Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Katholische Kirche
"Wir brauchen keine Priester und keine Priesterinnen"

Jesuitenpater Roger Lenaers war lange als Priester tätig und später als Seelsorger. Heute meint er: Die Regeln der Kirche - wie der Zwang zur Ehelosigkeit oder der Ausschluss von Frauen vom Priesteramt - haben keine Zukunft. Auch das theologische Denken des Papstes sei vormodern, sagte Lenaers im Deutschlandfunk.

Roger Lenaers im Gespräch mit Christoph Heinemann | 24.12.2015
    Bischöfe und Priester sitzen mit Gesangbüchern und Bibeln in der Hand im Kölner Dom.
    Bischöfe und Priester sitzen mit Gesangbüchern und Bibeln in der Hand im Kölner Dom. (picture alliance / dpa / Oliver Berg)
    Christoph Heinemann: Viele Menschen werden heute Abend Messen und Gottesdienste besuchen. Menschen, die den Kirchen in den 51 anderen Wochen des Jahres die kalte Schulter zeigen. Jahr für Jahr treten Hunderttausende aus den beiden großen christliche Religionsgemeinschaften aus und wenden sich damit von einem kulturellen Erbe des europäischen Kontinents ab.
    Dass viele mit Kirche nichts mehr zu tun haben wollen, mag mit dem Zustand dieser Kirchen zu tun haben: mit sexuellen Straftaten, Zwangszölibat, Ausschluss der Frauen von allen wichtigen kirchlichen Ämtern, dem Dogmatismus als Ausdruck unendlicher Angst. Es hat aber vielleicht auch mit der offiziellen Deutung der Glaubensinhalte zu tun, die vollkommmen veraltet ist, oder genauer gesagt: im Mittelalter stehengeblieben. Das erklärt Roger Lenaers.
    In seinem Buch "Der Traum des Königs Nebukadnezar", das vor einigen Jahren erschienen ist, über das in Belgien ausführlich diskutiert wurde, beschreibt er einen modernen Glauben: weg von der Vorstellung eines Himmels, der sich irgendwo oben befindet. Weg von dieser anderen Welt, in der man sich hier unten immer spiegelt oder auf die man sich bezieht. Weg von einem solchen heteronomen Gottesbild und hin zu einem theonomen Denken, in dem es nur noch eine Welt mit Gott gibt: die unsrige. Das ist insofern überraschend, als Roger Lenaers nicht ein x-beliebiger Kirchenkritiker ist, der Belgier ist Jesuitenpater und steht im 9. Lebensjahrzehnt. Und er schreibt: man kann durchaus gläubiger Christ sein, ohne bei Glaubensformulierungen aus der Spätzeit des Römischen Reiches verharren zumüssen. Ich habe ihn vor dieser Sendung gefragt, wie sich sein theonomes Gottesbild von dem heteronomen der Amtskirche unterscheidet.
    Roger Lenaers: Ich möchte gleich sagen, dass ich diese Formeln heteronom und theonom jetzt vermeide, dass ich statt theonom sage moderngläubig gegen für heteronom vormodern. Ich möchte erst sagen, worin sie übereinstimmen, die zwei Gottesbilder, nämlich dass in jedem Mensch eine tief unterbewusste Ahnung einer unfassbaren und dadurch namenlosen Urwirklichkeit lebt. Die vormoderne Tradition kennzeichnet sich - und das ist auch die der Amtskirche dann - durch die Vorstellung eines nach Belieben in den Kosmos eingreifenden und daher außerkosmischen Gottes, denn man kann nur von außen eingreifen, und stellt sich dann das Verhältnis zwischen Gott und Kosmos vor als das Verhältnis zwischen einem, würde ich sagen, Produzenten und seinem Produkt, das völlig von ihm abhängig ist. Man kann dann auch reden von einer Aufteilung der einen Wirklichkeit in zwei Welten, die göttliche und die unserige. Das ist die vormoderne Tradition.
    "Es gibt nur eine Welt, keine zwei Welten mehr"
    Heinemann: Das ist die Vorstellung, dass es einen Himmel irgendwo gibt?
    Lenaers: Das ist die Vormoderne. Der moderne Glaube kennzeichnet sich dadurch, dass sie Dank der Aufklärung die Autonomie des Kosmos entdeckt hat. Das bedeutet, dass der Kosmos durch seine eigenen internen, unabänderlichen Gesetze geführt wird, und das macht einen außerkosmischen Gott, der sich ins kosmische Geschehen einmischen könnte, undenkbar.
    Heinemann: Aber wo ist denn Gott dann?
    Lenaers: Der Gedanke von wo und wann und wie spielt da keine Rolle mehr. Dies sind begriffliche Fragen über das, was nicht mehr begrifflich ist. Die beste Weise, die ich finde, um das auszudrücken, was es ist, ist, dass der Kosmos der Selbstausdruck der geistigen Urwirklichkeit ist.
    Heinemann: Das hieße, dass Gott in der Welt ist?
    Lenaers: Ja, er ist in der Welt. Wenn man sagt, dass er Schöpfer ist, sagt man das auch auf eine andere Weise. Aber er ist der Grund der Welt. Es gibt nur eine Welt, keine zwei Welten mehr. Es gibt nur diese Welt. Aber Gott ist die Tiefe dieser Welt, nicht eine Wirklichkeit daneben. So stelle ich mir das vor.
    Heinemann: Wenn es jetzt, Pater Lenaers, keinen Himmel gibt, wie Sie sagen, was ist dann Auferstehung?
    Lenaers: Ah, das ist eine äußerst schwierige Frage. Auferstehung selber ist ein kulturbestimmter jüdischer Begriff, der aber etwas Tieferes aussagt, als es scheint. Erstens: Diesen Begriff Auferstehung wörtlich genommen können wir als moderne Menschen nicht mehr annehmen. Warum nicht? Spätestens nach einer Stunde ist das Gehirn eines Toten eine weltlose Masse Gewebe geworden und die kann nie mehr repariert werden, oder man glaubt wieder an einen aus dem Himmel eingreifenden Gott. Und das ist für den modernen Menschen - ich rede jetzt immer weiter von der modernen Gottesvorstellung aus. Wenn es keinen eingreifenden Gott gibt, ist Auferstehung undenkbar. Aber Auferstehung selber, der jüdische Begriff, deutet, sage ich, auf etwas anderes, nämlich es ist der Ausdruck einer Erfahrung, dass Gott den Menschen nicht loslässt, wer ihm treu ist, dass er ihm, dem Menschen treu bleibt.
    Und weil er ein Gott des Lebens ist, irgendwie Leben gibt über den Tod hin, kann der Tod dann der Treue Gottes nichts anhaben. Wir sind der Selbstausdruck Gottes und dieser Gott - das verdanken wir jetzt der Begegnung mit Jesus von Nazareth, der selber das Alte Testament verkörpert, die Erfahrungen, die Gotteserfahrungen des Alten Testamentes in sich aufgenommen hat und vertieft und bereichert -, dank Jesus wissen wir, dass dieser Gott nicht nur Macht ist oder so, sondern Liebe und Treue. Und unser Tod ist dann nur die letzte Erscheinungsform unseres Wesens.
    "Sein Tod ist die Vollendung seiner Existenz"
    Heinemann: Wie stellen Sie sich denn dann ein Leben nach dem Tod vor? Viele Gläubige gehen ja von einem regelrechten Wiedersehen aus.
    Lenaers: Ehrlich? Ich stelle mir überhaupt nichts vor. Man kann sich nichts vorstellen, denn man kommt da in eine Domäne, wo das Begriffliche keinen Griff mehr hat. Ich kann Gott völlig vertrauen, mich ihm hingeben. Jesus hat sich ganz hingegeben. Sein Tod ist die Vollendung seiner Existenz und ist dadurch zugleich seine sogenannte Auferstehung. Auferstehung dann im modernen Sinn verstanden nämlich diese Vollendung, dieses eins werden mit Gott, was die Juden so vermutet hatten, aber in ihren Vorstellungen dann auf eine Weise ausgedrückt haben, die wir nicht mehr nachvollziehen können.
    Heinemann: Welche Rolle spielt in Ihrer Theologie, in dem, was Sie modernen Glauben nennen, die Kirche?
    Lenaers: Kirche kommt von Kyriake. Kyriake ekklesia bedeutet die Volksgemeinschaft der ekklesia vom Kyrios, vom Herrn. Kirche ist für mich die Gemeinschaft, die sich um Jesus versammelt hat und von ihm inspiriert wird, weil sie sich auf ihn abstimmt und sich nach ihm richtet. Und wie jede Gemeinschaft wird diese Gemeinschaft Strukturen entwickeln, notwendige Strukturen, auch Autoritätsstrukturen, Führungsstrukturen, aber von der Basis aus, weil Jesus in dieser Basis lebend und ausstrahlend wirksam bleibt, und die kommen nicht von oben herab, nicht vom Himmel.
    Die jetzt - ich werde brutal sein - von Rom, von oben eingesetzten Machthaber, die Bischöfe sind in dieser Anschauung Usurpatoren. In der Moderne, die im Wesen demokratisch ist, ist ihre kirchliche Autokratie unhaltbar geworden. Sie können sich nicht berufen auf einen von der Moderne annehmlichen Grund, um zu regieren, wie sie es tun. Ich bin sehr kritisch gegenüber dieser Bischöferei, wie ich es ja nannte.
    "Priester, das sind die Schlachtopfer-Spezialisten"
    Heinemann: Und das Priestertum?
    Lenaers: Priester, das sind die Schlachtopfer-Spezialisten in den Religionen und das ist ein rein vormoderner Begriff in meinen Augen. Warum? Opfer setzen einen Gott voraus, der da wartet, dass man ihm Geschenke gibt, bereit ist, dann etwas für Dich zu tun, und am liebsten blutige Geschenke, und dafür brauchte man Priester als diese Zwischenperson zwischen den Menschen und diesem nicht gefährlichen, aber doch zu fürchtenden Gott.
    Priester brauchen wir nicht. 200 Jahre lang kannte die Kirche keine Priester. Aber was sie immer gebraucht hat und gekannt hat, sind Vorgänger im Glauben und Verkündiger des Glaubens. Übrigens Paulus in seinem ersten Korintherbrief: Er redet da nicht über Opfer und so, aber er sagt, der Herr hat mich nie gesandt, um zu taufen. Taufen ist eher ein Ritual. Priester braucht man nicht. Wir brauchen Verkündiger, Vorgänger im Glauben. Sie möchten wahrscheinlich wissen, warum ich dann als Jesuit ein Priester bin. Die Jesuiten sind gegründet worden in der vormodernen Zeit mit vormodernen Auffassungen auch über das Priestersein. Das war gut in jener Zeit. Ich bin langsam daraus weggewachsen, möchte ich sagen. Ich habe mehr Grund zu feiern, dass ich 20 Jahre Seelsorger gewesen sein konnte in meinen zwei Bergdörfern. Ich habe mich 20 Jahre richtig für die Verkündigung eingesetzt. Das ist viel wichtiger, als dass ich 60 Jahre Priester gewesen bin, was das auch sein kann.
    Heinemann: Hätten die zahlreichen Reglementierungen der Kirche noch eine Zukunft, der Zwang zur Ehelosigkeit, der Ausschluss von Frauen vom Priesteramt?
    Lenaers: Nein. Nein, absolut nicht. Die Regelungen der Kirche, die Sie da aufzählen, haben keine Zukunft. Es sind Produkte einer vormodernen Zeit, in der Sexualität ein Gräuel war und die Frau da war, um dem Mann zu dienen. Wir brauchen keine Priester und keine Priesterinnen. Wir brauchen Vorgänger und Vorgängerinnen, Verkündiger und Verkündigerinnen in der Glaubensgemeinschaft.
    Heinemann: Also Prediger?
    Lenaers: Prediger, ja, aber die dann bei den Leuten sind.
    "Die Ökumene ist schon längst erforderlich"
    Heinemann: Aber wie verhindert man, dass jetzt jeder seinen Privatglauben sich zurechtschnitzt?
    Lenaers: Jeder tut es. Man kann das nicht verhindern. Aber man kann diese Grundstrukturen des Evangeliums in der Verkündigung immer wieder betonen. Das Evangelium sagt, es ist Liebe zu Gott und Liebe zu den Menschen. Wenn die Liebe authentisch da ist, wird man aufeinander hören. Wenn die Grundhaltung da ist, dass alles sich nach Jesus richtet, wie er auftritt im Evangelium, obwohl da Texte sind, die man nicht mehr nachvollziehen kann, aber das Ganze als Haltung, als Grundhaltung sollten wir bewahren und dann bleibt man zur Kirche gehörend. Nicht die römisch-katholische Kirche. Die Ökumene ist schon längst erforderlich.
    Heinemann: Wie nah, glauben Sie, steht Papst Franziskus Ihrem Denken?
    Lenaers: Ich möchte die Frage umkehren, nämlich wie weit stehe ich vom Papst Franziskus weg? Ich sage, ich stehe für 100 Prozent auf seiner Seite, was seine Taten und seine Vorgangsweise in der Kirche betrifft. Er macht die Kirche wie sie sein soll in der Welt von heute. Aber sein theologisches Denken, das ist vormodern, dass er jetzt erlaubt, dass Priester Abtreibungen vergeben. Er hat sich offensichtlich nie gefragt, was bedeutet das, vergeben. Das bedeutet eigentlich bei ihm Straferlass, aber Straferlass setzt einen strafenden Gott voraus oder einen Katalog von Vergehen, die man ausbüßen soll. Ein vergebender, ein strafender Gott ist ein vormoderner Gott.
    Heinemann: Pater Lenaers, vor nicht allzu langer Zeit hätte man Sie als Ketzer verbrannt.
    Lenaers: Das sagt man oft, ja.
    Heinemann: Wie reagiert die katholische Amtskirche auf Ihr theonomes Denken oder Ihren modernen Glauben?
    Lenaers: Sie lässt mich in Ruhe. Ich weiß nicht warum, obwohl meine Bücher sind oft übersetzt, nicht nur vom Niederländischen auf Deutsch, sondern auch auf Englisch, auf Französisch, auf Italienisch, auf Spanisch, Portugiesisch. Sie sollen doch wissen, was ich denke. Aber ich vermute fast, dass man meint, dass man sich um die Ketzereien eines alten Dorfpfarrers da in Tirol doch nicht so sehr kümmern soll. Wenn ich Theologieprofessor wäre, wäre es anders, aber dieser arme Pfarrer da im Bergland von Tirol hat nicht einmal einen Doktorhut. Also lassen sie mich in Ruhe. Oder eine andere Möglichkeit ist: Sie finden in meinen so logischen Gedanken nirgends ein Loch, in das sie ihre Brechstange einführen könnten. Auch mein Bischof: Ich habe wohl lange Diskussionen gehabt, aber am Ende hat er mich auch gehen lassen. Er hatte gedroht, mich nicht länger da Pfarrer sein zu lassen, aber ich sollte dann doch bleiben. Ich verstehe es auch nicht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.