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Kein ignoranter Zauberlehrling

Als die Mauer in Berlin vor 20 Jahren fiel, da gehörte Karl Marx zu den historischen Verlierern. Doch in einer Zeit, da der real existierende Kapitalismus eine globale Krise ausgelöst hat, besinnt man sich mancherorts auf den Philosophen.

Von Rainer Kühn | 28.09.2009
    Einfach gelungen! So kurz kann das doppelsinnige Urteil über Rolf Hosfelds Marx-Buch "Die Geister, die er rief" lauten: Trotz aller Präzision in Darstellung und Begriffsgebrauch ist der Band immer noch so "einfach" ausgefallen, dass er auch für die verständlich ist, die sich bislang nicht eingehend mit Leben und Werk von Karl Marx beschäftigt haben. Und das Buch ist insoweit schlicht "gelungen", weil es sich jederzeit auf der Höhe der Diskussion befindet und zudem die eigene Perspektive konsequent durchhält.

    Marx wollte immer eine auf den Kopf gestellte Welt durch Einebnung von Komplexität verändern, anstatt sie nur zu interpretieren und damit vielleicht in Grenzen beherrschbar zu machen. Mit einer richtigen Interpretation der Widersprüche des Kapitalismus wäre allerdings schon viel gewonnen. Dazu gibt Marx' Theorie beachtenswerte theoretische Zugänge und Hinweise. In ebenso beachtlichem Gegensatz dazu blieb die Beschreibung der kommunistischen Zukunft in allen seinen Schriften vom Anfang bis zum Ende stets ein unsicherer Gang auf dünnem Eis.

    Hosfeld bezeichnet sein Buch als essayistisch gehaltene "Ideenbiografie". Auch wenn der Duden diese Wortschöpfung zu Recht nicht kennt, ist doch verständlich, was gemeint sein soll: Der Autor verfolgt einerseits den verschlungenen Marxschen Lebenslauf von Trier über Bonn, Berlin bis letztlich in die Emigration nach Paris, Brüssel und London. Parallel dazu beschreibt und erklärt Hosfeld größtenteils in chronologischer Abfolge die Gedanken und Werke von den sogenannten Frühschriften bis hin zum "Kapital". Und der Autor unterteilt die zeitliche Abfolge zudem, und nicht einmal gewaltsam, in die vier thematischen Blöcke "Ideen", "Taten", "Entdeckungen" und "Folgen".

    Dabei gelingt Hosfeld eine äußerst konzise Darstellung des Stoffs, und zwar gerade durch das, was er Marx vorhält, nämlich durch Reduktion von Komplexität: Der Autor konzentriert sich auf das Wesentliche und lässt all die Probleme unerwähnt, die jahrzehntelang Gegenstand teils erbittert geführter theoretischer Debatten waren. Hosfeld bezieht zwar zu jeder Kontroverse Stellung, verzichtet aber darauf, seine Leser mit der Darstellung gegensätzlicher Marx-Auslegungen zu verwirren. Wer eine Marx-Biografie in einem handhabbaren Rahmen halten möchte, muss solche Auslassungen vornehmen. Gleichwohl sollten sich die Leser darüber im Klaren sein, dass Hosfeld einer spezifisch eigenen Perspektive auf Marx folgt.

    Besonders deutlich wird dies, wenn er seinen zentralen Einwand gegen Marx formuliert. Hosfeld wirft ihm nämlich mehrfach vor, einer Eschatologie gehuldigt zu haben, also im festen Glauben gewesen zu sein, das Endschicksal der Menschheit zu kennen. Er belegt dies beispielsweise mit Bezug auf das Marx-Zitat:

    Das jetzige Geschlecht gleicht den Juden, die Moses durch die Wüste führt: "Es hat nicht nur eine neue Welt zu erobern, es muss untergehen, um den Menschen Platz zu machen, die einer neuen Welt gewachsen sind."
    Da sich aber auch viele gegenteilige Stellen von Marx finden lassen, ist diese Kritik von Hosfeld einseitig; und durch die anschließende Gleichsetzung von Marx mit dem nietzscheanischen Heilsprediger Zarathustra auch überzogen.

    Also sprach auch Zarathustra, als er den Übermenschen zum Sinn der Erde erklärte. Die eigentlichen Museumsverwalter der eschatologischen Flamme waren im säkularen neunzehnten Jahrhundert paradoxerweise weniger die großen Theologen als weltfromme "Atheisten" wie Marx und – Nietzsche.
    Auch wenn Marx durchaus immer wieder versuchte zu beweisen, dass der Kapitalismus mit historischer Notwendigkeit zusammenbrechen muss und dann zwingend der Kommunismus beginnen werde – es blieb eben beim Versuch: Marx fälschte seine Ergebnisse nicht, sondern erwähnte stets auch die Tendenzen, die einem unabänderlichen Geschichtsverlauf entgegenstehen. Und insofern schießt Hosfeld mit seiner wiederholten Kritik an Marxens angeblicher Pseudo-Religion weit über das Ziel hinaus.

    Ansonsten aber hält sich der Autor mit seinen Bewertungen zurück; die Darstellung steht für ihn im Vordergrund. Zwar rauschen etwas zu viele Namen an den Lesern vorbei, und auch die Überschriften sind nicht immer zielsicher gewählt – Marx war alles andere als ein ignoranter Zauberlehrling, wie uns der Buchtitel Glauben machen will. Aber die mit traumwandlerischer Sicherheit ausgewählten Zitatstellen sowie die unaufgeregt distanzierte Annäherungen Hosfelds an die komplexen Problemstellungen sind bemerkenswert.

    Als Theoretiker des Kapitalismus und der historischen Evolution ist Marx mit all seinen fragmentarischen Einsichten und Widersprüchen erst noch unbefangen zu entdecken. Mehr als seine dem unruhigen Zeitgeist des 19. Jahrhunderts geschuldeten apokalyptischen Antworten beschäftigen uns heute die nach wie vor irritierenden Fragen von Marx, mit denen er den labilen Zustand und die selbstzerstörerischen Tendenzen unserer modernen Welt ins Auge fasst.
    Diese Fragen und das Leben von Marx in einen stimmigen und hervorragend lesbaren Zusammenhang zu bringen ist Hosfeld, wie gesagt, einfach gelungen!

    Rainer Kühn über Rolf Hosfeld: "Die Geister, die er rief. Eine neue Karl-Marx-Biografie", Piper Verlag, München 2009, Euro 19.95.