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"Kein kulturgeschichtliches Bewusstsein für deutsch-polnische Geschichte"

Der Vertreter der Vertriebenen im Stiftungsbeirat "müsste jemand sein, der zwei Reisepässe in der Hosentasche" hat, schlägt der Schriftsteller und das Kind polnisch-deutscher Eltern, Artur Becker, vor. Für ihn ist der Konflikt gleichzeitig aber auch "ein Generationsproblem".

Artur Becker im Gespräch mit Michael Köhler | 16.11.2009
    Michael Köhler: Der Bund der Vertriebenen will morgen wie geplant über die umstrittene Berufung seiner Präsidentin Erika Steinbach für die Stiftung, für den Stiftungsrat der Vertriebenen-Gedenkstätte entscheiden. Es wird auf jeden Fall eine Entscheidung getroffen werden, sagte eine Sprecherin heute. Auch Außenminister Westerwelle will die Personalie geklärt wissen, seine ablehnende Haltung in dieser Hinsicht ist bekannt. Steinbach ist offiziell bisher nicht nominiert für den dritten noch vakanten Posten im Rat der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. CSU-Chef Seehofer hält an ihr fest. Die Kritik an Steinbach aus Polen, sie ist unvermindert groß. Artur Becker, den Schriftsteller und das Kind polnisch-deutscher Eltern, habe ich gefragt: Was macht diese Wahl so brisant, dass die Emotionen unvermindert und unverändert hochkochen?

    Artur Becker: Na ja, zum einen hat ja Guido Westerwelle, unser neuer sozusagen Außenminister - ich sage bewusst unser, ich habe zwei, einen in Polen und einen in Deutschland, denn ich habe zwei Staatsangehörigkeiten -, völlig richtig hat er jedenfalls festgestellt, dass Erika Steinbach 1991 im Bundestag, damals in Regierung von Kohl und Hans-Dietrich Genscher, der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze nicht zugestimmt hat. Das ist etwas, was damals der polnischen Regierung, der neuen demokratischen Regierung, 1990 war Tadeusz Mazowiecki der erste Ministerpräsident, und auch der polnischen Bevölkerung bis heute im Gedächtnis geblieben ist. Und im Zuge der 20 Jahre, die Erika Steinbach sozusagen dazu verwendet hat, so etwas wie eine Gedenkstelle oder ein sichtbares Zeichen aufzubauen, im Sinne des Bundes der Vertriebenen, da passiert es auch immer wieder - für die Polen zumindest und für mich auch sozusagen -, dass ich das Gefühl hatte - und die Polen vor allen Dingen selber in Polen -, die gemeinsame Geschichte, deutsch-polnische Geschichte werde hier mehr oder weniger auf den Kopf gestellt. Und so sitzen wir heute da, wo wir sitzen.

    Köhler: Also gilt sie doch vielleicht mehr als eine Art Symbol für Revisionismus insgesamt, denn man kann doch in Rechnung stellen ...

    Becker: Genau.

    Köhler: ... , dass in 20 Jahren sich auch mal eine Anschauung auch mal ändert?

    Becker: Genau, das sagen mir auch meine deutschen Freunde, wie viel Erika Steinbach letztendlich doch geleistet hätte für die Vertriebenen insgesamt, nicht nur für die Deutschen, und ich muss das auch so akzeptieren. Aber gleichzeitig muss ich sagen, dass sie bestimmte Steine ins Rollen gebracht hat, und offensichtlich hat sie kein kulturgeschichtliches Bewusstsein für europäische, sprich in diesem Fall deutsch-polnische Geschichte, wo verschiedene Nationen verschiedene Symboliken haben. Und die gilt es dann sehr behutsam zu lesen und zu entschlüsseln. Und da ist natürlich so etwas wie ein rotes Tuch geworden für viele Polen und auch nicht nur - das muss man leider sagen - nicht nur eben für Populisten oder rechtskonservative Politiker in Polen, die natürlich antideutsche Phobien in den letzten Jahren betrieben haben.

    Köhler: Herr Becker, die Polen sind, wenn ich es richtig weiß, nicht grundsätzlich gegen einen Vertreter der Vertriebenen im Stiftungsbeirat, ...

    Becker: Nein.

    Köhler: ... aber vielleicht könnte man mal den Spieß rumdrehen und fragen, welches Profil müsste denn dann jemand haben, damit sich die polnische Seite zufrieden gibt und diese ständigen Sticheleien aufhören und zu einem glücklichen Ende führen?

    Becker: Ja, das ist eine Frage, die ich mir manchmal auch gestellt habe. Wahrscheinlich müsste das so jemand sein wie ich, der sozusagen zwei Reisepässe in der Hosentasche hat und sozusagen auch zwischen den Stühlen sitzt. So jemanden ist natürlich schwierig zu finden in Deutschland, das müsste sozusagen jemand sein, der beide Länder, beide Symboliken, historische, kulturgeschichtliche Symboliken der Länder versteht und lesen kann und dadurch auch nicht einseitig wäre, wie das die Polen die ganze Zeit im Fall von Erika Steinbach den Eindruck haben. So jemanden gibt es nicht, und wir wissen auch - das muss man einfach so sagen -, der Bund der Vertriebenen, das ist natürlich auch ein Bund, der sich sozusagen in erster Linie mit der deutschen Geschichte beschäftigt. Und man muss jetzt sich fragen, okay, wenn wir solche Konflikte haben wie zurzeit, wie wird denn das in fünf oder in zehn oder in 15 Jahren werden, wer wird in diesem Bund sitzen, wie wird die Politik weiterbetrieben? Und ich denke mal auch, dass es gleichzeitig ein Generationsproblem ist und dass wir viel zu sehr jetzt beschäftigt sind mit einer bestimmten Generation und nicht letztendlich mit einem universellen - leider muss man so sagen - Leid der Menschen. Denn man könnte auch fragen, warum gibt es kein sichtbares Zeichen für die Christen, die sozusagen im Kolosseum von den Löwen gefressen wurden. Also wenn man so anfinge, könnte man unendlich viele Gedenkstätten bauen.

    Köhler: Sagt der Schriftsteller Artur Becker zur Frage der Berufung von Erika Steinbach für den Stiftungsrat der Vertriebenen-Gedenkstätten.