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Keine rückwirkende Verjährung bei sexuellem Missbrauch

Der Rechtsausschuss des Bundestags will die Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch um drei Jahre verlängern. Wo bereits eine Verjährung eingetreten ist, könne man aber nicht rückwirkend etwas an der strafrechtlichen Verfolgung ändern, sagt Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP).

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Gespräch mit Friedbert Meurer | 13.03.2013
    Friedbert Meurer: In einem Rechtsstaat verzichtet der Staat nach einer gewissen Zeit auf strafrechtliche Verfolgung. Nur bei Mord gibt es in Deutschland keine Verjährung. Das war in den Anfängen der Bundesrepublik noch anders, aber Morde in der NS-Zeit sollten nicht ungesühnt bleiben. Viele Opfer sexuellen Missbrauchs in Schulen, Kirchen oder Heimen sehen voller Bitterkeit, wie ihre Peiniger von einst ungestraft davon kommen, denn die Taten sind verjährt. Viele Opfer haben aber lange Hemmungen gehabt, über das zu reden, was sie erlebt haben, und dann war oder ist es zu spät für einen Prozess gegen den Täter. Im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages war lange Zeit strittig, die Verjährungsfristen zu ändern, aber jetzt gibt es offenbar eine Lösung. Heute Morgen im Rechtsausschuss mit dabei sein wird auch Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger von der FDP. Guten Morgen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger.

    Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Bekommen die Opfer sexuellen Missbrauchs jetzt Gerechtigkeit?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Es wird jedenfalls in dieser hoch sensiblen Frage, wie lange können Taten des sexuellen Missbrauchs von der Staatsanwaltschaft und der Polizei verfolgt werden, eine Verbesserung geben. Aber es muss ganz klar gesagt werden: Alle die fürchterlichen sexuellen Missbrauchstaten in Institutionen, auch in Familie, die jetzt schon 20, 30 Jahre zurückliegen, die werden wahrscheinlich nicht mehr ausgenommen werden können von Verjährung. Das gilt nicht rückwirkend, sondern in die Zukunft oder da, wo nach geltendem Recht noch keine Verjährung eingetreten ist.

    Meurer: Wollen Sie nicht bei älteren Straftaten die Verjährungsfrist verlängern, oder dürfen Sie nicht?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Wir wollen insgesamt unsere Verjährungsfristen für diesen Bereich verlängern, sie beginnen später, aber wir können nicht rückwirkend, da wo auch schon Verjährung eingetreten ist, irgendetwas verändern an der strafrechtlichen Verfolgung. Deshalb ist da ja die Aufarbeitung und die Entwicklung auch von Hilfssystemen so wichtig, weil das ausgenommen ist von diesen Fragen des reinen Strafrechts.

    Meurer: Sorgt die neue Regelung, über die wir gleich reden, dann nicht doch für etwas oder sogar für viel Bitterkeit, denn all die Opfer, über die wir seit Jahr und Tag reden, bekommen dadurch keine besseren Aussichten?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Es war von Anfang an klar, dass das, was in den 60er-, 70er-Jahren passiert ist und bisher nicht bekannt war, weil die Opfer ja auch häufig sehr, sehr nachvollziehbar nicht darüber sprechen konnten oder wollten, es war klar, dass da der Gesetzgeber 2013 nicht mehr im Strafrecht Hilfe geben kann. Aber mit dem Runden Tisch vor zwei Jahren haben wir ja das alles ans Licht auch der Öffentlichkeit gebracht und zu einer Verantwortung auch der Institutionen beigetragen, die jetzt eben mit Hilfen, mit mehr Therapien, mit Aufarbeitung helfen. Also von daher: Das Strafrecht ist immer ein Bereich, aber nicht der, der wirklich rückwirkend – da sind alle gesetzlichen Regelungen davor, auch europäische -, rückwirkend da noch Genugtuung bringen kann.

    Meurer: Die neuen Verjährungsfristen, die Sie heute offenbar im Rechtsausschuss einvernehmlich festlegen wollen, lauten: Die Verjährungsfrist beginnt dann, wenn das Opfer 21 Jahre alt ist. Bisher lautet die Regelung, ungefähr 20 Jahre alt, wenn das Opfer 18 Jahre alt ist. Was bringen diese drei Jahre mehr?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Es geht ja darum, wie ist die Situation des Opfers, das es über die Taten, die ihm gegenüber begangen worden sind, also die Vergewaltigung, der sexuelle Missbrauch – das sind ja ganz fürchterliche Einschnitte für einen jungen Menschen -, wann dieser junge Mensch darüber reden kann. Mit 18 – das ist bisher die Grenze – ist man volljährig, für alles verantwortlich bis zum Wahlrecht. Aber wir gehen trotzdem darüber hinaus, bis überhaupt einmal anfängt, die Verjährungsfrist zu laufen, und sie kann natürlich, wenn dann ein Opfer etwas sagt, die Staatsanwaltschaft ermittelt, auch immer wieder unterbrochen werden, sodass es nach hinten raus es dann 20, vielleicht sogar 30 Jahre lang möglich ist, die Tat zu verfolgen.

    Meurer: Aber diese drei Jahre, machen die so einen Unterschied aus?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Es ist schon ein Unterschied, dass eben Menschen, die zum Beispiel die Schulausbildung abgeschlossen haben, im Studium dann erst auch anfangen können, sich mit dem, was ihnen in jungen Jahren, vielleicht als zehn-, elfjähriger passiert ist, noch mal zu reflektieren und nachzudenken. Und da das alles nach hinten raus, also bis dann zum 41. oder vielleicht sogar bis zum 51. Lebensjahr dazu führt, dass immer noch strafrechtlich ermittelt werden kann, ist es schon von Bedeutung.

    Meurer: Die Opfer, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, sind oft lebenslang traumatisiert. Warum verjährt sexueller Missbrauch überhaupt?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Dass generell Straftaten verjähren, mit Ausnahme von Mord, auch andere Taten, die zu schwersten körperlichen Verletzungen, auch äußerlich, nicht ausschließlich innerlich führen, liegt daran, dass es irgendwann nicht mehr möglich ist, auch Taten aufzuklären, je weiter sie vom Tatzeitpunkt entfernt sind, Erinnerung ist weg, Spuren sind nicht mehr da, und das ist ja das schlimmste, was passieren kann, dass dann in einem Strafprozess vielleicht ein Freispruch kommt mangels Beweisen, und weil irgendwann – das ist ein Grundgedanke in unserem Rechtsstaatssystem -, irgendwann dann auch nach vielen Jahrzehnten der Staat seinen Strafverfolgungsanspruch nicht mehr wahrnehmen soll, auch zur Befriedung in der Gesellschaft. Aber sobald man einmal anfängt zu ermitteln, ist ja die Verjährungsfrist unterbrochen.

    Meurer: Es gibt noch einen anderen Weg für die Opfer, sozusagen Sühne zu bekommen: das ist der zivilrechtliche Weg. Da wollen Sie die Verjährung von drei Jahren auf 30 Jahre ausdehnen. Warum gelingt hier dieser große Sprung?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Im Strafrecht haben wir bisher schon 20 Jahre Verjährungsfristen und jetzt geht es darum, dass die erst später anfangen zu laufen. Im Zivilrecht sind es bisher nur drei Jahre und auch der Beginn im Zivilrecht gilt jetzt mit der Verjährungsfrist ab dem 21. Lebensjahr. Da schaffen wir jetzt dieselben rechtlichen Anknüpfungspunkte, das ist damit auch für das Opfer viel leichter verständlich.

    Meurer: Das ist jetzt ziemlich kompliziert! Ganz kurz dazwischen gefragt: Zivilrechtliche Ansprüche beginnen erst, wenn das Opfer 21 ist, auch hier, oder ist es nicht so, dass im Gegensatz zum Strafrecht bei den zivilrechtlichen Ansprüchen die Verjährung sofort mit der Tat beginnt, wenn also der Jugendliche erst zum Beispiel elf Jahre alt ist?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Also gerade auch bei diesen Ansprüchen, Schadensersatzansprüchen wegen sexuellen Missbrauchs im Zivilrecht, da schaffen wir den Gleichklang auch mit dem 21. Lebensjahr des Beginns.

    Meurer: Eines wollen Sie heute noch beschließen im Rechtsausschuss, oder sich einigen, nämlich es gibt einen Entschädigungsfonds für die Opfer sexuellen Missbrauchs. Der Bund zahlt 50 Millionen Euro, die Länder erst mal nicht. Was geschieht mit dem Geld?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Das Geld soll für Hilfen für Opfer sexuellen Missbrauchs aus dem familiären Umfeld zur Verfügung gestellt werden. Wir haben ja in Institutionen, Kirchen, Sport, woanders, sexuellen Missbrauch, aber natürlich auch in Familie und im Umfeld, und bei Institutionen hat man jemanden, der zahlt, das passiert auch schon bei den Kirchen, aber in der Familie häufig nicht, und deshalb ein Hilfesystem, was hier unabhängig parallel von den Ansprüchen, die man aus dem Gesetz heraus hat, eine pauschale Hilfe zum Beispiel Besserstellung bei Therapien gegen Traumatisierung, bei ärztlichen Behandlungen insgesamt geben soll, und das wollen wir jetzt vom Bund alleine ins Leben rufen. Eigentlich sind die Länder dringend mit dabei, auch hier ihren Anteil von 50 Millionen zu zahlen. Da weigern sie sich, das haben sie abgelehnt, und wir als Bund wollen in Verantwortung von Frau Ministerin Schröder alleine starten.

    Meurer: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die Bundesjustizministerin, heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Danke schön und auf Wiederhören!

    Leutheusser-Schnarrenberger: Ja, auf Wiederhören!

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