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Kein rosiges Bild

Argentinien, das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, ist ein Land der Gegensätze. In den vergangenen Jahren hat es eine wechselvolle Geschichte hinter sich gebracht. Der Autor Peter Waldmann hat eine ambivalente Beziehung zu Argentinien und erkennt Schwachpunkte wie zum Beispiel den ausgeprägten Individualismus.

Peter Waldmann im Gespräch mit Jeanette Seiffert | 04.10.2010
    Jeanette Seiffert: Argentinien hat sich zwar zur Demokratie bekehrt, ist aber weiter denn je davon entfernt zum Rechtsstaat geworden zu sein. Ein Zitat aus einem der fast zahllosen Bücher zu Argentinien, die zur Frankfurter Buchmesse erscheinen. Das Buch trägt den Titel "Schwellenland auf Dauer" und stammt von dem ausgewiesenen Argentinienkenner Peter Waldmann. Man merkt sofort, da zeichnet jemand kein sehr rosiges Bild von dem lateinamerikanischen Land.

    Herr Waldmann, Sie waren 1969 zum ersten Mal in Argentinien und haben das Land seither immer wieder bereist und seine wechselvolle Geschichte hautnah miterlebt. Haben Sie in all den Jahren auch gute Zeiten für die Argentinier erlebt oder empfinden Sie sich als Zeuge einer langen Abwärtsgeschichte?

    Peter Waldmann: Zuerst muss ich sagen, dass ich persönlich auch gute Zeiten in Argentinien erlebt habe. Es hat mir dort gleich gut gefallen und seitdem habe ich eine durchaus ambivalente Beziehung zu Argentinien. Ich mag das Land und deswegen habe ich mich daran gemacht, auch die Ursachen dessen zu erforschen, warum es nicht funktioniert. Den Argentiniern geht es in diesen Aufschwungphasen immer relativ gut, weil sie auch Verdrängungskünstler sind. Sie können vergangenes Unheil, Katastrophen rasch vergessen und glauben dann an die Zukunft. Im Augenblick sind sie auch in einer Phase, in der ich glaube die Mehrheit der Argentinier sich durchaus wohlfühlt. Also man kann nicht von einer anhaltenden Melancholie oder Depression sprechen, sondern die kollektive Stimmung ist durchaus wechselhaft.

    Seiffert: Eigentlich hat Argentinien ja auch einen sehr hoffnungsvollen Start hingelegt. Immerhin galt das Land Anfang des letzten Jahrhunderts noch als Vorzeige-Demokratie Lateinamerikas und als wirtschaftlicher Hoffnungsträger. Und heute spricht man eher von dem Rätsel, ja von dem Wunder der Unterentwicklung Argentiniens von dem Sie in Ihrem Buch ja auch sprechen. Was genau ist eigentlich schief gegangen?

    Waldmann: Ja, da rätsle nicht nur ich, sondern auch viele Argentinier fragen sich, was die Ursachen sind und es gibt gute Bücher darüber, dass Argentinien im entscheidenden Augenblick es versäumt hat, sich mit den USA gut zu stellen, während des Zweiten Weltkriegs. Andere sehen die Probleme in regelmäßigen Zahlungsbilanz-Krisen. Ich persönlich glaube, dass viel zurückzuführen ist eben auf diese erste lang anhaltende Wohlstandsphase, die "Belle Epoque", wie es heißt, 1880 bis 1930. Da ist es den Argentiniern unglaublich gut gegangen, weil sie in eine günstige Weltkonjunktur hineingeraten sind und es schien ein unbegrenztes Wachstum vorprogrammiert. Sie sahen sich schon als Partner der USA. Und so anhaltende Wachstumsphasen sind zwar wirtschaftlich erfreulich, aber sozial-psychologisch höchst gefährlich. Die Leute werden verwöhnt, die Leistungsmaßstäbe verfallen. Im Falle Argentiniens Einwandergesellschaft der Hang zu Spekulation, überzogene Erwartungsniveaus. Das sind vielleicht die entscheidenden Weichenstellungen gewesen. Es hat dann immer wieder so Zäsuren gegeben, die unerfreulich waren und die das noch verstärkt haben, aber ich glaube, strukturell betrachtet, war es diese lang anhaltende Aufschwungphase, in der der Keim eigentlich schon der späteren Stagnation gelegt wurde.

    Seiffert: Sie machen ja nicht nur wirtschaftliche Gründe, sondern auch die Mentalität der Argentinier verantwortlich für die Dauerstagnation in ihrem Land. Was genau meinen Sie damit?

    Waldmann: Ich habe mich damit getrennt von jenen Erklärungen, die die Schuld abwälzen auf bestimmte Politiker, auf eine bestimmte Institution, auf eine bestimmte politische Phase. Ich glaube, dass alle diese Dinge, wirtschaftliche, politische, institutionelle Umstände schon eine wichtige Rolle gespielt haben, aber dass sie sich dann in der Mentalität der Argentinier in ganz spezifischen Grundhaltungen niedergeschlagen haben, die so netzwerk-artig so ein Gesamtsyndrom bilden, das eine spezifische Pfadabhängigkeit der argentinischen Entwicklung begründet hat, die nicht mehr leicht zu korrigieren ist. Also, ich würde den Schwerpunkt auf den sozial-psychologischen Bereich legen.

    Seiffert: In Argentinien gibt es einen Spruch, der ins Deutsche übersetzt in etwa lautet: Sie sollen sich alle davon scheren. Gemeint ist die politische Klasse und daraus spricht ja auch eine erschreckende Geringschätzung der Führungseliten im Land. Wie konnte es eigentlich passieren, dass nach den vielen Jahren der politischen Unterdrückung und Instabilität in diesem Land statt Begeisterung für die Demokratie, die man eigentlich erwarten sollte, nun eher Resignation und Unzufriedenheit vorherrschen?

    Waldmann: Nun ja, unmittelbar nach der letzten Militärregierung, die ungeheuer brutal war, da gab es einen Hoffnungsschub. Die Leute begannen an die Demokratie und den Rechtsstaat zu glauben, aber es war ein übertriebener Optimismus. Also nicht Optimismus was die Politik und die Politiker betrifft, sondern auch was die eigene Haltung der Argentinier anbelangt. Sie glaubten, alles hätte sich plötzlich geändert, aber im Grunde waren es die gleichen Menschen, der Gruppenpartikularismus, Individualismus, Missachtung des Rechts. Diese Grundhaltungen hatten sich nicht so sehr verändert, wie es notwendig gewesen wäre, damit das Land einen neuen Kurs einschlägt.

    Seiffert: Sie haben es eben schon angedeutet, Sie sprechen von einem exzessiven Individualismus in der argentinischen Gesellschaft, bei dem jeder nur auf seinen eigenen Vorteil aus ist und der Staat zu einer Art Selbstbedienungsladen wird, oder Sie nennen das auch Ausbeutungsobjekt. Ist das nicht ganz allgemein ein Kennzeichen moderner Staaten - auch in Europa beobachtet man ja Entwicklungstendenzen in diese Richtung: Stichwort Enthoheitlichung des Staates, Unterordnung unter wirtschaftliche Interessen. Oder anders gefragt: Was kann Europa, was können wir eigentlich von der Entwicklung Argentiniens lernen?

    Waldmann: Also, in der Tat glaube ich schon, dass der Zug zum Individualismus ein allgemeines Charakteristikum der Moderne ist. Ich glaube, davon kann man ausgehen. Und ähnliche Phänomene können wir ja auch in Europa beobachten. Aber in Argentinien genügt ein mehrwöchiger Aufenthalt. Dort würden Sie feststellen, dass der Individualismus extreme Blüten getrieben hat. Nun sind alle Einwanderungsgesellschaften hoch individualistisch, auch die USA, weil, man wandert aus, um sein Glück zu machen und das hängt von der individuellen Tüchtigkeit wiederum ab. Aber die Frage ist dann, ob der Individualismus so exzessiv sein kann, dass er nicht mehr gebremst wird. Und in Argentinien würde ich sagen, der Individualismus müsste nicht an sich schlecht sein, aber er wird nicht gebremst durch eine Rechtsordnung. Der Respekt für Recht, Verfassung, für allgemeine Regeln ist gering ausgeprägt in Argentinien. Das ist auch der Zug, in dem sich Europa noch sehr stark von Argentinien unterscheidet, aber es gibt auch hier bedenkliche Tendenzen der Aufweichung des Rechts, Strafrechts, usw. die mich natürlich aufmerksam machen und traditionell war es immer so, dass die Argentinier nach Europa geschaut haben, weil sie glaubten, die europäische Entwicklung ist ihre eigene Zukunft. Heute sind wir gut beraten, nach Argentinien zu schauen, weil in Argentinien Dinge passieren, die alarmierend sind und vielleicht unsere eigene alarmierende Zukunft vorwegnehmen könnten. Das ist eine Lehre, die man vielleicht aus dem Buch entnehmen kann.

    Seiffert: Vielleicht dann tatsächlich etwas, wo wir von Argentinien im negativen Sinne lernen können. Herr Waldmann, ich danke Ihnen vielmals für das Gespräch.

    Waldmann: Ja, auch schönen Dank.

    Peter Waldmann: "Argentinien: Schwellenland auf Dauer".
    Murmann Verlag,, 230 Seiten, 19.95 Euro, ISBN: 978-3-86774-106-4