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Kazuo Ishiguro
Reise ins Britannien des frühen Mittelalters

In seinem neuen Roman "Der begrabene Riese" thematisiert Kazuo Ishiguro eine kollektiv verdrängte Schuld. Allerdings geht es nicht um ein konkretes historisches Verbrechen, weswegen der Autor das Geschehen in der grauen Vorzeit ansiedelt.

Von Hubert Spiegel | 20.09.2015
    Kazuo Ishiguro, britischer Schriftsteller japanischer Herkunft.
    Kazuo Ishiguro, britischer Schriftsteller japanischer Herkunft. (picture alliance / dpa / Daniel Deme)
    Unter den großen Schriftstellern der englischsprachigen Welt ist Kazuo Ishiguro der Schöpfer der unverstandenen Meisterwerke. Seit mehr als 20 Jahren und in mittlerweile sieben Romanen gibt dieser Autor, der 1954 in Nagasaki geboren wurde und seit seiner frühen Kindheit in Großbritannien lebt, seinen Lesern kunstvoll konstruierte Rätsel auf, die unter einer makellos polierten Oberfläche allerdings erst einmal entdeckt werden müssen. Mit "Was vom Tage übrig blieb" wurde er durch die Verfilmung mit Anthony Hopkins und Emma Thompson weltberühmt, mit "Als wir Waisen waren" führte er die für sein gesamtes Werk wichtigen Themen Herkunft, Kindheitstrauma und Erinnerung weiter aus, mit "Die Ungetrösteten" erwarb er sich 1995 den Ruf eines undurchschaubaren Virtuosen. In "Der begrabene Riese" schickt Ishiguro nun ein rührendes altes Ehepaar, einen dickköpfigen zwölfjährigen Jungen namens Edwin, einen gewieften sächsischen Schwertkämpfer und den uralten Ritter Gawain, einen Neffen von König Artus, auf die Jagd nach einem gefährlichen Drachen, dessen giftiger Atem das Land verpestet. Was, bitte schön, ist denn jetzt los?
    Ishiguro ist ein Autor, der sich nicht gern in die Karten blicken lässt. Auch deshalb hat die Nachricht, dass die Universität von Texas in Austin das Archiv des britischen Autors für mehr als eine Million Dollar angekauft hat, unlängst für Aufsehen gesorgt. In Austin, wo bereits seit einiger Zeit der Vorlass des südafrikanischen Nobelpreisträgers J. M. Coetzee aufbewahrt wird, vom Autor selbst akribisch geordnet, kam vor Kurzem der Inhalt der großen Pappschachteln an, die Ishiguro seit Jahrzehnten unter seinem Schreibtisch stehen hat. Dort wandert beim Schreiben alles hinein, was er nicht mehr braucht oder verworfen hat. Also zum Beispiel die erste Fassung des Anfangskapitels von "Was vom Tage übrig blieb", das komplette, von Ishiguro selbst verloren geglaubte Manuskript eines frühen Romans in Form eines Pulp-Westerns, eine Sammlung von Songtexten aus jenen Jahren, als der als hochmusikalisch geltende Autor seine Zukunft noch in der Musikbranche wähnte, sowie die Materialien zu seinen Büchern.
    Manche Schriftsteller schreiben ihr Leben lang an einem einzigen Roman, den sie in immer neuen Anläufen variieren. Das macht sie auf Anhieb wiedererkennbar. Man denke nur an Thomas Bernhard oder Wilhelm Genazino. Auch Ishiguros Bücher kreisen um einen Kern stets wiederkehrender Themen. Dennoch wiederholt er sich nicht. Im Gegenteil, es ist, als würfe er jedem seiner Romane ein anderes Stilgewand über.
    Nicht einmal auf das Genre, das dieser Autor für seine Bücher wählt, kann sich die Kritik immer ohne Weiteres einigen: Als vor zehn Jahren "Alles was wir geben mussten" erschien, entzündete sich eine Debatte an der Frage, ob es sich bei dem Roman über geklonte Kinder, die als menschliche Ersatzteillager gezeugt und aufgezogen wurden, um Science-Fiction-Literatur handele oder nicht. Ishiguro erzeugte erstaunlich viel Verwirrung mit einem erstaunlich simplen Kunstgriff: Indem er seine Geschichte in einem in einer Durchschnittslandschaft gelegenen Internat ansiedelte und jeden Hinweis auf Ort und Zeitpunkt des Geschehens vermied, entstand eine Atmosphäre einerseits des Unbestimmten, andererseits des universell Gültigen: Was diesen Kindern, die nach und nach ausgeweidet wurden, widerfuhr, konnte heute, morgen oder übermorgen geschehen, in England oder an jedem anderen Ort. Das spielte keine Rolle. Entscheidend war, wie Ishiguro zeigte, wie den Kindern allmählich bewusst wurde, welches Leben und welchen Tod ihnen die Gesellschaft zugedacht hatte.
    Kollektiv verdrängte Schuld
    Um den schmerzhaften Prozess einer Bewusstwerdung geht es auch in dem neuen Roman "Der begrabene Riese". Der Titel ist allegorisch zu verstehen, denn Ishiguros Thema ist das einer kollektiv verdrängten großen Schuld. Dabei geht es nicht um Holocaust oder Apartheid, nicht um den Völkermord in Armenien oder Ruanda. Um jeden Verdacht, er habe ein konkretes historisches Verbrechen im Sinn, zu zerstreuen, siedelt Ishiguro das Geschehen in grauer Vorzeit an. Und dieses Mal wird die Frage nach Zeit und Ort der Romanhandlung schon auf den ersten Seiten klar beantwortet.
    "Nach den kurvenreichen Sträßchen und beschaulichen Wiesen, für die England später berühmt wurde, hättet ihr lange gesucht. Gefunden hättet ihr stattdessen endlose Weiten, ödes, unbestelltes Land; hier und dort einen Saumpfad über felsiges Bergland, durch karges Moor. Die von den Römern zurückgelassenen Straßen waren bis dahin meist schon geborsten oder überwuchert, oft von der Wildnis zurückerobert. Über Flüssen und Sümpfen hing ein eisiger Nebel, was den Menschenfressern, die es damals noch gab, nur allzu gelegen kam. Die dort lebenden Menschen - man fragt sich, welche Verzweiflung sie dazu getrieben hatte, sich in derart trübsinnigen Gegenden niederzulassen - mochten sich wohl gefürchtet haben vor diesen Geschöpfen, die man, lang bevor ihre Missgestalt aus dem Nebel auftauchte, an ihrem rasselnden Atem erkennen konnte. Aber nicht diese Wesen waren es, die Anlass zur Verwunderung gaben. Für die Menschen damals waren sie alltägliche Gefahren; es gab doch so viel anderes, worum man sich Gedanken machen musste."
    "Der begrabene Riese", Ishiguros erster Roman seit nunmehr zehn Jahren, spielt im Britannien des frühen Mittelalters, etwa im 6. Jahrhundert. Die Römer sind schon lange fort, König Artus ist tot und die Ritter der Tafelrunde sind mit ihm zur Legende geworden. Die Britannier leben weitgehend friedlich mit den Sachsen zusammen, die jedoch noch nicht christianisiert sind und in ihren eigenen Dörfern unter sich bleiben. Doch der Frieden ist trügerisch, denn erkauft wurde er mit einem ungeheuren Verbrechen, dem "begrabenen Riesen" nämlich, von dem der Buchtitel spricht. Ein namenloser Ich-Erzähler führt den Leser an diese fremde, längst untergegangene Welt heran, mitten hinein in die kleinen Dörfer der Britannier:
    "In einer dieser Siedlungen, die im Schatten zerklüfteter Felsen, am Rand eines ausgedehnten Sumpfgebietes lag, lebte ein älteres Paar, Axl und Beatrice. Es mochten nicht genau oder ihre vollständigen Namen sein, doch der Einfachheit halber wollen wir sie so nennen."
    Moment. Der Einfachheit halber? Der Einfachheit halber geschieht bei Ishiguro nichts. Doch hören wir weiter:
    "Ich würde sagen, dass dieses Paar ein zurückgezogenes Leben lebte, aber ,zurückgezogen' in einem heutigen Sinne war damals kaum jemand. Wärme und Schutz suchte die Landbevölkerung in Behausungen, die teils in den Hügel gegraben und durch unterirdische Gänge und gedeckte Gräben miteinander verbunden waren. Unser älteres Paar lebte mit rund 60 weiteren Bewohnern in einem solchen Bau - ,Gebäude' wäre ein zu großes Wort dafür. Wärt ihr, aus diesem Bau kommend, zwanzig Minuten weiter rund um den Hügel gewandert, so wärt ihr zur nächsten Siedlung gelangt und hättet sie als der ersten völlig gleich empfunden. Ihre Bewohner jedoch hätten zahlreiche Unterschiede wahrgenommen, Kleinigkeiten, die ihnen Anlass zu Stolz oder Scham gegeben hätten."
    Was geschieht auf diesen ersten Seiten des Romans, der bei seinem Erscheinen in England und den Vereinigen Staaten sofort eine Debatte darüber ausgelöst hat, ob es sich hier um Fantasy-Literatur handelt oder nicht? Warum fallen - in diesem Zusammenhang keineswegs zwangsläufig - die Begriffe Stolz und Scham? Warum der nüchtern-sachliche Auftakt, wenn doch wenig später magische Kräfte walten, Ungeheuer kleine Kinder entführen und böse Kobolde den Reisenden auflauern?
    Zunächst begegnen wir einem Ich-Erzähler, der wenig später fast völlig verschwindet, im weiteren Verlauf des Romans nur noch sehr sporadisch auftaucht und erst ganz am Schluss wieder präsent ist, weil er dann nämlich selbst in die Handlung eingreift. Zunächst aber ist sein Ton sachlich und seine Perspektive die unsrige, die heutige also. Er betont die zeitliche Distanz und die Fremdheit dieser Welt, ohne sie zu exotisieren. Im Gegenteil: kein mythisches Raunen, kein dräuender Ton, kein wohliges Eintauchen in graue Vorzeit. Selbst der Hinweis auf die zunächst beiläufig erwähnten Menschenfresser fällt auffällig nüchtern aus:
    "Die Menschenfresser waren jedenfalls nicht so schlimm, so lange man sie nicht provozierte. Man musste damit leben, dass hin und wieder ein solches Wesen, vielleicht nach einem undurchsichtigen Streit in der Sippe, in wildem Zorn ins Dorf gestampft kam, trotz allem Gebrüll und Waffengerassel dort herumtobte und schrie und jeden verletzte, der nicht schnell genug das Weite suchte. Oder das gelegentlich einer ein Kind raubte und mit ihm im Nebel verschwand. Solchen Untaten begegnete man damals möglichst mit philosophischem Gleichmut."
    Hier wird das Ungeheuerliche, die plötzlich hereinbrechende Gewalt der menschenfressenden Unholde, als Teil der damaligen Normalität dargestellt, als eine Gefahrenquelle unter vielen, nicht rätselhafter als der plötzliche Ausschlag auf den Wangen der Kinder oder die unbekannte Krankheit, an der über Nacht die Schweine verenden. Dies ist nicht Tolkiens Auenland, und auch Verweise auf "Game of Thrones" sind völlig fehl am Platz. Diese Welt, will Ishiguro damit sagen, war gar nicht so viel anders als die unsrige. Nur ihre Rätsel und Gefahren waren andere. Oder doch nicht?
    Seltsame Vergesslichkeit
    Das große Rätsel mit dem der Roman einsetzt, ist eine seltsame Vergesslichkeit, die das ganze Land befallen hat: Was vor drei Wochen oder drei Monaten geschah, wird unwirklich, verliert seine Konturen, entschwindet in einem undurchdringlichen Nebel. Hatten Axl und Beatrice, ein Paar wie Philemon und Baucis, nicht einmal einen Sohn gehabt? Warum hatte er sie verlassen? Wo lebte er heute? War es möglich, dass er sie erwartete? Nein, es geht nicht um Alzheimer im sechsten Jahrhundert nach Christus. Axl ist nicht der Einzige, dessen Gedächtnis ihm schlimme Streiche spielt. Die Vergangenheit fast aller Menschen ist wie ausgelöscht. Nur ab und an gibt sie sich schemenhaft wieder zu erkennen. Dann kehrt die Erinnerung ansatzweise zurück, was die Menschen in umso größere Verwirrung stürzt. Der amerikanische Kritiker James Wood hat Ishiguro in seiner mäkelnden Rezension des Buches im "New Yorker" Beliebigkeit und mangelnde Motivation vorgeworfen: Es sei nicht erkennbar, warum der Erinnerungsverlust nicht konstant bleibe. Das stimmt jedoch nicht. Man muss nichts weiter tun, als den Roman zu Ende zu lesen, um zu erkennen, dass Wood Unrecht hat. Der Drache selbst gibt die Antwort.
    In der antiken Mythologie sind Philemon und Baucis ein altes Paar, das den in Menschengestalt reisenden Göttern Jupiter und Merkur Gastfreundschaft gewährt, nachdem alle anderen Bewohner der Stadt sie abgewiesen hatten. Zum Dank erfüllt ihnen Jupiter ihren sehnlichsten Wunsch: Sie dürfen gleichzeitig sterben, auf dass keiner von beiden allein zurückbleibe. Ishiguro variiert den Mythos: Axl und Beatrice hegen denselben Wunsch wie Philemon und Baucis, aber sie gewähren keine Gastfreundschaft, sondern werden selbst zu Reisenden, denn sie machen sich auf, um ihren Sohn zu suchen. Es ist eine sinnlose und gefährliche Reise, und Ishiguro schildert sie auf merkwürdige Weise: Hänsel und Gretel, beide alt und grau geworden, einander in inniger Liebe zugetan, gehen Hand in Hand durch einen finsteren Wald namens Britannien und sprechen einander Mut zu, obwohl beide im Innersten wissen, dass ihr Märchen nicht gut ausgehen wird.
    Schon beim ersten Halt geraten sie in eine bedrohliche Situation. Zwei Oger haben einen Jungen geraubt und etliche Männer des Dorfes getötet. Herr Wistan, ein durchreisender sächsischer Krieger, befreit den Jungen, dem aber sofort neues Unheil droht. Auf der Brust trägt er eine Bisswunde der Oger, durch die er kurz oder lang selbst zum Menschenfresser wird. Das glauben zumindest die heidnischen Dorfbewohner und deshalb wollen sie den Jungen sofort töten. Wistan will den Jungen retten und in ein britannisches Dorf bringen und bittet das alte Ehepaar um Hilfe. Axl und Beatrice willigen ein und geraten so, ganz wie Hartmanns "Iwain" oder der Don Quijote des Cervantes, von einem Abenteuer ins andere, von einer Episode zur nächsten. Die episodische Struktur ist das Kennzeichen der sogenannten Queste, deren mittelalterlicher Held das Ziel zwar klar vor Augen hat, aber immer wieder abgelenkt, in neue Abenteuer verstrickt oder anderweitig in Versuchung gebracht wird.
    Auch Axl und Beatrice haben unheimliche und rätselhafte Begegnungen, treffen auf einen melancholischen Fährmann, auf mörderische Mönche und bissige Kobolde, die wie gehäutete Kaninchen aussehen. Und sie müssen erfahren, dass ihre Gefährten nicht mit offenen Karten spielen. Mit welchem Auftrag reist der sächsische Krieger Wistan durch britannisches Gebiet? Was hat es mit den Wundmalen des jungen Edwin tatsächlich auf sich? Und will der alte Ritter Gawain in seiner rostigen Rüstung ihnen eigentlich wirklich helfen oder versucht er nicht vielmehr insgeheim, ihnen Steine in den Weg zu legen?
    Realistischer Tonfall bei der Beschreibung von magischen Vorgängen
    Wie das mittelalterliche Epos wählt Ishiguro einen realistischen Tonfall, um magische Vorgänge zu beschreiben. Man wundert sich nicht darüber, dass es böse Zauberer gibt, sondern hütet sich vor ihnen. Auch die Dialoge sind dem Epos nachempfunden, schlicht, ein wenig hölzern, durchsetzt mit Gesten und Formeln der Höflichkeit. Doch man gewöhnt sich schnell daran, denn Ishiguro lässt keinen Zweifel daran, dass es ihm nicht um Mittelalter-Mimikry oder das Fortspinnen der Artus-Sagen geht. So ist Edwin denn auch kein Parzival, sondern ein leeres Gefäß, das wahlweise mit Liebe oder mit Hass gefüllt werden kann. Das Motiv des elternlosen Kindes mit ungewisser Herkunft verweist auf andere Romane Ishiguros wie "Als wir Waisen waren" und "Die Ungetrösteten", erinnert aber auch an das jüngste Buch des südafrikanischen Nobelpreisträgers J. M. Coetzee, "Die Kindheit Jesu", das ebenfalls voller Allegorien steckt, die sich jeder eindeutigen Entschlüsselung entziehen.
    Andere Episoden wirken - in ihrem Mythenmix an Botho Strauß erinnernd - wie Traumsequenzen, deren Sinn sich verflüchtigt, sobald man aus ihnen erwacht. In einer Ruine, einer einstmals prächtigen Villa aus römischer Zeit, suchen Axl und Beatrice Schutz vor dem Regen. Im einzigen Raum, der noch durch ein Dach geschützt wird, treffen sie auf einen Mann und eine alte Frau. Der Mann steht - das Gesicht zur Wand gedreht - so weit wie möglich von der Frau entfernt, die auf einem Schemel sitzt, auf ihrem Schoß ein Kaninchen, dem sie ein rostiges Messer an die Kehle hält. Der Mann, ein Fährmann, hat in dieser Villa seine Kindheit verbracht und kommt zurück, wann immer er kann, um seinen Erinnerungen nachzuhängen. Die Frau ist hier, um ihn zu beschimpfen, zu schmähen und zu peinigen, denn er hat zwar ihren Mann, nicht aber sie zu der Insel übergesetzt, die ihr gemeinsames Ziel war. Die Insel dürfte das Reich der Toten sein, durch das nur jene Paare gemeinsam wandeln dürfen, deren Liebe sich im Leben als wahrhaftig erwiesen hat. Die Probe auf die Tiefe und Wahrhaftigkeit dieser Liebe aber macht der Fährmann. Seine Fragen verfolgen von nun an Axl und Beatrice durch den ganzen Roman, denn wie wollen sie ihre Liebe zueinander beweisen, wenn sie keine gemeinsamen Erinnerungen haben? Und zugleich verfolgt sie die Angst, es könnten, wenn der Nebel sich einmal lichtet, auch unliebsame, zuvor verdrängte Erinnerungen zurückehren.
    Auch in dem sächsischen Dorf, in dem sie Wistan und den jungen Edwin kennenlernen, herrscht der mysteriöse Nebel des Vergessens. Ein Fremder aus dem Marschland, wo die Sachsen wohnen und woher auch Wistan kommt, hat mit dem alten Ivor, bei dem Axl und Beatrice übernachten, vor einiger Zeit darüber gesprochen:
    "Unsere seltsame Heimsuchung interessierte ihn außerordentlich, und er befragte mich wieder und wieder darüber. Und dann äußerte er eine Vermutung, die ich damals verwarf, über die ich aber seither viel nachgedacht habe. Der Fremde dachte, es könnte sein, dass Gott selbst vieles aus unserer Vergangenheit vergessen hat, Ereignisse aus ferner Zeit ebenso wie Ereignisse vom selben Tag. Und wie sollten sich Sterbliche an Dinge erinnern, die Gott selbst vergessen hat? Beatrice starrte ihn an. 'Kann so etwas möglich sein, Ivor? Wir sind doch alle seine geliebten Kinder. Könnte Gott tatsächlich vergessen, was wir getan haben und was uns zugestoßen ist?'"
    Was die einen getan haben, ist das, was den anderen zugestoßen ist. Darum geht es. Vielleicht ist Gott nicht vergesslich, sondern wütend - oder beschämt. Wahre Liebe ist das eine große Motiv dieses Romans, begangenes Unrecht und verdrängte Schuld das andere. Das Bindeglied zwischen beiden Motiven ist die Erinnerung. Gemeinsame Erinnerungen gehören zu einem Liebespaar ebenso wie zu jedem Kollektiv, sei es eine Gruppe von Dorfbewohnen oder ein ganzes Volk. Was die Britannier und die Sachsen eint, ist jedoch nicht geteilte Erinnerung, sondern deren kollektive Verdrängung. Beide Seiten haben vergessen, auf welch schreckliche Weise der Krieg, der so lange zwischen ihnen herrschte, beendet wurde. Artus, der große König, in dessen Diensten einst auch Axl stand, hat den Frieden herbeigeführt, indem er einen heiligen Vertrag brach. Er ließ Frauen und Kinder der Sachsen ermorden, damit zumindest eine Generation lang Frieden herrschen konnte, Frieden herrschen musste, weil niemand heranwuchs, der die Untaten hätte rächen können. Der giftige Atem der Drachin Querig ist der Nebel, der über dem Land liegt und den Menschen die Fähigkeit zu Erinnerung nimmt. Wistans Auftrag ist es, die Drachin zu töten, damit die Erinnerung zurückkehren kann und mit ihr blutige Rache, Gewalt und neuer Krieg.
    Wie entsteht ein kollektives Gedächtnis?
    Wie entsteht ein kollektives Gedächtnis? Welchen Anteil hat die Literatur daran? Was muss geschehen, damit ein Land in kollektive Amnesie verfällt? Kann es Situationen geben, in denen es besser ist, Unrecht und Gewalt zu vergessen, als die Erinnerung dann lebendig zu erhalten? Kann der Kreislauf der Gewalt ohne Vergessen jemals enden? Das sind die Fragen, die Ishiguros Roman zugrunde liegen. "Der begrabene Riese" gibt keine eindeutige Antwort darauf, wie ein letztes Streitgespräch zwischen dem Artus-Ritter Gawain und dem Artus-Opfer Wistan zeigt:
    "Bedenke, Herr, was in diesem Land alles wieder erwachen wir, sobald ihr Atem stockt, auch nach so vielen Jahren! Ja, wir haben viele, viele niedergemetzelt und scherten uns nicht darum, wer stark war und wer schwach. Gott mag nicht über uns gelächelt haben, aber wir haben das Land vom Krieg befreit. Geh fort von hier, ich bitte dich. Wir beten zu verschiedenen Göttern, das ist wahr, doch wird der deinen diesen Drachen ebenso segnen wie der meine."
    Wistan wandte sich von der Grube ab und sah den alten Ritter an. 'Was für ein Gott ist das, Herr, der Unrecht ungesühnt und vergessen wünscht?'"
    So stellt Kazuo Ishiguro auch noch die Theodizee-Frage am Ende dieses beeindruckenden Romans, der keineswegs mit dem Fantasy-Genre kokettiert, wie ihm vorgeworfen wurde.
    Tolkien wollte für England eine Mythenwelt erschaffen, die weiter in die Vergangenheit zurückreichte, als die Legenden um den guten König Artus. Ishiguro hält für das Land, dessen Seele er in seinen Büchern seziert, einen anderen Gründungsmythos bereit: Der Vorläufer des heutigen Großbritannien ist entstanden, als zwei Völker versuchten, einander auszulöschen. "Der begrabene Riese" ist kein historischer Roman, kein Werk der Fantasy-Literatur, kein postmodernes Epos und keine erzählende Allegorie. Er ist von all diesem etwas und zugleich mehr und anderes als die Summe dieser Teile. Deshalb ist er so schwer auszudeuten.
    Was verbirgt sich hinter dem begrabenen Riesen nun eigentlich? Die verdrängte Schuld? Die verlorene Erinnerung? Oder handelt es sich vielleicht um jene Instanz, die Ishiguro zum Erzähler seines neuesten Meisterwerks gemacht hat? Wer, der damals dabei war, kann heute noch davon erzählen? Doch wohl nur einer. Das ist der Fährmann, Charon, der Tod - allgegenwärtig und allzeit verdrängt.