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"Kehren Sie um, bevor noch mehr unschuldige Menschen sterben müssen"

Nirgendwo ist die syrische Exilopposition so gut organisiert wie in der Türkei. Seit Beginn der Aufstände sind fast 10.000 Syrer ins Nachbarland geflohen. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat längst Partei für den Widerstand in seinem Nachbarland ergriffen. Doch wie weit ist sein Land bereit, gegen Syrien vorzugehen?

Von Gunnar Köhne | 08.02.2012
    Eine Anti-Assad-Demonstration von Exil-Syrern in Istanbul. Fast täglich kommt es zu solchen Kundgebungen; mal nach dem Freitagsgebet vor der zentralen Beyazit-Moschee, mal vor dem syrischen Konsulat oder – neuerdings –, auch vor der Vertretung Russlands. Nirgendwo ist die syrische Exilopposition so gut organisiert wie in der Türkei. Seit Beginn der Aufstände sind fast 10.000 Syrer ins Nachbarland geflohen. Darunter auch zahlreiche Deserteure der syrischen Streitkräfte, die von einem grenznahen Flüchtlingslager aus die sogenannte Freie Syrische Armee dirigieren – jenen bewaffneten Widerstand, der Assads Sicherheitskräften immer mehr zu schaffen macht. 15.000 Mann sollen inzwischen dazu gehören. Dass sich die Rebellen auch über die Türkei mit Waffen versorgen, wird von der türkischen Regierung zwar bestritten. Doch die 900 Kilometer lange gemeinsame Grenze ist kaum zu kontrollieren.

    Ohnehin hat sich die türkische Regierung längst an die Spitze der Assad-Gegner gestellt. Der Handel mit Syrien ist fast vollständig eingefroren worden. Ministerpräsident Erdogan findet deutliche Worte. An den syrischen Präsidenten gerichtet rief er gestern im Parlament:

    "Sie befinden sich in einer Sackgasse! Kehren Sie um, bevor noch mehr unschuldige Menschen sterben müssen! Wir werden mit den Staaten, die an der Seite des syrischen Volkes stehen, zu dessen Rettung bald eine neue Initiative starten."

    Um welche neue Initiative es sich dabei handeln könnte, blieb unklar. Klar scheint dagegen, dass sich die Türkei immer enger an die Seite der arabischen Assad-Gegner stellt, insbesondere unter den Golf-Staaten – und sich damit nicht nur gegen Syrien, sondern auch gegen den Iran wendet, Damaskus' letzten Verbündeten in der Region. Für die Türkei birgt das ein Risiko, schließlich bezieht das Land ein Drittel seiner Öl- und Gasimporte aus dem Iran. Ankara wehrt sich deshalb gegen den Versuch des Westens, die Syrienkrise zu regionalisieren – etwa durch den deutschen Vorschlag, eine Syrien-Kontaktgruppe unter türkischer Führung zu bilden. Geriete nämlich die Entwicklung völlig außer Kontrolle, dann läge die Hauptverantwortung bei den direkten Nachbarn. Und die Türkei stünde möglicherweise vor der Frage, ob sie zur eigenen Sicherheit in Syrien militärisch intervenieren soll. So weit sei es aber noch längst nicht, sagt der hörbar gereizte Sprecher des türkischen Außenministeriums, Selcuk Ünal:

    "Derzeit haben wir einen solchen Plan nicht auf unserer Tagesordnung. Im Übrigen sollte sich die internationale Gemeinschaft zunächst selber fragen lassen, was sie im Fall Syrien zu tun gedenkt, anstatt immer nur die Türkei zu fragen."

    Das klingt nicht so, als schlösse man in Ankara ein militärisches Eingreifen völlig aus. Es gibt, so heißt es hinter vorgehaltener Hand, zwei Szenarien, in denen sich die Türkei gezwungen sähe zu intervenieren: Wenn das syrische Regime als Vergeltung für die türkische Haltung die militante kurdische PKK aktiv unterstützen würde. Oder aber wenn es zu einem Ansturm von Flüchtlingen auf die türkische Grenze käme. Dann könnte die türkische Armee auf syrischer Seite eine Schutzzone für diese Menschen schaffen. Das käme der Forderung der syrischen Opposition nach einer teilweisen Intervention des Auslandes nahe. Khalid Khoja vom oppositionellen syrischen Nationalrat in Istanbul:

    "Wir setzen im Moment darauf, dass die internationale Gemeinschaft einen geschützten Korridor nach Syrien durchsetzt, durch den humanitäre Hilfe ins Land kommen kann."

    In den kommenden Tagen wird der türkische Außenminister Davutoglu nach Washington fliegen. Dass die Türkei die NATO aufgefordert hat, Pläne zu machen für den Fall einer völlig unkontrollierten Entwicklung in Syrien, das wurde von Davutoglu brüsk zurückgewiesen. Doch solche Gerüchte zeigen: In Ankara macht man sich derzeit größte Sorgen um das Nachbarland im Osten.