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Keine wahre Geschichte

Der Film "Berlin 36" behauptet im Untertitel, "die wahre Geschichte einer Siegerin" zu erzählen. Doch mehrere Historiker und neue Recherchen widerlegen dies. Der Film erzählt bewusst historische Unwahrheiten und will dennoch als Unterrichtsmaterial herhalten.

Von Michael Barsuhn | 19.09.2009
    Die Kontroverse um den Kinofilm "Berlin 36. Die wahre Geschichte einer Siegerin" spitzt sich zu. Auf die Kritik von Historikern, der Film würde historische Fakten verfälschen, reagiert die Filmproduktion mit einem offenen Brief an die Presse.

    War es bislang noch so, dass man der Produktion von Berlin 36 "lediglich" Geschichtsklitterung aus Marketinggründen vorwerfen konnte, offenbart ein von Produzent Gerhard Schmidt, Regisseur Kaspar Heidelbach und Drehbuchautor Lothar Kurzawa gemeinsam verfasster offener Brief an die Presse, dass die Problematik wohl tiefer liegt. Das in seiner inhaltlichen Dürftigkeit verstörende Statement wirft die Grundsatzfrage auf, weshalb von Steuergeldern finanzierte öffentliche Filmförderung in ein Projekt fließen konnte, dessen Protagonisten offenkundig mit der Bearbeitung eines historischen Filmstoffs überfordert waren.

    "Kein Film kann behaupten, Wahrheit zu erzählen," erklären Schmidt und Co. im Brief. Dabei unterschlagen sie, dass der Untertitel ihres Films "Die wahre Geschichte einer Siegerin" genau dies behauptet. Bekanntermaßen weicht der Film gleich in mehreren Punkten von der historischen Realität ab.

    Die Geschichte, wie sie "Berlin 36" erzählt, werde von der Augenzeugin Gretel Bergmann gestützt, argumentieren die Verfasser des Schreibens. Doch das stimmt nur bedingt. Noch in jüngsten Interviews gibt Bergmann an, 1936 nicht bemerkt zu haben, dass ihre Sportkollegin Dora Ratjen in Wirklichkeit ein Mann war. Genau dies ist aber ein zentrales Motiv des Films. Die innige Beziehung der beiden Außenseiterinnen, der Jüdin Gretel Bergmann und der maskulin wirkenden Dora Ratjen, kann sich im Film erst entwickeln, nachdem Bergmann durch Zufall die wahre geschlechtliche Identität Ratjens beim Duschen entdeckt hat. Beide verbünden sich gegen die Nazis.

    In Wahrheit hatten Bergmann und Ratjen allenfalls ein loses Verhältnis. Sie begegneten sich als sportliche Konkurrentinnen in den Vorbereitungs-Lehrgängen für die Olympischen Spiele.

    Dass Ratjen von den Nazis erpresst wurde, an den Spielen in Berlin teilzunehmen, ist die zweite grundlegende Behauptung des Films. Die Autoren des offenen Briefes verweisen dabei auf ein Interview, das Ratjen in den 1960er Jahren angeblich mit der "Times" führte. Dort gab Ratjen an, nur drei Jahre als Frau gelebt zu haben und von den Nazis hierzu gezwungen worden zu sein. Doch ist diese Angabe nachweislich falsch.

    Ratjen wurde bereits seit der Geburt als Mädchen erzogen. Das belegen Dokumente, die der Spiegel in seiner jüngsten Ausgabe zitiert. Unappetitlich ist nun, dass der Filmproduktion diese Tatsache bereits seit längerer Zeit bekannt war. Gleich von zwei Seiten - der historischen Filmberatung wie auch den Autoren zum Filmbuch - wurde sie hierauf mündlich und schriftlich hingewiesen. Dass Schmidt und seine Kollegen nach außen an der falschen Version festhalten, ist nur mit Promotiongründen erklärbar.

    Problematisch ist jedoch, dass die Produktion mit ihrem Film den Anspruch erhebt, ein Geschichtsbild zu vermitteln, das zur Unterrichtung der Jugend geeignet ist. Auf seiner Homepage bietet der Verleih Schulmaterial an, das bedenkenlos die historische Unrichtigkeit des Films weitertransportiert.

    Problematisch ist auch, dass die sportliche Lebensleistung eines jungen Menschen mit einem schweren Schicksal, Dora Ratjen, durch den Film diffamiert wird: Die Chance des Olympiastarts wird nicht seinem sportlichen Ausnahmetalent zugeschrieben, sondern seiner vermeintlichen Rolle als Nazi-Marionette. Die mangelnde Sachkenntnis der Filmproduktion und ihre Gleichgültigkeit gegenüber der historischen Figur Ratjen wird auch an anderer Stelle des offenen Briefes unfreiwillig deutlich: Die Autoren sprechen von Hermann Ratjen - tatsächlich hieß er Heinrich. Genannt wurde er Heinz, dieser Name findet sich auf seinem Grabstein.