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Kein Ende der Demokratie

Vertreter der Postdemokratie glauben, dass wir nicht mehr im Zustand einer funktionierenden Demokratie leben, sondern von Finanzkreisen und Wirtschaftsmächten beherrscht. Jan-Werner Müller stellt in seinem Buch dagegen, dass Demokratie kein Ziel in der Geschichte sein kann.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 17.06.2013
    Seit einigen Jahren macht der Begriff Postdemokratie in der Sozialwissenschaft und im Feuilleton die Runde. Danach leben wir nicht mehr im Zustand einer funktionierenden Demokratie, werden wir vielmehr von Finanzkreisen und diversen Wirtschaftsmächten beherrscht, die sich durch demokratische Institutionen, also gewählte Parlamente und Regierungen kaum noch kontrollieren lassen. Das Wort suggeriert auch, dass dieser Zustand erst in den letzten Jahrzehnten eintrat, dass es davor jedenfalls demokratischer zuging. Jan-Werner Müllers Buch "Das demokratische Zeitalter" will dieses Bild etwas zurechtrücken. Müller bemerkt dazu:

    "Zweifelsohne hat der Begriff einen Nerv getroffen, nicht nur in Deutschland, sondern interessanterweise, mit Ausnahme in Großbritannien, europaweit. Das Gefühl von Ohnmacht und Verlust ist ja ein Gefühl, das viele Menschen in Europa und in den USA spüren. Was mir an der Diagnose problematisch erscheint, ist das zumindest in dem ursprünglichen Buch von Colin Crouch, auf den dieser Begriff ja zurückgeht, ein gewisses goldenes Zeitalter der Demokratie oder spezifischer der Sozialdemokratie suggeriert wird. Das versucht, mein Buch aus historischer Sicht etwas zu relativieren."

    Damit stellt sich natürlich die Frage, welches goldene Zeitalter denn gemeint sein könnte und man wird wahrscheinlich an die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg denken, als sich in Europa die Demokratien in Ländern stabilisierten, in denen sie in der Zwischenkriegszeit reihenweise zusammengebrochen waren, man denke an Italien, Deutschland und Österreich. Gleichzeitig wurde in diesen Ländern der Sozialstaat massiv ausgebaut, sodass der Eindruck entstehen konnte, dass es sich nicht nur um eine Demokratisierung, sondern auch um eine Sozialdemokratisierung handelt. Der 2009 gestorbene liberale Soziologe Ralf Dahrendorf sprach gar vom sozialdemokratischen Jahrhundert. Demokratie hängt somit vom Sozialstaat ab, der in den letzten Jahrzehnten des Neoliberalismus global in die Defensive geriet und teilweise abgebaut wurde. In Deutschland könnte man als Beispiel dafür die Reformen verstehen, die mit dem Namen Hartz verknüpft werden. Jetzt herrscht nicht mehr ein demokratischer Staat, der sich um seine schwächsten Mitglieder kümmert, jetzt dominieren die Gesellschaft schier überall die Finanzmärkte. Dann kann man von Postdemokratie sprechen. Doch dieser Sichtweise widerspricht Jan-Werner Müller:

    "Die Textbücher für die Geschichte suggerieren ja häufig, dass die 50er-Jahre eine Art Goldenes Zeitalter der Sozialdemokratie war, dass nach all dem Scheitern von Sozialdemokratie und Sozialismus in der Zwischenzeit nach 45 dann endlich die ursprünglichen Ideen des Sozialstaats aus dem 19. Jahrhundert zum Durchbruch kommen. Der einzige Fall, wo das wirklich stimmt, chronologisch, ist Großbritannien, da ist es in der Tat die Labour-Partei, die auch vor dem Hintergrund der kollektiven Anstrengungen während des Krieges Ende der 40er-Jahre wirklich einen sehr umfassenden Wohlfahrtsstaat errichtet. In Kontinentaleuropa, denken Sie im besonderen an Deutschland und Italien, sind es ja Christdemokraten, die den Wohlfahrtsstaat errichten. Es ist auch kein Zufall, dass es dann auch diese Parteien und Denker sind, die einen spezifisch christlich orientierten Wohlfahrtsstaat schaffen, einen der eher am Bild der traditionellen Familie orientiert ist, der relativ paternalistisch ist, der also mit den ursprünglich sozialdemokratischen Ideen nicht so viel zu tun hat."

    Was Demokratie und Sozialstaat betrifft, war das 20. Jahrhundert also kein sozialdemokratisches, sondern ein christdemokratisches. Dann wird es doch etwas schwieriger von Postdemokratie zu sprechen, noch dazu, wenn Jan-Werner Müller die westlichen Nachkriegsdemokratien selbstdisziplinierte Demokratien nennt, die die Bevölkerung nur turnusgemäß zu den Wahlurnen schickten, ihr einen weitergehenden politischen Einfluss aber kaum gewährten, die also auch nur eingeschränkt demokratisch waren bzw. ein spezielles Verständnis von Demokratie verwirklichten. Darauf kann sich der Begriff Postdemokratie in sozialdemokratischer Perspektive also nicht beziehen. Jan-Werner Müller:

    "Einer der Thesen des Buches ist ja auch, dass die Art von Demokratie, die nach 45 zuerst in Westeuropa aber später auch in den sich demokratisierenden in Südeuropa und letztlich nach 89 in Mittel- und Osteuropa geschaffen wurde, dass dies eine Art von Demokratie war, die dem Ideal der Volkssouveränität sehr reserviert mit großer Skepsis gegenüberstand, dass man das Volk an sich etwas auf Abstand gehalten hat, dass man den Volkswillen einschränken wollte, zum Beispiel mit Verfassungsgerichten und anderen nicht gewählten Institutionen."

    Besonders in der Bundesrepublik verwehrt man der Bevölkerung bis heute Volksentscheide auf Bundesebene. Diese selbstdisziplinierte Demokratie der Nachkriegsjahre erscheint somit nicht sehr demokratisch, eher postdemokratisch.

    Da die Vorsilbe "post" ja bekannterweise "nach" bedeutet, ergibt sich die Frage, welche Demokratie es zuvor gegeben hätte. Nun ja, zuvor liegt das Zeitalter des Faschismus und des Nationalsozialismus, des Kommunismus und des Stalinismus, also des Totalitarismus, folglich gerade keine Demokratie! Doch so einfach ist es nicht. Damit kommen wir auch zum Buchtitel "Das demokratische Zeitalter" zurück. Jan-Werner Müller:

    "Wir haben ja aus heutiger Sicht den Eindruck, dass das 20. Jahrhundert eine Art ideologischer Dreikampf war zwischen grob gesagt, Demokratie, Faschismus, Nationalsozialismus im deutschen Falle und global gesagt Kommunismus und spezifischer Stalinismus. Und was das übersieht, ist, dass die scheinbaren Konkurrenten der Demokratie auch versuchten, eine Version entweder direkt von Demokratie anzubieten, zu argumentieren, dass sie eigentlich die bessere ,die authentischere vorzuweisen oder anzubieten hätten, oder wie im Fall des Nationalsozialismus, wo man relativ wenige semantische Konzessionen an das Wort Demokratie machte, nichtsdestotrotz auch auf der Klaviatur demokratischer Werte spielte, ob mit dem Begriff der Volksgemeinschaft oder mit dem Versprechen weitgehender Partizipation der Volksgenossen an der Politik."

    Nicht nur Kommunisten erklärten ihre Staaten zu Volksdemokratien und behaupteten, den demokratischen Willen des Volkes wirklich umzusetzen. Ob Vertreter des italienischen Faschismus oder autoritärer Regime wie das Portugal Antonio Salazars, des dienstältesten Diktators Europas von 1928 bis 1968, sie reklamierten sich selbst häufig als die wahren Demokraten. Dass Demokratie allgemeine und gleiche Wahlen beinhaltet, zudem eine freie politische Presse, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, das verstand sich aber sogar für den Liberalismus des 19. Jahrhunderts keineswegs von selbst, hatten die Liberalen damals eher Angst vor der bäuerlichen oder proletarischen Bevölkerung, die sie nicht unbedingt an Wahlen beteiligen wollten, sodass auch das kein demokratisches Vorbild ergibt. Noch in der Weimarer Republik tat sich der Liberalismus mit der Demokratie schwer. Also auch in dieser Hinsicht erscheint eine Diagnose der Postdemokratie problematisch. Wenn Postdemokratie einen Sinn besitzt, dann höchstens unter Bezugnahme auf 1968, dem Jan-Werner Müller ein ausführliches Kapitel widmet mit sehr vielen Details.

    "68 hat ja an den prominenten politischen Institutionen sehr wenig verändert. Also Parlamente waren noch wie vorher, die Exekutiven waren wie vorher. Es gab nicht den großen Umsturz. Aber es gab infolge von 68 in der Zeit danach zweifellos sehr tiefgreifende kulturelle und moralische Veränderungen, die auch Institutionen betroffen haben, – denken Sie an Universitäten und vor allem Familien. Die Parallele erscheint mir folgende zu sein: Genauso wie diese Institutionen nach 68 durch sehr komplizierte und konflikthafte gesellschaftliche Prozesse neu autorisiert werden mussten – man konnte nicht mehr so einfach weitermachen wie vorher, man konnte nicht mehr ein traditionelles Familienverständnis so rechtfertigen, wie man das vorher getan hatte – genauso könnte man heute sagen, dass man Märkte, die ja auch Institutionen sind, die ja immer rechtlich reguliert und konstituiert sind, dass man die nicht mehr so präsentieren und rechtfertigen kann, wie man es vielleicht noch vor 10 Jahren getan hat, dass sich in der Tat etwas ändern muss, dass sich vielleicht auch wie 68 nur etwas ändern wird, wenn es Druck von unten gibt."

    Vor dem Hintergrund verblasster demokratischer Impulse aus jenen Jahren lässt sich von Postdemokratie sprechen, aber auch nicht im Hinblick auf die Umstürze in Mittel- und Osteuropa nach 1989. So relativiert Jan-Werner Müller auch die berühmte These Francis Fukuyamas, dass die Geschichte im Hafen der Demokratie angekommen und damit beendet sei. Müller stellt in seinem spannenden und gut lesbaren Buch, das mit einer Fülle von Details genauso glänzt, wie mit großen Zusammenhängen, Fukuyama die Demokratie entgegen, die kein Ziel der Geschichte sein kann, weil man über deren Zukunft keine sicheren Aussagen machen kann. Die Demokratie steht immer vor einer ungewissen Zukunft. Sie wird vom Zufall und keiner historischen Notwendigkeit beherrscht. Daher kann man auch nicht von einem Ende der Demokratie sprechen. Jan-Werner Müller widerlegt mit umfänglichem historischen Material die Rede von der Postdemokratie.


    Jan-Werner Müller: "Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert", übersetzt von Michael Adrian, Suhrkamp, Berlin 2013, 400 Seiten, 34,95 Euro