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Katz und Maus. Ein Radioessay zum 40 Erscheinungsjahr der Novelle

Der Schriftsteller Günter Grass wird durch seinem 1959 erschienenen Roman Die Blechtrommel schlagartig bekannt. Das Buch polarisiert die Kritiker sofort: Seine Gegner werfen ihm Obszönität, Freude an der Darstellung von Ekelhaftem, ja Blasphemie vor, die Anhänger loben seine innovative Sprachgewalt und seine Art der Vergangenheitsbewältigung. Seitdem wird Günter Grass scharf beobachtet, und als nächstes gerät die Novelle Katz und Maus ins Kreuzfeuer der Kritik. Sie erscheint im November 1961, versehen mit einer Umschlagillustration von Grass selbst, einer Katze, die ein Ritterkreuz trägt.

Annette Seemann | 23.11.2001
    Wieder spielt die Handlung in Danzig, der verlorenen Heimat des Autors, wieder ist die Zeit die des Nationalsozialismus, und die Verweise sowohl auf den Oskar der Blechtrommel wie auf Personen aus den Hundejahren, die zwei Jahre nach Katz und Maus erscheinen, sind zahlreich und deutlich. Grass berichtet, dass die Novelle Katz und Maus ein Teil der Hundejahre war, der sich unter seiner Hand unversehens zur tragischen Jugendgeschichte des Gymnasiasten Joachim Mahlke verselbständigte. Schon äußerlich sticht Mahlke von den Gleichaltrigen ab, vor allem durch zweierlei: den hervortretenden hüpfenden Adamsapfel und das den Neid der Mitschüler erregende enorme Geschlechtsteil. Beide Appendices zeigt Mahlke ungern, das Onanieren, das die Mitschüler habituell betreiben, ist seine Sache nicht, und den Adamsapfel verbirgt er lieber unter Schals und ähnlichem.

    Es sind natürlich die prägnanten Beschreibungen jugendlicher Sexualität, die die Leser schockieren und Kritiken mit solchen Titeln hervorbringen: "Nur mit der Zange anzufassen" - "Verdient unsere Zeit diesen Bestseller?" - oder: "Die Katze mit dem Ritterkreuz. Eine respektlose Novelle" Im Zuge solcher negativen und die Novelle verkürzenden Kritiken kommt es am 26.6. 1962 sogar zu einer Anzeige durch den Schriftsteller Kurt Ziesel. Grund: Verbreitung unzüchtiger Schriften. Damit nicht genug: Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften in Bad Godesberg erhält einen Antrag auf Indizierung der Novelle durch den hessischen Ministerialen Dr. Englert. Doch jetzt treten die großen Befürworter der Grass`schen Literatur auf den Plan. Der Luchterhand Verlag, der Literaturprofessor Fritz Martini und Hans Magnus Enzensberger brechen wortreich Lanzen für den kühnen Kollegen, sodass der hessische Staatsminister Hemsath am 9. Januar 1963 die Rücknahme des Antrags, der ihm darüber hinaus nie vorgelegt worden sei, ankündigt. Viel Lärm um Katz und Maus.

    Vierzig Jahre später ist diese Aufregung schon Geschichte. Heutige Jugendliche lernen in ihrer Gymnasialzeit zumindest eines der drei Bücher kennen, die Grass 1974 als Danziger Trilogie gemeinsam vorlegte. Die Werke von Günter Grass sind Teil des Kanons der deutschen Literatur, Grass ist weltberühmt, in die meisten Sprachen übersetzt und durch die Verleihung des Nobelpreises für Literatur 1999 sakrosankt geworden.

    Dass Grass in den 50er Jahren in Paris lebte und insbesondere der französischen Literatur - stellvertretend sei Rabelais erwähnt - viel zu verdanken hat, ist bekannt. Weniger bekannt ist jedoch, dass bei der Novelle Katz und Maus ein wichtiges Werk vom Beginn des 20. Jahrhunderts thematisch und in formaler Hinsicht Pate stand. Es geht um Alain-Fourniers 1913 erschienenen Jugend-Roman Le Grand Meaulnes. Grass selbst gibt den Hinweis auf diesen Einfluss in einem Gespräch mit der französischen Schriftstellerin und als Mitterand-Übersetzerin bekannt gewordenen Brigitte Sauzay, das sie unter dem 19. Dezember 1997 in ihrem Buch Retour à Berlin. Journal d`Allemagne 1997 einträgt.

    Wie weit reichen die Parallelen? In beiden Büchern ist es ein eher farbloser Icherzähler, hier Pilenz, dort François Seurel, der Kunde von der "unerhörten Begebenheit" gibt. Er ist der beste Freund und Vertraute des schweigsamen, keineswegs präpotenten Protagonisten, Augustin Meaulnes bzw. Joachim Mahlke. Speziell die Bezeichnung "Der große Mahlke", die Joachim mit seinen wachsenden Erfolgen als Taucher im Minensuchboot von den Mitschülern verliehen wird, ist direkt vom "Grand Meaulnes" übernommen. Der "große" Protagonist ist in beiden Fällen ein Außenseiter, der fasziniert, aber auch Aggressionen hervorruft. Er zeigt sich unabhängig von der Anerkennung durch die Anderen und verlangt nach einem Abenteuer, er ist wie der mythische Held ein Glückssucher, ein Jäger, wie es ausdrücklich von Meaulnes gesagt wird. Dies findet seine Entsprechung bereits im Titel der Grassschen Novelle: Katz und Maus - auch hier also geht es um die Jagd, Jäger und Beute. Meaulnes` unerhörte Jagdbeute fällt ihm durch eine zufällige Flucht zu: Er erreicht ein Schloss, in dem ein seltsames Kostümfest stattfindet und er das schönste Mädchen der Welt erblickt, das offenbar nur auf ihn gewartet hat. Für Joachim Mahlke hingegen - und hier beginnt Grass, seine Geschichte im Kontrast zur französischen Vorlage zu entwickeln - gibt es im Grunde kein Glück auf dieser Welt. Keine reale Frau erweckt in ihm Gefühle, es ist allein die Jungfrau Maria, die er liebt, für die und durch die er kämpft, mit deren Hilfe er gar Ritterkreuzträger wird, um als Held in die Schule zurückkehren zu können, die ihn einst relegiert hat.

    Die durch zwei Weltkriege getrennten Werke unterscheiden sich also trotz manifester verwandter Züge in entscheidenden Punkten, die allgemeine Textaussage wie die Atmosphäre betreffend: Alain-Fourniers Le Grand Meaulnes ist mit den stark betonten Idealen der Freundschaft, der Liebe, des Abenteuers und seinem Preisen der Jugend ein später Widerhall der Romantik. Bei Grass hingegen ist zwar die Jugend noch das Thema, doch die genannten Ideale sind für seine Helden obsolet geworden, allenfalls Träume. Die Welt ist realistisch, grausam entzaubert, es herrscht Krieg. Nur der überlebt, der für sich selbst sorgt. Am Beispiel der Freundschaft, die im Meaulnes unverbrüchlich, heilig ist, kann dies vorgeführt werden: Freundschaft in Katz und Maus ist ambivalent geworden, Pilenz mag sich nicht dafür, dass er Mahlke bewundert und ihm nachläuft, beständig will er sich von ihm lösen. Und war er es nicht selbst, der Mahlke die Katze an den Hals setzte, den Freund erstmalig zur Beute werden ließ? So weigert sich Pilenz auch, Mahlke, der desertiert ist, zu Hause zu verstecken, und selbst den Büchsenöffner, den Mahlke braucht, um sich seinen Proviant zu öffnen, enthält er ihm vor.

    Entsprechendes gilt auch im Bereich der Liebe, im Meaulnes ebenfalls ein heiliger Bezirk. Grass dagegen zeichnet anstelle des ätherischen Wesens einer Yvonne de Galais in der spillerigen Figur der Tulla Pokriefke eine obszöne Karikatur - alle seien "scharf" auf sie gewesen, heißt es. Somit regiert hier anstelle der Liebe der Sex, und folgerichtig kann Mahlke auch keine reale Frau lieben. Er tobt sich zwar sexuell mit der Frau seines Vorgesetzten aus, Liebe nennt er das aber nicht.

    Vergleicht man schließlich in beiden Büchern die "magischen Orte", die der Held nur mutig und glückhaft erreichen kann, so trifft man anstelle der geheimnisvollen festlich geschmückten Domäne im Meaulnes auf ein gesunkenes Minensuchboot bei Grass, auf ein Symbol für die Zerstörung durch den Krieg. Und auch der Begriff "Abenteuer", im Meaulnes noch durchaus verwandt mit dem Abenteuer-Begriff des Märchens, mit einem Ausziehen auf gut Glück, ist bei Grass grausam verzerrt: Seine abenteuerlustigen Jugendlichen melden sich, verblendet durch die verlogene Verherrlichung des Krieges freiwillig in den Krieg, Signum ihres Heldentums ist ein Stück Blech um den Hals, das Ritterkreuz.

    Die Vertreibung aus dem Reich der Jugend schließlich, die im Meaulnes der Erkenntnisprozess ist, dass das Glück unverdient, momentan und weder zu halten noch zu wiederholen ist, erfolgt in Katz und Maus real: Da die Kinder umfassend mit dem Krieg vertraut gemacht wurden, können sie ihre Vertreibung aus der Kindheit, in den Tod, gar nicht mehr als solche realisieren, sondern deuten sie als ein Abenteuer um. Perfider kann Erziehung nicht funktionieren, und konsequent muss der große Mahlke, der ursprünglich Clown werden wollte, an einem solchen Abenteuer scheitern - sein Glück entpuppt sich als Illusion: Da der unversöhnliche Schuldirektor ihm verbietet, sich an der Stelle, die für Mahlke symbolhaft für seine Jugend steht, in der Aula seiner früheren Schule, für sein kriegerisches Leben zu rechtfertigen, wird dem jungen Mann sein schrecklicher Irrtum klar. Mit dieser Absage setzt schockhaft eine Erkenntnis ein: Es war keine Heldentat, fünfzig Panzer abzuschießen, die Jungfrau Maria half ihm beim Morden. Mahlke bleibt jetzt nur noch die Desertion übrig, ein lebensgefährliches Schicksal. Erneut und endgültig wird aus der Katze, dem Jäger, dem großen Mahlke, die Maus, der Gejagte.

    In beiden Büchern ist das Ende offen, zurück bleibt ein trauriger Ich-Erzähler bei Alain-Fournier, ein schuldbewusster bei Grass: Weder Meaulnes noch Mahlke war zu helfen.