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Keine Zeit für Würde

Um die Pflege alter Menschen in Heimen ist es schlecht bestellt: Das Personal steht unter Zeitdruck; erhöhter Geldmangel und Missmanagement erschweren den menschlichen Umgang mit den Pflegebedürftigen. Menschen, die ihre alterskranken Angehörigen zuhause versorgen, leben nicht selten am Existenzminimum. Das zehnjährige Pflegeversicherungssystem steht vor dem Kollaps. Es braucht dringend eine Reformierung.

Von Veronika Neukum | 09.06.2005
    " Ich arbeite nun schon seit 1968 insgesamt in der Pflege. Und Anfang der 90er Jahre wurde die Pflegeversicherung eingeführt, wo wir Schwestern alle sehr erleichtert waren und dachten, jetzt wird es besser, wir bekommen mehr Personal. Das bekamen wir nicht. Aber wir bekamen mehr Arbeit. Die Bürokratie ist gewachsen. Wenn man mit Papier jemanden erschlagen könnte, wäre ich schon tot. "
    Schwester Monika ist Wohnbereichsleiterin in einem Altenheim in Berlin. Ihr droht die Entlassung, weil sie das Missmanagement ihres Arbeitgebers nicht länger hinnehmen will. Das wagen die wenigsten. Die Angst um den Arbeitsplatz lässt die meisten verstummen. Denn "wer aufmuckt, fliegt raus", das wissen Angehörige und Pflegende nur zu gut. Und deshalb hat kaum jemand den Mut, Pflegemissstände aufzudecken.

    Die ausgebildete Krankenschwester ist jedoch empört darüber, dass in der Pflege zuerst am Fachpersonal gespart wird. Ungeschultes Personal hielte den Zeitdruck noch viel weniger aus, sagt sie, worunter nicht nur das Betriebsklima leide. Das alles sei bedauerlicherweise ihr Berufsalltag. Nur, dass sogar unverzichtbare Arbeitsmaterialien rationiert und unabdingbare Arbeitsschutzmassnahmen missachtet würden, das ginge dann doch zu weit:

    " Die Ausstattung mit Handschuhen in den Heimen ist sehr schlecht. Das heißt, es ist nicht nur das Heim, wo ich im Moment arbeite, ich hab das in vielen Heimen erlebt, dass man sehr um Schutzhandschuhe, sprich Gummihandschuhe, kämpfen muss. Es ist ein Kostenfaktor wird gesagt und es wird rationiert und es wird sogar bei Leistungsbeurteilungsgesprächen gefragt, wie viele Handschuhe verbrauchen sie? Und so werden die Leute dann bezahlt. Also, wer wenige Handschuhe verbraucht, kriegt mehr Geld, weil er arbeitet ja kostenbewusst. Und der infektiöse Hospitalismus, wie man das nennt, diese Übertragung durchs Pflegepersonal von Infektionen wird dadurch natürlich immens gefördert und auch das Pflegepersonal infiziert sich leicht. "

    Dies ficht jedoch profitgierige Heimträger nicht an. Der Straftatbestand bleibt meistens ohne Konsequenzen. Auf die Phalanx des Schweigens ist Verlass in diesem Geschäft.

    Hilfe und Beratung bei Konflikt und Gewalt in der Pflege älterer Menschen bietet die Beratungs- und Beschwerdestelle der Diakonie Sozialstation in Berlin Kreuzberg an. Im Jahr fragen etwa 1500 Angehörige und Pflegerinnen und Pfleger um Rat nach. Die Psychologin Dorothee Unger weiß, dass es sich bei ihrer Klientel nur um die Spitze des Eisberges handelt. Verantwortlich für die Pflegemisere ist in ihren Augen vor allem die strukturelle Gewalt, also die oft beklagte "Pflege im Minutentakt" – Windeln wechseln, waschen, füttern im Laufschritt, Grund- und Behandlungspflege im Zeitraffer - das bedeute Dauerstress für Patienten und Personal.
    " Die Strukturen in der Altenpflege, Gesetzgebungen, Organisationen von Heimen – Führungsqualitäten – ein Riesenbereich – sind, glaube ich, wirklich der wichtige Hintergrund auf dem dieser Pflegenotstand existiert. Ein ganz großer Punkt ist die ganz grundlegende Versorgung von Grundbedürfnissen. Also: Essen und Trinken. Da wird Essen in einer Geschwindigkeit gereicht, wie es so schön heißt, dass alte Leute sich erbrechen daraufhin. Da wird Flüssigkeit entweder zu wenig gereicht, oder in solchen Massen versucht zu verabreichen, dass ebenfalls wieder ein Erbrechen erfolgt. Also dieses Essen und Trinken – die ja wirklich oft mit die letzten Dinge sind, wo man noch Freude dran hat, vielleicht – die sind hochproblematisch. "

    Das Rechtsmedizinische Institut der Universität Hamburg obduziert jedes Jahr hunderte Leichname von Heimbewohnern mit alarmierenden Ergebnissen.

    Viele der Toten weisen Liegegeschwüre auf – Fachbegriff: Dekubitus. Meistens eine Folge von unsachgemäßer und unzureichender Pflege. Ein Großteil der Toten ist unterernährt oder dehydriert, litt also Lebzeiten an extremem Flüssigkeitsmangel. Tatsache allerdings ist auch, dass alte Menschen ein reduziertes Bedürfnis haben, Flüssigkeit aufzunehmen und deswegen wenig trinken. Sie haben weniger Appetit, sind gebrechlich und brauchen auch mehr Zeit zum Essen. Die betreuende Hausärztin einer stationären Pflegeeinrichtung in Berlin verteidigt das Pflegepersonal. Das Problem sei keineswegs mit der "Verordnung" von Nahrung und Flüssigkeit gelöst. Heute kämen die meisten Menschen erst mit 85, 90 Jahren ins Heim und oft auch schon in einem sehr schlechten Gesundheitszustand.

    " Ungefähr um zehn Prozent kommen einfach auch schon unterernährt oder mangelernährt in eine Pflegeeinrichtung. Und natürlich ist nicht jede Mangelernährung behebbar. Die Krankheiten, die mit Mangelernährung verbunden sind, ist nun mal die Demenz, Parkinsonkrankheit, Depression. Die typischen Alterserkrankungen. Das heißt, ein depressiver Mensch, der nicht mehr essen mag und keinen Appetit hat, da kann ich noch so viele Kalorien ausrechnen, die ihm gut täten. Ich bringe sie nicht an den Mann. Und das was man eigentlich möchte, was sinnvoll für den Patienten wäre, das ist ja der Zeitfaktor. Das ist nicht die Kalorienzahl und das ist nicht die Dokumentation. Und dieser Zeitfaktor, der wird eher noch zunichte gemacht. "

    Die Zeit ist es, die in der Pflege an allen Ecken und Enden fehlt. Weil die Zeit für Waschen, Kämmen, Anziehen seit Einführung der Pflegeversicherung zu knapp bemessen ist, wird vielerorts auf letzteres gleich ganz verzichtet, bleiben die Bewohner manchmal sogar tagsüber im Bett. Monika, die ausgebildete Krankenschwester, schildert die Probleme bei der Pflege ihrer greisen Patienten.

    " Die haben starke Schmerzen, die kann man nicht schnell bewegen. Und wenn man da eine Zeitvorgabe vom medizinischen Dienst hat von 20 – 25 Minuten, dann funktioniert das vielleicht mit einem jungen Menschen, wenn ich den von Kopf bis Fuß wasche, kämme, Zähne putze, ankleide – eine neue Windel um mache und ihn an den Frühstückstisch führe. Dafür habe ich also 25 Minuten. Aber mit einem alten Menschen kann es bis zu einer Stunde dauern, der multimorbid ist, der mehrfach verschiedene Krankheiten und Gebrechen hat. Und es ist kein menschlicher Umgang, wenn man das im Zeitraffer macht, und die Leute also statt - sie können vielleicht noch laufen, aber sehr langsam und bis zum Tagesraum braucht es ein ganzes Stück – eh sie da sind. Also werden sie lieber schnell in den Rollstuhl gesetzt, weil man schafft es sonst nicht. "

    Parallel zur Misere der Betroffenen ist eine Hilfsmittel-Industrie entstanden. Das Geschäft blüht. Die Aktien der Hersteller von Magensonden samt zugehöriger Nahrung sowie so genannter Inkontinenzhilfen florieren an der Börse. Und weil die Zeit für das mühsame Toilettentraining zu knapp bemessen ist, hat man die Super-Maxi-XL-Windel entwickelt. Die Windel mit einem Fassungsvermögen von sage und schreibe 5 Litern gilt als "Pflege erleichternde Maßnahme" und heißt in der Praxis "Inkontinenzhilfe", weil das besser klingt. Dorothee Unger von Pflege in Not in Berlin-Kreuzberg hört tagtäglich die Klagen:

    " Dass Windeln, ich sag mal "verabreicht" werden, und Menschen regelrecht gesagt wird, ah, Frau soundso: "Machen Sie jetzt einfach in die Windel, ich hab jetzt keine Zeit". Wie unglaublich würdelos das ist und wie viele Menschen dann versuchen, einzuhalten und nicht in die Windel zu machen. Also man muss mal richtig versuchen, sich da hineinzuversetzen, glaube ich. Das klingt manchmal alles gar nicht nach Gewalt, aber es ist Gewalt. Und wenn man versucht, sich mal zu überlegen, wie das ist, dann kriegt man eine Ahnung davon. "

    Der Fehler liegt im System. Das Pflegepersonal kann noch so engagiert sein, den Spagat zwischen Idealismus und minutiös vorgeschriebenen Pflegeabläufen bekommen auf Dauer die wenigsten hin, ohne abzuspringen oder selbst krank zu werden. Die Leistungen der Pflegeversicherung seien viel zu knapp bemessen, so die Klage landauf, landab.

    Die viel gescholtene Pflegeversicherung sei besser als ihr Ruf, verteidigt dagegen die Sprecherin für Altenpolitik der grünen Bundestagsfraktion Irmingard Schewe-Gerigk Norbert Blüms Jahrhundertwerk. Die Pflegeversicherung sei von Anfang an als Teilkasko-Versicherung gedacht gewesen und nie darauf angelegt, alle Leistungen zu 100 % zu übernehmen. Allerdings sei teilweise schon menschenverachtend, wie knallhart die Medizinischen Dienste der Krankenkassen einerseits die Pflegestufen verteilten und andererseits nur noch Pflege im Laufschritt zuließen.

    " Also, wenn Sie 2 Minuten für das Kämmen einer älteren Dame mit langem Haar ansetzen, dann können Sie sich vorstellen, dass das überhaupt nicht möglich ist. Notwendig ist natürlich, dass zusätzliche Leistungen erbracht werden. Aber es ist so im Kopf vieler Menschen, das muss ausreichen, und alles, was darüber hinausgeht, wird an Pflegeleistung nicht mehr erbracht. Das ist ne Katastrophe für die Menschen, die in Heimen leben. "

    Nach den Pflegebedürftigen leidet das Pflegepersonal unter dem System. Unter Reglementierungen aller Art, dazu der enorme Zeitdruck bei gleichzeitig wachsenden Qualtitätsanforderungen und hohem Verwaltungsaufwand.

    Anerkennung von keiner Seite, weder von den Bewohnern, noch von deren Angehörigen, nur Druck und Maßregelungen von der Heimleitung, ganz zu schweigen vom mäßigen Verdienst und der gesellschaftlichen Nichtanerkennung.

    Aber Geld- und Zeitmangel sind nicht allein verantwortlich für unzulängliche Pflege: Humane Pflege kostet vor allem ein kollektives Umdenken. Und: Gute Pflege steht und fällt mit gutem Management. Jedes Heim ist so gut wie seine Leitung. Der Frankfurter Heimleiter Michael Graber-Dünow kritisiert: Seit Jahren werde Qualitätsentwicklung groß geschrieben. Aber viel mehr als viel versprechende Glanzlack-Broschüren und hohe Managergehälter sei nicht dabei herausgekommen.

    " Es werden auch oft sehr gut dotierte Jobs im Qualitätsmanagement neu installiert und letztendlich fehlt es – um es so plakativ zu sagen – "am Bett" – d.h. also, diese sehr teuren Jobs im Management werden letztlich auf Kosten der praktischen Pflege finanziert und ich glaube, wir haben noch nie soviel über Qualität in den Heimen geredet und hatten – na, ich will nicht sagen und hatten noch nie so wenig Qualität – aber ich denke, da geht schon eine Schere auseinander. Es wird sehr viel über Qualität geredet und dieses Reden über Qualität bis hin zu irgendwelchen Qualitätssiegeln, Zertifikaten oder ähnliches, die die Einrichtungen nicht nur für teures Geld, sondern auch für sehr viel personellen Einsatz, der dann letztendlich in der Pflege fehlt. Und das ist eine Entwicklung, die ich auch für sehr problematisch halte. "

    Dazu kommt: Wer schlecht pflegt, wird finanziell belohnt. Warum also sollten Heime ein Interesse daran haben, die alten Menschen in ihrer Obhut gesund zu pflegen? Im Gegenteil: Je schneller ein Heimbewohner Pflegestufe II oder III bekommt, desto besser fürs Geschäft. Das heißt: Je mehr bettlägerige Heimbewohner, desto lukrativer für den Träger. Eine makabere Konsequenz der Bestimmungen.

    Die Zahlen sprechen für sich. Wer in Pflegestufe I einen ambulanten Pflegedienst bemüht, bekommt 384 Euro im Monat. Pflegt ein Angehöriger zu Hause selbst, wird ihm das mit nur 205 Euro monatlich entgolten.

    1023 Euro dagegen – also fünfmal soviel – bekommen Heimbewohner mit Pflegestufe I. Für Stufe III gibt es 400 Euro mehr. Kein Wunder also, dass ganz im Widerspruch zur Prämisse: "ambulant statt stationär", die stationäre Unterbringung seit Jahren auf dem Vormarsch ist. Dabei könnte mindestens ein Drittel der Heimbewohner zu Hause versorgt werden. Ein folgenschwerer und kostspieliger Fehler im System. Der Marburger Sozialwissenschaftler Eckhardt Rohrmann:

    " Ich bin überzeugt, dass es volkswirtschaftlich erheblich kostengünstiger sein wird, wenn man mit dem Vorrang ambulant vor stationär wirklich ernst machen würde. Das ist das Problem, dass Träger stationärer Einrichtungen natürlich ein vitales Interesse daran haben, dass ihre Einrichtungen weiter bestehen, möglicherweise noch expandieren. Wir haben in Deutschland sowieso im Bereich der Sozialplanung das ganz große Problem, dass Bedarfe in aller Regel nicht von den Betroffenen her definiert werden, sondern von den Angeboten, die es schon gibt. Das Angebot gibt es, und mangels Alternativen wird es auch primär nachgefragt. "

    Nach Auskunft der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft sind derzeit etwa eine Million Menschen an mittelschwerer und schwerer Demenz erkrankt. Jahr für Jahr kommen an die 200.000 Neuerkrankungen dazu. Denn wir leben immer länger und Demenz ist eine hirnorganische Krankheit, die vorwiegend im Alter auftritt. Die Rund-um-die-Uhr-Betreuung Demenzkranker ist eine körperliche und seelische Herausforderung für pflegende Angehörige.

    Seit dem 1. Januar 2005 gibt es die steuerlich absetzbare Möglichkeit osteuropäische Haushaltshilfen anzustellen. An die 600 Frauen aus Polen, Rumänien, der Ukraine und Weißrussland hat die Bundesagentur inzwischen an Haushalte, in denen Senioren leben, vermittelt.

    Die Frauen wohnen etwa im ehemaligen Kinderzimmer und sind 24 Stunden einsatzbereit. Sie machen alles. Kochen, Putzen, Einkaufen, Spazieren gehen – alles eben, was die Pflegeversicherung nicht abdecken kann und wofür deutsche Hilfen schwer zu finden sind. Nur pflegen dürfen sie nicht. Aber wer kann schon kontrollieren, ob bei der Morgentoilette oder beim Essen geholfen wird!?

    Laut Auskunft des "Bundesverbandes der Privaten Anbieter sozialer Dienste" beschäftigen zudem schätzungsweise 70.000 Familien illegale Pflegekräfte aus Osteuropa. Wer hierzulande seinen alten Eltern professionelle Pflege zukommen lassen will, muss im Monat bis zu 5000 Euro dafür investieren. Das können sich die wenigsten leisten. Auch gute Renten, plus Pflegeversicherung reichen dafür nicht aus.

    10 Jahre ist die Pflegeversicherung nun alt. Jetzt droht ihr der finanzielle Kollaps. Überalterung und Geburtenrückgang werden als die Hauptschuldigen dafür ausgemacht. Während sich die Anzahl der Leistungsempfänger verdoppelt hat, wachsen seit etwa 40 Jahren nicht genug Beitragszahler nach. Höchste Zeit für die Politik, das System zu reformieren.

    Es ist allerdings zu befürchten, dass im Falle vorgezogener Bundestagswahlen auch die von der rot-grünen Regierungskoalition für Herbst geplante Pflegeversicherungsreform erst einmal auf Eis gelegt werden muss.

    Der Sozialwissenschaftler Rohrmann gibt zu bedenken: Über kurz oder lang werde sich der Gesetzgeber zudem entscheiden müssen, ob das "Risiko Pflegebedürftigkeit" weiter reprivatisiert werde, wie das heute schon der Fall sei. Denn Pflegebedürftigkeit werde zunehmend ein doppeltes Armutsrisiko:

    " Wir haben ohnehin ja jetzt schon die Situation, dass diejenigen, die dazu in der Lage sind, sich private Pflegeversicherung leisten können und all diejenigen, die es sich nicht leisten können, verwiesen sind auf die niedrigen Standards der Pflegeversicherung mit eben der Konsequenz, dass im Falle des Eintritts des Pflegerisikos diese Leute mehr oder weniger als Taschengeldempfänger so gut wie keine finanziellen Möglichkeiten mehr haben, um ihr Leben zu gestalten. "


    Für etwa 300 000 pflegebedürftige Menschen muss derzeit bereits die Sozialhilfe einspringen, weil Rente und Pflegeversicherung zusammen nicht ausreichen, um die teuren Heimkosten zu bezahlen. Dieses Geld holen sich die Kommunen von den Kindern zurück. Daran wird auch das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen "Elternunterhalt" nicht viel ändern.

    Die Richter in Karlsruhe haben mit ihrem Urteilsspruch von vorgestern den Sozialämtern lediglich die Pfändung des Eigenheims der erwachsenen Kinder verwehrt sowie deren eigene Altersabsicherung vor dem Zugriff der kommunalen Kassen geschützt. Die Unterhaltspflicht der Kinder ist also eingegrenzt. Das Problem bleibt dennoch bestehen. Harte Verteilungskämpfe stehen bevor. Es ist zu erwarten, dass Sozialämter auch künftig die Angehörigen schonungslos zur Kasse bitten werden. Auch nach dem Karlsruher Urteil bleibt die Frage offen, welche Rolle die Kinder übernehmen müssen in Zukunft, und wann der Staat für teure Betreuungskosten aufkommt.

    Eine zusätzliche Härte trifft alle diejenigen, die seit 1. Januar 2005 in ein Pflegeheim umgesiedelt sind. Mit Einführung des Sozialgesetzbuches XII, das das alte Bundessozialhilfegesetz ablöst, ist auch das Taschengeld für Heimbewohner um ein Drittel, d.h. um 44 Euro gekürzt worden. Mit dem verbleibenden so genannten "Barbetrag", der seit Jahresbeginn nur mehr 88 Euro im Monat beträgt, müssen Sozialhilfe-beziehende Heimbewohner, ihre Bedürfnisse des täglichen Lebens bestreiten, die nicht in den Pflegesätzen der Heime enthalten sind. Den Frisör-Besuch etwa, Telefongebühren, Kosmetika und die Fußpflege. Einen sozialpolitischen Skandal nennt Heimleiter Graber-Dünow diese Entscheidung. Hier werde eine zutiefst unsoziale Umverteilungspolitik auf Kosten alter Menschen betrieben, die "modernem Raubrittertum" gleichkomme:

    " Also ein Stück Kuchen bei der Bäckerei, oder eine Tasse Kaffee, oder ein Glas Wein, das wird mittlerweile zum Luxus, wenn der Betroffene nur noch seinen Grundbarbetrag zur Verfügung hat.
    Ich weiß nicht, wieso Politiker draufkommen, ich denke auch, dass sie sich eigentlich dafür schämen müssten, aber nichtsdestotrotz sind das eben Entscheidungen, die so gefallen sind. Diese Entscheidungen werden als sozial verträglich und sachlich gerechtfertigt dargestellt. "

    Man muss kein Hellseher sein, um vorherzusehen, dass sich die Pflege-Situation in Zukunft gravierend zuspitzen wird: In 15 Jahren – so eine Prognose des Statistischen Bundesamtes – wird es in Deutschland 1 Million mehr Pflegebedürftige geben, d.h. 2020 werden wir 3 Millionen haben.

    Aus den Bundesländern wächst der Druck. Die Pflegestandards seien viel zu hoch, heißt es. Die am 1.Januar 2002 in kraft getretene Heimgesetznovelle ist so manchem Landesfürsten ein Dorn im Auge.
    Die Pflege ist den Ländern zu teuer, der Personalschlüssel zu hoch. Die Länder pochen auf die Zuständigkeit für die Heimgesetzgebung. Irmingard Schwewe-Gerigk sieht schwarz für den Fall, dass die Pflege nicht mehr vom Bund, sondern von jedem Bundesland individuell geregelt würde.

    " Wir haben ja schon einen kleinen Vorgeschmack bekommen, was passiert, wenn die Länder selbst entscheiden. Wir haben aus Bayern den Vorschlag, dass Sozialhilfeempfänger nur in mindestens zwei, möglichst auch in 3-Bett-Zimmer untergebracht werden. Das hatte die Frau Stevens als Vorschlag gemacht. Wir haben von Baden-Württemberg einen Vorschlag gehabt im Bundesrat unter dem Thema "Bürokratieabbau" – da sollte die Fachkraftquote, die jetzt bei 50 % liegt auf 30 % reduziert werden. Und ich meine, das sind ja alles Hinweise darauf, was passiert, wenn der Bund nicht mehr zuständig sein wird. Und ich kann’s überhaupt nicht verstehen, dass der Bund, der ja die Leistung zahlt über die Pflegeversicherung, dass der nicht weiterhin Einfluss darauf haben soll, wie seine Leistungen umgesetzt werden, welche Qualitätsstandards da sind. "