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Kaviar vom lebenden Stör

Der Stör ist ein erstaunliches Tier: ein Urzeitfisch, der seit über 200 Millionen Jahren Meere und Flüsse bevölkert. Bekannt ist der Stör aber vor allem für seine Eier: den Kaviar. Die Gier nach dem "schwarzen Gold" hat dazu geführt, dass der Stör heute fast ausgerottet ist. Immerhin gilt seit 2008 ein weltweites Fangverbot für wild lebende Störe. Wer die Fischeier heute kauft, bekommt Kaviar aus Aquakulturen. Doch auch dort müssen die Tiere bislang getötet werden, um an die wertvollen Fischeier zu gelangen. Das könnte sich ändern durch ein neues Verfahren, das eine Wissenschaftlerin vom Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, kurz AWI, entwickelt hat. Denn die neue Methode ermöglicht es erstmalig, den Kaviar vom lebenden Störweibchen zu ernten.

Von Christoph Kersting | 21.03.2012
    Ein Versuchslabor des Alfred-Wegener-Instituts unweit von Leipzig: In großen Bassins schwimmen ausgewachsene, bis zu zwei Meter lange Störweibchen. Vorsichtig heben Angela Köhler und ihr Kollege eines der Tiere mit einem großen Tuch aus dem Wasser. Die Meeresbiologin beginnt nun sanft den Bauch des Störs in eine Richtung zu massieren und drückt so eine schwarze Masse aus dem Fisch heraus: der begehrte Kaviarrogen. Nach zehn Minuten darf der Fisch wieder zurück ins Wasser.

    Den Kaviar allerdings müssten die Forscher eigentlich entsorgen, denn es handelt sich um reife Eier. Die können zwar dem lebenden Stör entnommen werden, weil sie anders als unreife Eier weit unten in der Bauchhöhle der Tiere lagern. Der reife Kaviar übersteht aber die Prozedur der Weiterverarbeitung nicht. Kommen die reifen Eier etwa mit Salz in Kontakt, verklumpen sie und werden damit ungenießbar.

    Darum sei die Kaviarernte vom lebenden Stör bislang nicht möglich gewesen, sagt Angela Köhler:

    "Hochwertiger Kaviar konnte bislang nur durch Tötung der Störe gewonnen werden. Das liegt daran, dass die Eier in einem unreifen Stadium geerntet werden müssen, wenn sie noch von anderen Zellen, Blutgefäßen, Follikelzellen umgeben sind, die das Ei stabilisieren."

    Dem Kaviar, den Angela Köhler gerade entnommen hat, fehlt diese Schutzhülle. Deshalb behandelt sie den Rogen umgehend mit einer speziellen Flüssigkeit. Die Lösung enthält einen Chemikalien-Mix, der eine künstliche Erhärtung der Eihüllen bewirkt - und so aus reifen Eiern Kaviar macht, ohne dass das Störweibchen sterben muss.

    Bei ihrem neuen Verfahren greifen die AWI-Forscher auf einen zellbiologischen Trick zurück: Denn nach der Befruchtung bildet sich erneut eine feste Schutzhülle um das reife Ei, um eine für den Embryo tödliche Mehrfachbefruchtung zu verhindern - Angela Köhler:

    "Das heißt, wir haben uns angesehen, welche Signalkaskaden werden in Gang gesetzt, wenn ein Spermium auf eine Eizelle trifft, und haben uns die Keyplayer herausgesucht, die bei der Verfestigung der Eihülle eine Rolle spielen, um das Eindringen eines zweiten Spermas zu verhindern."

    Drei Jahre dauerte es, dann hatte Angela Köhler die für diesen Prozess entscheidenden Botenstoffe identifiziert: Kalzium und Wasserstoffperoxid zum Beispiel. Köhler:

    "Es ist so, dass wir den Stören einen Winter vorspielen, indem wir in einer geschlossenen Anlage die Temperatur absenken, sodass das Tier in eine Winterpause kommt, dann erhöhen wir die Temperatur, was für den Stör das Signal ist: Jetzt kommt der Frühling. Dadurch induzieren wir eine Ovulation: Das heißt die Eier werden aus den Follikelzellen herausgepresst wie durch eine Muskelkontraktion, fallen lose in die Bauchhöhle und können dann durch Massage-Bewegungen aus dem Fisch entnommen werden, während der dazu natürlich aus dem Wasser entnommen wird."

    Den Eiern werde quasi eine Befruchtung vorgegaukelt, sagt Meeresbiologin Angela Köhler - eine Täuschung, die den Tieren jedoch das Leben rettet, weil so auch die Entnahme reifer Eier möglich ist.

    Auch aus Sicht des Tierschutzes sei das ein deutlicher Fortschritt gegenüber der bisherigen Erntepraxis, erklärt Catherine Zucco vom World Wildlife Fund WWF:

    "Also erstmal ist das neue Verfahren natürlich eine Verbesserung, denn man muss jetzt nicht mehr ein Störweibchen über sieben Jahre aufziehen, und es wird dann für die einmalige Kaviarentnahme getötet, sondern es wird so sein, dass man öfter Kaviar entnehmen kann, das heißt, das Störweibchen kann länger in der Zucht verbleiben. Das ist natürlich gut, weil jetzt diese Verschwendung gestoppt wird."

    Laut Biologin Angela Köhler sind durch das neue Verfahren bis zu zehn Kaviarentnahmen pro Tier möglich. Die Störe würden so bis zu 20 Jahre alt, also dreimal älter als bisher.
    Für dieses Jahr plant eine ausgegründete Firma des Alfred-Wegener-Instituts unweit von Bremerhaven die Kaviarproduktion im großen Maßstab mit 10.000 Tieren.