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Keine Armee, sondern eine Herde

80.000 Tote im ersten Tschetschenien-Krieg, ungezählte im zweiten. Mit großen Zahlen findet der Krieg Eingang in die große Politik und die Nachrichtensendungen. Arkadi Babtschenko hat ihn selbst erlebt, als russischer Soldat 1996. Er zeigt, wie Krieg tatsächlich geht: Der Staat etabliert eine Zone, in der Menschen den Menschen preisgegeben werden.

Von Hartmut Kasper | 15.02.2008
    In seinem Buch "Die Farben des Krieges" notiert Arkadi Babtschenko folgende Episode:

    "Das Bataillon kommt in ein Dorf. Es ist fast unzerstört, wurde kaum beschossen, aber von den Bewohnern ist niemand zu sehen.

    Der Wind treibt Papierfetzen über den zentralen Platz, wirbelt Staub auf.

    Um den Platz herum (...) stehen große Kreuze. Daran hängen gekreuzigte russische Soldaten - die Hände sind an die Querbalken genagelt, jeder hat mehrere Schusslöcher in der Brust. Alle sind kastriert." (Seite 149)

    In diesem Buch herrscht Krieg, und sein Autor Babtschenko war in diesem Krieg. 1977 in Moskau geboren, wurde er 1996 als Soldat nach Tschetschenien geschickt, in die erste Phase dieses verdoppelten Krieges, den zunächst, von 1994 bis 1996, Boris Jelzin führte, danach, vom Oktober 1999 bis zum Februar 2000, Präsident Wladimir Putin.

    "Am 2. Januar 2003 mussten Internationale Beobachter Tschetschenien verlassen. Das Mandat der einzigen internationalen Beobachtertruppe, der OSZE, wurde nicht verlängert", informiert Olaf Kühl, der Übersetzer des Buches, in seinem Nachwort.

    80.000 Tote im ersten Tschetschenien-Krieg, ungezählte im zweiten; Boris Jelzin und Wladimir Putin; NGOs und die OSZE - da zieht der Krieg mit großen Zahlen ein in die große Politik, da wird er tagesschau-fähig.

    Babtschenko zeigt dagegen, was der Krieg im Kern ist. Hören wir die Fortsetzung der Geschichte vom Dorf mit den gekreuzigten Soldaten:

    "Der Kommandeur befiehlt die Säuberung des Dorfes. Alle Männer, die man finden kann, werden auf den Platz geschleppt, auf einen Haufen geworfen, dann beginnt das Gemetzel. Einer drückt den Tschetschenen mit dem Bein auf den Boden, ein anderer zieht ihm die Hose aus und schneidet mit zwei, drei scharfen Rucken den Hodensack ab. Die Zähne der Bajonette verhaken sich im Fleisch und reißen die Gefäße aus dem Körper heraus.

    In einem halben Tag ist das ganze Dorf kastriert, dann zieht das Bataillon ab."

    Irgendwo mitten im Text bemerkt der Autor: "Einem Menschen, der nie im Krieg gewesen ist, kann man den Krieg nicht erzählen".

    Ein Buch dieser Art ist also ein paradoxes Unternehmen, vielleicht sogar eines, das von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Babtschenko verzichtet denn auch auf alles, was dieses Scheitern kaschieren könnte: Die Figuren des Buches wirken episodisch, tauchen auf und gehen unter, werden vom Krieg geholt.

    Was ist das für ein Krieg? Oder lässt es sich generalisieren? Was ist der Krieg an sich?

    Hin und wieder erliegt Babtschenko der Versuchung, die Wandlung des Menschen zum Krieger als Regression zu deuten, als Rückschritt aus dem Menschlichen ins Vor-Menschlich-Bestialische. So heißt es, die russische Armee in Tschetschenien sei eigentlich "Keine Armee, sondern eine Herde."

    Doch damit würde die Natur denunziert, damit würde behauptet, der Krieg arbeite wie eine große Entmenschlichungsmaschine, die den Kern des Humanen bloßlegt, und dieser Kern sei nichts als Grausamkeit.

    Babtschenko dagegen zeigt, wie Krieg tatsächlich geht: Der Staat etabliert eine Zone, in der Menschen den Menschen preisgegeben werden. Er erzählt, wie die Rekruten von den Alteingesessenen des Krieges, den so genannten "Alten Männern", geprügelt, gefoltert, gedemütigt und erniedrigt werden, Tag und Nacht, pausenlos, systematisch.

    Was im Dorf der Gekreuzigten und Entmannten geschah, könnte man noch mit dem militärischen Begriff "Feindberührung" beschreiben; was innerhalb dieser russischen Armee selbst geschieht, sind Exzesse einer völlig unnatürlichen, beispiellosen Gewalt. Als deren Schirmherren fungieren die militärischen und politischen Kommandeure, Generäle und Präsidenten, die Geschäftsleute des Krieges:

    "Jeder versucht, ein Stück aus dem Kuchen namens Krieg zu schnappen. (...) Dieser Krieg ist von Anfang bis Ende gekauft. (...) Alle diese Jelzins, Dudajews, Gantamirows, (...) Gratschows und Putins - wer sind sie? Wer ist dieses Gesindel, das auf unserem Blut Karriere macht?"

    Babtschenko dokumentiert die Schiebereien und Korruptionen, die Landnahmen, die Verhökerungen von Waffen an den militärischen Feind nicht im Detail, folgt dem verworrenen Tunnelsystem des Krieges, in dem die verfeindeten Parteien auf perverse Art und Weise miteinander verbunden, aufeinander angewiesen sind, nicht bis in jede Verästelung, recherchiert nicht säuberlich, schwebt nicht journalistisch über den Dingen.

    Dennoch ist sein Buch ein Journal, das Tagebuch eines Prozesses, an dessen Ende aus ihm ein Soldat geworden ist, diese "wohl (...) einfachste Lebensform im Weltall".

    Eine durch Politik und Militär geschaffene Schwundstufe des Menschlichen, eine völlig unnatürliche Erscheinungsform.

    Man könnte in Anbetracht der hier berichteten Grausamkeiten einwenden: Dass derlei im Krieg geschieht, das weiß man doch, das ist nichts Neues. Wer von Troja weiß, den könne Verdun nicht überraschen; die Geiselnahmen im Moskauer Dubrowka-Theater, in der Schule in Beslan spiegelten nur den Häuserkampf in Grosny. Nichts davon sei wirklich neu oder unerhört.

    Aber der Krieg legitimiert sich nicht durch Novitäten, und also muss sich die Berichterstattung über ihn nicht mit Sensationen rechtfertigen. Man muss wissen, dass der Krieg kein fernes Phänomen ist, dass es ihn wirklich gibt, und zwar ganz in unserer zeitlichen oder räumlichen Nähe.

    Natürlich ist auch Babtschenkos Buch nicht frei von erzählerischen Ritualen, die sich aufdrängen, wenn vom Krieg die Rede ist. So stellt auch er die ewige Frage nach postumer Rechfertigung für die Opfer: "Sollen diese Toten umsonst gewesen sein?" Als wäre der Krieg eine Chiffre, die man nur enträtseln müsste, um den Sinn darin zu erkennen.

    Das Buch wird da besonders eindrucksvoll, wo es solche Fragen weder stellt noch impliziert, wo es demonstriert, dass der Krieg keine Abenteuerlandschaft ist, durch den der Held, der Gute, reitet, um dem Bösen beizukommen oder eine andere Mission von irgendeinem Sinn zu erfüllen.

    Stark ist es dort, wo es die Entstellungen protokolliert, die den Menschen in seinem Territorium widerfahren, wenn beispielsweise ein gewisser Ljocha von einem fernen Hotel erzählt: "Wir lauschen mit offenem Mund, hingerissen von Ljochas Erzählung. Weiße Klobecken, Speisesäle, Isolierfenster. (...) Wir glauben gern an weiße Kloschüsseln".

    So scheint den Soldaten etwas wie ein Jenseits des Krieges auf, ein Paradies, wie es sich in diesem Moment auch der Leser kaum strahlender vorstellen kann. Bis er bemerkt, wie ähnlich dieses Paradies unserem Alltag ist, und wie weit jeder Krieg die Menschen aus diesem Paradies vertreibt.

    Arkadi Babtschenko: Die Farbe des Krieges
    255 Seiten
    Deutsch von Olaf Kühl
    Rowohlt Berlin
    Berlin 2007