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Keine Erlösung

Die Ich-Erzählerin in "Am Meer ist es wärmer" hat vor zwölf Jahren ihren Mann Rei verloren und lebt nun mit ihrer halbwüchsigen Tochter Momo zusammen. Ob Rei tot ist oder ob er sich einfach davon gemacht hat - die Erzählerin weiß es nicht. Er bleibt jedoch verschwunden.

Von Martin Krumbholz | 06.09.2010
    Seit Kawakamis Überraschungserfolg "Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß" hat sich herumgesprochen, dass das Essen eine zentrale Rolle in den Büchern der Japanerin spielt. Die japanische Küche ist hierzulande ja noch nicht so populär wie die chinesische; der Kawakami-Leser aber macht nun Bekanntschaft mit Rossmakrelentartar, mit eingesalzenen Tintenfischinnereien, mit Shiitake-Pilzen, mit Miso-Suppe, die man bereits zum Frühstück isst oder mit Niboshi, das sind winzige getrocknete Sardinen.

    Wahrhaftig, man bekommt Lust auf diese Delikatessen und auch auf die Prosa, in der man ihnen fast auf jeder Seite begegnet. Es liegt auch ein ästhetischer Kunstgriff darin, etliche Speisezettel in eine Erzählung einzuarbeiten, denn der sinnliche Reiz dieser Ingredienzien liegt auf der Hand, und er lässt sich vielleicht sogar plastischer evozieren als der des Sex, dessen Darstellung – in der seriösen Literatur – oft etwas Abstraktes hat.

    Essen ist Alltag, und um den Alltag, um seine Mühen und seine Freuden geht es in Romanen. Die Ich-Erzählerin in "Am Meer ist es wärmer", offenbar eine Schriftstellerin wie die Autorin, hat vor zwölf Jahren ihren Mann Rei verloren und lebt nun mit ihrer halbwüchsigen Tochter Momo und ihrer Mutter zusammen. Sie hat zwar einen verheirateten Liebhaber, mit dem sie sich unregelmäßig trifft, aber die Erinnerung an Rei ist nicht verblasst – im Gegenteil, seine körperlose Präsenz ist vielleicht sogar bedrängender, als wenn er noch da wäre. Die Erzählerin weiß nicht, ob Rei tot ist oder ob er sich einfach davon gemacht hat; ob er, wie es einmal heißt, sterben wollte oder ob er verschwunden ist, weil er leben wollte.

    Nicht ohne Grund ist der Liebhaber, er scheint ein Verleger zu sein, eifersüchtig auf den toten oder verschwundenen Ehemann. In der Affäre der beiden gibt es keine Höhepunkte und auch keine Krisen, es gibt nur intensivere oder weniger intensive Phasen. Die Leidenschaft der Erzählerin gilt offensichtlich dem Phantom, dem Abwesenden, dem vermutlich (aber nicht definitiv) Toten – und auch ihre Eifersucht gilt ihm, nicht etwa der Ehefrau des Geliebten. Kei, so heißt die Erzählerin, unternimmt mehrere Ausflüge auf die südwestlich von Tokio gelegene Halbinsel Manazuru, nachdem sie in der Jackentasche des Verschollenen einen Zettel gefunden hat, der auf ein Rendezvous schließen lassen könnte. Eine geheimnisvolle Frau taucht auf, nicht real, sondern nur in Keis Vorstellung, lockt sie immer wieder nach Manazuru, vermeintlich auf die Spur Reis, der aber – natürlich – verschwunden bleibt. Ist es wirklich wärmer am Meer?

    Es lässt sich nicht leicht in Worte fassen, worin die Faszination dieses Romans liegt. In "Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß" hatte sie viel mit der skurrilen Hauptfigur zu tun, dem alten Lehrer, in den die viel jüngere Erzählerin sich verliebt, mit dem eigentümlichen Humor, erzeugt durch den schier unendlichen Aufschub, die Blockade in der romantischen Beziehung der beiden Protagonisten, die mit Essen und Trinken überbrückt wird. Eine ähnliche Kluft zwischen Subjekt und Objekt der Liebeswahl gibt es in "Am Meer ist es wärmer" auch, aber es fehlt die sympathische Hauptfigur, die dem Leser die Identifikation mit der Geschichte erleichtert. Es fehlt auch der versöhnliche Humor: "Am Meer ist es wärmer" ist das entschieden dunklere, das pessimistischere Buch. Nicht nur, weil es kein Happy End gibt, sondern vor allem, weil es für die Art von Konflikten, um die es hier geht, keine Lösung geben kann.

    Rei ist eine auswechselbare Figur, ein Mann, der, vermutlich aus Unsicherheit und aus Suche nach Bestätigung, Affären hat und das auch zugibt; es heißt einmal über ihn, er sei "ein belangloser Mann". Aber die Erzählerin liebt ihn nun einmal, und ob Rei ein interessanter Mann ist oder nicht, spielt dafür keine Rolle. Er ist der Vater ihrer Tochter, die sie in manchen Zügen an ihn erinnert – wenn das überhaupt nötig wäre. Die Erzählerin bekennt, sie habe einst in der festen Überzeugung gelebt, dass Momo, Rei und sie "als Familie eine harmonische Einheit bildeten." Dass dieser Glaube sich als Illusion entpuppt, löst den Konflikt nicht auf. Die Liebe mag in der Alltagspraxis entzaubert sein – das geheimnisvolle Verschwinden Reis verzaubert und versiegelt sie erneut. Das entstandene Vakuum, erfahren wir, lässt sich nicht kompensieren. Ja, es gibt zwar den Alltag mit seinen Pflichten und seinen Köstlichkeiten, mit seinen Shiitake-Pilzen und seiner Misosuppe, es gibt die (eher harmlosen) Auseinandersetzungen mit der heranwachsenden Tochter, die an ihren Vater kaum eine Erinnerung hat. Aber es gibt keine Erlösung.

    Und das dürfte auch die Frage beantworten, warum der Roman den Leser in seinen Bann zieht: Hier wird mit sehr kunstvollen und zugleich sparsamen sprachlichen Mitteln eine untergründige Spannung aufgebaut, die sich nicht auflöst. Die Sehnsucht nach einem verschollenen Menschen hat eine andere Qualität als die Trauer um einen Toten – diese lässt sich beenden, jene nicht. Diese ist empfänglich für Trost, jene nicht. Das ist das nachhaltig Beunruhigende.

    Hiromi Kawakami: "Am Meer ist es wärmer". Eine Liebesgeschichte. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler. Hanser Verlag, 208 S., 18,90 Euro.