalitäten"

Franziskus hat den Rücktritt von Reinhard Marx als Erzbischof von München und Freising abgelehnt. Der Brief dazu wird unterschiedlich gedeutet. Man muss ihn auf der Basis der jesuitischen Spiritualität verstehen, sagt der Jesuit und Papstbuchautor Andreas Batlogg. Ein Weiter-so werde es nicht geben.

Andreas Batlogg im Gespräch mit Christiane Florin | 14.06.2021
Der Jesuit Andreas Batlogg
Der Jesuit Andreas Batlogg ist Autor des Buches "Franziskus - der Reformer". Er war Chefredakteur der Zeitschrift "Stimmen der Zeit". (Christian Ender)
Christiane Florin: Eine Führungskraft will nicht mehr, aber der Chef sagt: "Nichts da, du bleibst. Du musst dadurch." Diese Botschaft ist angekommen aus dem Brief, den der Papst dem Münchner Immer-noch-Erzbischof Reinhard Marx geschickt hat. Ansonsten aber gehen die Deutungen des Schreibens weit auseinander. Der Papst ist Jesuit und mein Gesprächspartner Andreas Batlogg ist auch Jesuit. Zudem hat Andreas Batlogg ein Buch über Franziskus veröffentlicht. Vor einer Woche schrieb er in seinem Blog, er hoffe, dass der Papst Kardinal Marx, den reuigen Sünder, im Amt belasse. Und so geschah es dann auch wenige Tage später. Herr Batlogg, warum hat der Papst auf Sie gehört?
Andreas Batlogg: Er hat mich sicher nicht gelesen und mich nicht gehört. Ich habe gehofft, dass es so kommt. So überraschend diese Entscheidung war, für mich ist das Signal: "Ich möchte diese Krise, diese Katastrophe in Deutschland weiter mit dir, Kardinal Marx, bearbeiten."
Benediktinerin Rath: Bischöfe müssen sich katastrophaler Vertrauenskrise stellen
Sie habe das Gefühl, dass sehr viele erleichtert seien, dass Kardinal Reinhard Marx im Amt bleibe, sagte die Benediktinerin und Autorin Philippa Rath im Dlf. Sie verstehe die Antwort des Papstes auch als Aufruf an Marx, sich wirklich einzusetzen und die Dinge zu ändern – aber das könne er nicht alleine.
Florin: Überrascht hat die meisten das Ergebnis, also die Ablehnung des Rücktrittsgesuchs, aber auch der Stil des päpstlichen Schreibens. Die einen sagen, das sei ein geistliches Meisterstück, das der Papst da fabriziert hat. Die anderen sehen eine spirituelle Vernebelungsmaschine am Werk. Welches sind die zentralen Gedanken dieses Papstschreibens?

"Das ist ein Weckruf"

Batlogg: Die zentralen Gedanken sind aus meiner Sicht: "Du bist in einer persönlichen Krise. Die Kirche in Deutschland ist in einer Krise. Du hast dich gefragt, kann ich weitermachen als Erzbischof von München und Freising? Du bis zu dem Ergebnis gekommen: Nein, da muss jemand anderer her." Der Papst kommt zu einem anderen Ergebnis auf dem Hintergrund eines geistlichen Unterscheidungs-Prozesses. Und er sagt: "Mach weiter, aber anders."
Florin: An einer Stelle schreibt Franziskus:
"Das Schweigen, die Unterlassungen, das übertriebene Gewicht, das dem Ansehen der Institution eingeräumt wurde, all das führt nur zum persönlichen und geschichtlichen Fiasko. Es führt dazu, dass wir mit der Last leben, wie die Redewendung sagt, ,Skelette im Schrank' zu haben."
Vermutlich wäre die bessere deutsche Übersetzung "Leichen im Keller zu haben" gewesen. Aber jetzt stehen oder hängen da eben die Skelette im Schrank. Also Schranktür zu, ein Reuebekenntnis sprechen und weitermachen: Ist es das, was Franziskus meint?
Batlogg: Ein Weiter-so gibt es ganz sicher nicht. Ich denke, das geht auch aus dem Papstbrief hervor. Das hat der Kardinal in seiner Reaktion auf den Brief - er war ja selber sehr überrascht - auch gesagt: "Wir können nicht zur Tagesordnung übergehen." Ich glaube auch überhaupt nicht, wie manche Kommentare behaupten, dass das alles ein Manöver, eine Inszenierung, Kalkül, Taktik gewesen sein soll. Nein, so nicht. Beide sagen: "Hier gibt es nicht nur persönliches, sondern auch institutionelles, systemisches Versagen." Kardinal Marx hat auch in seiner Stellungnahme deutlich gemacht: Es gibt nicht nur Missbrauch, sondern auch eine Geschichte des Versagens der Aufarbeitung und des Weitermachens. Und jetzt muss es anders werden. Das ist ein Weckruf.
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"Ein spiritueller Vorgang"

Florin: "Wir sind alle Sünder." Das ist ein zentraler Gedanke. Aber es ist auch ein banaler Gedanke. Denn wir reden hier über Straftaten, die oft nicht bestraft wurden. Wo ist denn da der Geist der Unterscheidung, den Sie vorhin genannt haben?
Batlogg: Ich würde mal mit Kardinal Marx antworten: wenn das Evangelium nichts mehr zählt. Ein Bischof der römisch-katholischen Kirche wird mit dem Evangelium argumentieren: "Ich bin ein Sünder" ist zunächst einmal eine Aussage. Das heißt: "Ich habe Fehler gemacht. Ich habe mich vergangen, ich will es anders machen." Aber das ist weder eine Alibi-Handlung noch eine katholische Ausrede noch ein juristisches Schlupfloch. Marx hat Verantwortung übernommen und wird Verantwortung übernehmen. Es gibt ja keine parallele Struktur. Aber dass ein Christ sagt, "ich habe Fehler gemacht", und nicht nur in der üblichen Beschwichtigungsrhetorik der Bischöfe: "Wir haben versagt. Wir haben Fehler gemacht" - das ist doch ein Fortschritt.
Florin: Ja, aber es geht um mehr als "Fehler". Es ist doch auch ein Unterschied, ob jemand eine Notlüge macht - das gilt auch als Sünde - oder ob jemand Kinder sexuell missbraucht oder ob jemand diese Taten vertuscht. Also noch mal: Wo ist denn da der Geist der Unterscheidung, wenn alles "Sünde" heißt?
Batlogg: Marx hat gesagt: "Wir haben versagt. Ich habe versagt. Wir haben weggeschaut. Wir haben uns versteckt hinter irgendwelchen Formeln." Für mich ist der ganze Vorgang ein - ich würde sagen - spiritueller Vorgang. Dass ich in der Aufarbeitung für mich persönlich zunächst überlege Trost-Misstrost wird das jesuitisch genannt. Was bewegt mich? Was habe ich falsch gemacht? Was will ich anders machen? Wenn man diesen ganzen Vorgang - den Brief von Marx, die Reaktion vom Papst, die Stellungnahme von Marx auch gestern im Dom - nicht auch spirituell lesen will, dann wird es schwierig.

"Marx Rücktrittsangebot war ein Knaller"

Florin: Ist das Spirituelle das Jesuitische daran?
Batlogg: Ich glaube schon. Der Papst ist seit über 60 Jahren Jesuit. Er geht mit diesen Instrumenten um. Mich erinnert der ganze Vorgang im Übrigen sehr an seinen Umgang mit den chilenischen Bischöfen, die er vor einiger Zeit als gesamte Bischofskonferenz in den Vatikan zitiert oder eingeladen hat, um mit ihnen über die Problematik des sexuellen Missbrauchs in Chile zu reden. Das Ergebnis war, dass alle ihren Rücktritt angeboten haben.
Florin: Aber er hat ja auch da nicht alle Rücktrittsgesuche angenommen, sondern eigentlich nur die Gesuche derjenigen, die sowieso von Alters wegen ihren Rücktritt hätten anbieten müssen.
Batlogg: Ich glaube, dass die Rücktrittsangebote ernst waren. Aber es war natürlich auch realistisch klar, dass er nicht 35 Rücktritte auf einen Schlag wird annehmen können. Aber das war schon eine Bombe dort, so wie eben auch die Entscheidung von Marx, "ich muss gehen, ich kann nicht bleiben, ich will nicht bleiben", ein Knaller war.

"Das Evangelium sticht das Amt"

Florin: Ihr Buch über Franziskus heißt "Der Reformer". Welche Reformen will Franziskus?
Batlogg: Ich glaube, dass Franziskus zunächst einmal, bevor er an Strukturen geht - er wird jetzt 85 Ende dieses Jahres - an die Reform der Herzen und der Mentalitäten geht. Viele regen sich auf, dass er gegen Klerikalismus wettert. Klerikalismus ist nicht die Frage, ob ich einen Kollar trage oder nicht, sondern es geht um eine Geisteshaltung im Kopf. Kleriker sind nicht besser oder anders als Nicht-Kleriker, sogenannte Laien. Sowohl Marx hat mit seinem Brief, wie auch der Papst, mit seiner Reaktion deutlich gemacht: "Das Evangelium sticht das Amt. Wir sind keine Sonderklasse, es gibt keinen Sonderweg für Priester, Bischöfe, Kardinäle, Päpste."
Florin: In Deutschland fühlt sich durch das Verbleiben von Kardinal Marx im Amt das Reformlager gestärkt, die Gruppe derer, die den Synodalen Weg unterstützen. Franziskus schreibt:
"Der Herr hat sich niemals auf eine Reformation eingelassen, sondern er hat sie mit seinem Leben bewirkt, seinem Fleisch am Kreuz."
Wieso sollte ein solcher Reformbegriff eine Stärkung des Synodalen Weges sein? Im Brief geht es doch gerade nicht um die Reform der Institutionen.
Batlogg: Ich lese die Reaktion durchaus als Bestätigung des Synodalen Weges. Natürlich, man kann über die Qualität der Übersetzung streiten. Der Brief ist ja gleichzeitig in mehreren Sprachen erschienen, auch das mit den Skeletten, die Sie erwähnt haben. Aber ganz abgesehen davon: Die Tatsache, dass der Papst die Bischofssynode von 2022 auf 2023 verschoben hat und ihr einen zweijährigen Synodalen Weg vorausgeschickt hat - erst diözesane, dann kontinentale, dann erst universaler Ebene - das zeigt, dass er da auch etwas macht. Synodale Vorgänge brauchen Zeit. Das ist für die katholische Kirche etwas Neues. Das heißt, Beteiligung und Identifikation entsteht durch Beteiligung. Also, ich lese das durchaus als Stärkung. Er sagt ja auch: "Ich möchte diesen Weg nicht ohne den Erzbischof von München und Freising gehen."
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Zwei Bischöfe untersuchen im Auftrag des Papstes, was in Köln los ist. Er sei froh darüber, bekundet Erzbischof Rainer Maria Woelki. Der Kirchenrechtler Bernard Sven Anuth sagt: "Alles ist möglich". Woelki könne gestärkt werden, er könne aber auch sein Amt verlieren. Nun komme es auf den Papst an.

"Rom schaut sehr sensibel auf Deutschland"

Florin: Die Themen des Synodalen Weges sind die Rolle der Frauen, Machtverteilung, Sexualmoral bzw. "Leben in gelingenden Beziehungen" und die priesterliche Lebensform. Von diesen Themen hat doch Rom in jüngster Zeit sehr viele abgeräumt. Gleichberechtigung von Frauen wird es nicht geben. Eine Veränderung am Zölibat - so stand es im nachsynodalen Schreiben zu Amazonas-Synode - wird es erst einmal nicht geben. Inwiefern soll das eine Unterstützung des Synodalen Weges sein, was der Papst da geschrieben hat?
Batlogg: Ich glaube, dass Rom sehr sensibel auf Deutschland schaut. Und wir werden hier dieses Projekt weiter betreiben, und dann wird es sehr eindeutige, sehr dezidierte Voten geben. Natürlich haben wir die Erfahrung mit der Würzburger Synode, die über 40 Jahre zurückliegt, und auch entsprechende Frustration. Aber diesmal geht es nicht anders, als dass dann auch ein Schwergewicht wie Kardinal Marx in Rom sagt: "Das sind unsere Themen, das sind unsere Sorgen, das sind unsere Anliegen, die müssen wir gemeinsam angehen." Das sind ja nicht nur deutsche Probleme. Vielleicht führt das dann auch in eine Synode oder sogar in ein Konzil.
Missbrauchsaufarbeitung im Erzbistum München: Gruppenbild ohne Dame
Agnes Wich ist aus dem Betroffenenbeirat des Erzbistums München ausgeschieden. Als einzige Frau sei sie nicht ernstgenommen worden, sagt sie. Das Erzbistum kommentiert die Vorwürfe nicht. Missbrauchs-Aufarbeitung ist nicht nur in Köln schwierig, auch in München verzögert sich das Gutachten.
Florin: Reinhard Marx hat in seinem Rücktrittsgesuch von einem "toten Punkt" gesprochen. Auch das ist eine Formulierung, über die sehr viel diskutiert wurde. Gestern hat er das etwas abgemildert, da hat dann gesagt, er habe das als Weckruf gemeint. Polemisch würde ich sagen: "Luther war dann doch etwas standhafter." Warum diese Wendung?
Batlogg: Schauen Sie. Ich glaube, dass man sehr deutlich sieht, wenn man die Predigten von Kardinal Marx verfolgt - die gestrige Erklärung, die Predigten zu Weihnachten, zu Ostern -, dass in diesem Mann etwas weitergegangen ist. Er hat das Bundesverdienstkreuz abgelehnt. Er hat eine Privatstiftung gegründet und er kennt diesen Delp-Text, der in der letzten Ausgabe der "Stimmen der Zeit", die ich verantwortet habe, wieder abgedruckt ist. Man muss einen Text aus dem Kontext lesen. Delp ging es damals in der NS-Zeit 1944/45 um die Rückkehr der Kirchen zur Diakonie und darum, dass den Kirchen das Image und das Ansehen auch damals wichtiger war als die Menschen und dass sich da etwas ändern muss. Darauf hat Marx Bezug genommen. Ich weiß, dass es viel Kritik gab von Pfarrern, die sagten: "Wir machen doch was an der Basis." Der "tote Punkt" - für mich war das eher ein Signal an die Kollegen in der Bischofskonferenz.
Florin: Aber es ging eben sehr schnell vom "toten Punkt" zur Auferstehung. Was bedeutet das jetzt für die Erzbistümer Köln und Hamburg? Bedeutet es überhaupt etwas?
Batlogg: Natürlich kann man das im Gesamt sehen. Aber dort läuft jetzt jedenfalls diese Apostolische Visitation. Das ist ja durchaus spannend. Die wollen ja in relativ kurzer Zeit das alles abschließen. Ich würde es mal von München her sehen, wenn Marx in seiner Stellungnahme sagt: "Wir müssen jetzt schauen, welche neuen Wege wir gehen können." Da steht der Bischof nicht allein, das gilt sicher auch für andere Diözesen. Weiter so wie bisher, das geht sicher nicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Andreas R. Batlogg und Paul M. Zulehner: Der Reformer. Von Papst Franziskus lernen – ein Appell.
Echter Verlag, 2. Auflage 2020. 216 Seiten, 14,90 Euro.