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Keith Gessen: "Ein schreckliches Land"
Ein Amerikaner entdeckt seine Wurzeln in Moskau

Der junge New Yorker Andrew Kaplan verbringt ein Jahr bei seiner Großmutter in Moskau. In einem fremden Land kommt er nach Hause. Er staunt. Und er lernt. Keith Gessens Roman "Ein schreckliches Land" zeigt manchmal klischeehaft ein dennoch facettenreiches Russland.

Von Uli Hufen | 06.06.2021
Keitch Gessen: "Ein schreckliches Land" Zu sehen sind der Autor und das Buchcover
Ein Russland-Portrait mit biographischen Zügen (Cover: culturbooks / Foto: Nina Subin)
Ein geflügeltes russisches Wort, das auf den früheren Premierminister Wiktor Tschernomyrdin zurückgeht, lautet: "Wir haben getan, was wir konnten, aber es kam wie immer."
Der Satz passt gut auf den verkorksten Abend, den Andrew Kaplan gerade in Moskau verbracht hat, Mitte September 2008. Andrew, gerade erst zwei oder drei Wochen in der Stadt, hatte getan, was er konnte. Aber es kam wie immer. Dabei hatte er sich so gefreut über die Einladung: Endlich mal ausgehen in der seltsam feindseligen Stadt, ein paar Drinks, ein paar Gleichaltrige kennen lernen, vielleicht sogar eine Frau, wer weiß. Aber dann geht wieder schief, was schief gehen kann. Die Preise im modischen Bistro Jean Jacques liegen weit über dem, was Andrew sich leisten kann. Ein Bier für neun Dollar, ein Glas Grenache für 20 – woher haben die Leute hier so viel Geld? Aber die hippen jungen Menschen, die im Jean Jacques verkehren, haben nicht nur Geld. Sie kennen sich auch in New Yorker Galerien und mit amerikanischen Fernsehserien besser aus als Andrew. Russisches Fernsehen schaut hier niemand. Der sarkastisch-herablassende Ton, in dem sie über Russland, seine korrupte Regierung und das dusselige Volk reden, das diese Regierung ertrage und wähle, irritiert Andrew.
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Fremd im Herkunftsland

Und dann ist da noch die Sache mit Ty und Wy. Darf man als 33-Jähriger gleichaltrige Menschen duzen? Zu ihnen also Ty sagen? Oder ist das förmliche Wy angezeigt? Die Journalistin Elena klärt Andrew auf, als er sie in der vergeblichen Hoffnung auf einen Kuss zum Auto gebracht hat:
"Dann fiel ihr etwas ein, und sie kurbelte das Fenster herunter. ‘Du musst nicht jeden mit Wy ansprechen‘, sagte sie, ’es hört sich an, als wärst du zurückgeblieben.’
‘Okay‘, sagte ich. Ich versuchte, mir einen Satz einfallen zu lassen, der das vertrautere Ty enthielt, aber es gelang mir nicht. ‘Okay‘, sagte ich noch einmal – wie ein Idiot. ‘Abgemacht.‘ Elena nickte und fuhr davon."
Andrew ist Absolvent einer amerikanischen Ostküsten-Hochschule und verfügt über einen Doktortitel in Russian Studies. Er ist kein Idiot. Dumm ist nur, dass alle Versuche, den Titel in eine Professur umzumünzen, fehlschlagen. Seit drei Jahren schon. Daher Andrews Selbstbeschreibung:
"Ich war nicht wirklich ein Idiot. Aber ich war auch nicht kein Idiot."
Es lief nicht in New York, die Jobsuche nicht und das Liebesleben auch nicht. Darum war Andrew sogar erleichtert, als sein zehn Jahre älterer Bruder Dima sich meldete und fragte, ob Andrew nicht für ein paar Wochen auf Großmutter Sewa aufpassen könnte. In Moskau. Denn die Sache ist die: Andrew ist nicht nur kein Idiot und doch einer. Er ist auch ein in Moskau geborener Amerikaner. Er ist ein Jude ohne besondere religiöse Bindung. Und ein westlicher Mann, dessen "lange, verschwenderische Jugend" zu Ende geht. Alles Eigenschaften, die er mit seinem Erfinder Keith Gessen teilt. Allerdings hieß Gessens reale, mittlerweile verstorbene Großmutter, der sein Roman auch gewidmet ist, nicht Sewa, sondern Rosa.
Amerikanische Jung-Männer wie Andrew waren auch die Helden von Keith Gessens erstem, ebenfalls deutlich autobiografisch grundiertem Roman "All die traurigen jungen Dichter" von 2008. Allerdings fehlte deren Irrungen und Wirrungen zwischen Hochschule, Bars, Internetporn, Dating und Weltliteratur bei allem Witz der Inszenierung letztlich das Entscheidende: die Fallhöhe. Es blieben die Probleme privilegierter New Yorker. In "Ein schreckliches Land" ist das anders und das hat einen Grund: Moskau.

Moskau: Furchtbar, aber anders als erwartet

Als Andrew ankommt, ist nichts wie erwartet. "Die Russen sahen anders aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Sie waren gut gekleidet, hatten schicke Frisuren und telefonierten mit eleganten neuen Handys. Sogar die Grenzbeamten in ihren hellblauen, kurzärmeligen Uniformen waren guter Laune. […] Der Ölpreis stand bei hundertvierzehn Dollar pro Fass, und ihre Armee hatte gerade den Georgiern den Arsch versohlt – lachten sie darüber?"
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Russland – zu groß, zu vielschichtig und zu rätselhaft, um verstanden zu werden. Mit einer solchen Auffassung mache man es sich als Betrachter des Landes zu einfach, kommentiert Thielko Grieß. Vieles sei fremd und mühselig zu verstehen – aber es sei möglich.
Als Andrew zuletzt in Moskau war, hatte er die Armut und die Hoffnungslosigkeit irgendwann nicht mehr aushalten können. Die Schlägertypen in Trainingsanzügen, die halb verrückten Obdachlosen, die nachts in den Mülltonnen nach etwas Essbarem suchten. Was in der Zusammenfassung vielleicht manchmal stereotyp wirkt, ist bei Keith Gessen durchaus genau gezeichnet und gut beobachtet. Man merkt an vielen Details, wie gut der Autor Moskau und Russland kennt.
Knapp zehn Jahre nach seinem letzten Besuch erkennt Andrew die Stadt kaum wieder. Vor allem die Innenstadtgegend am Boulevard-Ring, wo Großmutter Sewa wohnt. Mit fast 90 und schon etwas mehr als nur leicht dement.
"Wir waren umzingelt von teuren Cafés, teuren Supermärkten, teuren Modeboutiquen. Die meisten Anwohner waren noch nicht lange hier; die alten Mieter waren rausgekauft oder rausgemobbt worden, um Platz zu schaffen, oder sie waren gestorben. […] Und zwischen all diesen glitzernden neuen Objekten und den gewaltigen Baustellen voller offener Löcher lief meine Großmutter in ihrer rosafarbenen Bluse und ihrer grünen Hose umher wie ein Geist, der durch sein eigenes Leben spukte. Auf der Suche nach irgendeinem billigen Käse."
In der Wohnung seiner Großmutter fehlt das WLAN, das Andrew für die Onlinekurse braucht, mit denen er sein bescheidenes Einkommen erwirtschaftet. Aber jetzt finde erst mal ein bezahlbares Café! Andrew scheint einfach vom Pech verfolgt: Ein eifersüchtiger Mann schlägt ihn vor einem Club mit der Pistole nieder. An einem anderen Abend erweist sich die zauberhafte Sonja leider als Prostituierte - gerade als es schön wird. Freundlich lächeln, so Andrews Eindruck, das tun in Moskau nur Leute, die dafür bezahlt werden.
"Dieses Land war zum Kotzen. Aber es war auf eine ganz andere Art zum Kotzen, als man mir eingetrichtert hatte. Was war aus der Furcht einflößenden Diktatur geworden? Wo war das blutrünstige Regime? Ich hatte erwartet, verhaftet zu werden, aber niemand wollte mich verhaften. Keiner interessierte sich auch nur einen Scheiß für mich. Dafür war ich einfach viel zu arm."

Neue Freunde, demente Oma

Doch irgendwann wendet sich das Blatt und Andrew findet Zugang zu der Stadt, in der er vor 33 Jahren geboren wurde. Er begreift langsam, welche Bedürfnisse seine Großmutter hat. Und manchmal erzählt sie ihm sogar aus ihrem dramatischen sowjetischen Leben. Die Wohnung, einst von Stalin persönlich verliehen wie ein Orden. Der Krieg. Der sowjetische Alltags-Antisemitismus. Die Emigration der einzigen Tochter, Andrews Mutter, in die USA. Vielleicht lässt sich daraus ja ein wissenschaftlicher Aufsatz machen? Andrews Karriere könnte es gut tun.
In dem Feierabend-Eishockeyteam, dem Andrew sich anschließt, spielen Öl-Manager, Anwälte und Männer, die mit Immobilien Geld machen. Verblüffende postsowjetische Biografien, ebenso verblüffende Ansichten. Allen voran der Torhüter Sergej, ein anarchistischer Akademiker, der seinen Dienst an der Uni quittiert hat aus Protest gegen die zunehmende Privatisierung und Kommerzialisierung des Bildungswesens.
Als Andrew bei einer Diskussionsveranstaltung in der legendären Buchhandlung "Falanster" Sergej und einige seiner Freunde trifft, ist schnell klar: Hier sind endlich Menschen, deren Weltsicht ihm nahe ist.
"Ich mochte diese Jungs so sehr. Es war, als hätten sie eine verschärfte Version meines eigenen Lebens gelebt, in das die westliche Populärkultur zuerst nur tröpfchenweise eingesickert war […] bis sie dann nach und nach die ältere russische Buchkultur, die uns unsere Eltern weitergegeben hatten, verdrängte. […] Russisch zu sein bedeutete in gewisser Weise, immerzu Entscheidungen treffen zu müssen […] zwischen Russland und dem Westen – wenn es darum ging, was man aß, welche Musik man hörte, was man dachte. Und Mischa, Yulia, Sergej, Boris, meine Freunde, sie hatten zu einer sehr ansprechenden Mischung gefunden: Niemand, den ich bisher in Russland getroffen hatte, hatte sich so gründlich mit der westlichen Kultur auseinandergesetzt und in so vielerlei Hinsicht das Beste daraus extrahiert wie sie, und niemand war dabei dem Land, aus dem sie kamen, so treu geblieben."

Freiheit oder Gerechtigkeit

Andrew beginnt, mit seinen neuen Freunden Demonstrationen zu organisieren. Er diskutiert mit ihnen über Putin, Freiheit, Revolution, Markt und Kapitalismus. Unter ihrem Einfluss lernt er, die Stadt, in der er sich so lange fremd gefühlt hat, richtig zu lesen. Spätestens jetzt merkt auch der letzte Leser, dass Keith Gessens "Ein schreckliches Land" ein sehr viel ambitionierteres Buch ist, als es auf den ersten Blick scheint.
Sicher, der Ton bleibt leicht. Die Szenen mit Großmutter Sewa sind rührend und komisch. Sewa vergisst gelegentlich, was der geliebte Enkel Andrjuscha eigentlich in Moskau will, besiegt ihn dafür regelmäßig beim Anagramm-Spiel und kocht den besten Buchweizenbrei der Welt. Andrew gerät in eine romantische Dreiecksgeschichte. Und die Abende mit den Eishockey-Kumpels geben Gelegenheit zu Exkursen über die hohe russische Kunst des Fluchens. Aber in diese Stränge der Handlung webt Keith Gessen mehr und mehr Argumente und Ideen über Russlands Geschichte im 20. Jahrhundert, über seine Gegenwart unter Putin und nicht zuletzt über das Verhältnis Russlands zum Westen.
Dabei gelingt ihm Erstaunliches: abwägende, komplexe Argumente und kluge Fragen in Bezug auf ein Land, über das zwar unaufhörlich geredet wird, aber viel zu häufig in Schablonen. Auch in den USA und gerade in den Jahren, in denen Gessen an "Ein schreckliches Land" arbeitete. Gessen hat das im Kopf, man spürt es, er wehrt sich dagegen. Und man staunt, dass er dabei nie ins Gegenteil verfällt: in das, was man in Deutschland herablassend "Putin-Versteherei" nennt. Wie sich zeigt, geht es auch anders. Man kann die GULag-Erfahrung ernst nehmen, Kluges über Alexander Solschenizyn und Warlam Schalamow schreiben und gleichzeitig bemerken, dass der GULag im Westen ein Geschäft geworden ist.
"Leute wie Alex Fishman bauten ganze Karrieren darauf auf, die russische Diktatur mit neuen Etiketten zu versehen. Fishman brauchte nur ‘GULag‘ und ‚Internet’ zu sagen, und die Fördergelder sprudelten nur so. […] Die Leute lasen gern über den sowjetischen GULag, dann fühlten sie sich mit den Vereinigten Staaten von Amerika gleich viel wohler."

Sowjetische Klassiker und ein untergegangenes Leben

Nach und nach versteht Andrew auch das komplexe Verhältnis seiner Großmutter zur Sowjetunion besser. Der Satz "Russland ist ein schreckliches Land", der dem Roman seinen Titel gibt, stammt aus ihrem stehenden Wortschatz. Aber das Leben von Baba Sewa ist mit diesem schrecklichen Land eben auf sehr vielfältige und keineswegs nur schreckliche Weise verknüpft. Mit seiner reichen Kultur, seinen herrlichen Städten, seiner Geschichte. Sie hat hier studiert und gearbeitet, geliebt und gelebt. Es war ihr Land - trotz allem. Andrew begreift, was das bedeutet, als er mit Sewa DVD-Raubkopien von Meisterwerken des sowjetischen Kinos anschaut. Monatelang hatte er versucht, neue Filme mit ihr zu schauen. Russische und amerikanische. Sewa mochte keinen einzigen, sie fand einfach keinen Zugang.
"Ich fragte Yulia, ob sie mir etwas empfehlen könne.
‘Na ja, du könntest es mit Osennij Marafon versuchen’, schlug sie vor.
Tatsächlich gab es Marathon im Herbst am Kiosk vor den ‘Sauberen Teichen‘, und ein paar Tage später saßen meine Großmutter und ich im Hinterzimmer und sahen ihn uns an.
‘Oh!’, sagte meine Großmutter während der ersten Szene, ‘Leningrad!’"
Andrew und seine Oma schauen nicht die berühmten frühen Avantgarde-Filme, die man an westlichen Universitäten studiert. Eisenstein und Dziga Wertow. Sie schauen auch nicht Andrej Tarkowskijs Filme. Andrew und Sewa schauen die großen Komödien, Romanzen und Dramen von Georgij Danelija, Nikita Michalkow oder Eldar Rjasanow. Oma Sewa kennt sie alle, sie war einst eine begeisterte Cineastin. Aber es geht um mehr als um die Nostalgie einer alten Dame.
"Die Bilder selbst und die Präsentation dieser Bilder und die Dinge, die die Menschen sagten, während sie sich durch diese Bilder bewegten – all das sprach von Werten, an die sie glaubte, auch wenn sie unter den Sowjets nur am Rande gewürdigt worden waren."

Gegen Putin, nur anders und aus anderen Gründen

Und dann ist da natürlich die zentrale Frage nach dem Charakter des Systems, dass nach 1991 in Russland etabliert wurde. Die Frage nach Jelzin und Putin. Nach der sogenannten Transformation. Dass hier einiges schief gelaufen ist, daran haben Andrew und seine neuen Freunde von der linken Organisation "Oktober" keinen Zweifel. Doch im Gegensatz zu den gut situierten Liberalen mit iPhone aus dem Café Jean Jacques, die Putin ebenfalls ablehnen, gehören Sergej und Yulia und ihre Familien nicht zu den Transformationsgewinnern. Yulia zum Beispiel schreibt eine Doktorarbeit an der Lomonossow-Universität, muss sich aber Bett und Kleider mit einer Freundin teilen. Sie macht sich Vorwürfe, aus Kiew weggegangen zu sein, wo ihre arbeitslose Mutter seit Jahren in Depressionen versinkt.
Yulia, Sergej und die anderen glauben, etwas Grundlegendes verstanden zu haben: Russland ist gewiss kein freies Land. Aber das zentrale Problem ist ihrer Ansicht nach nicht die Freiheit, das zentrale Problem ist der Kapitalismus. Genau wie im Westen. Sergej, der in Gessens Roman viele Ideen formuliert, die denen des real-existierenden und von Gessen ins Englische übersetzten Dichters und Aktivisten Kirill Medwedew ähneln, sagt es so:
"Was wir während der letzten zwanzig Jahre in Russland gesehen haben, ist die Übernahme eines stagnierenden, manchmal gewalttätigen und unterdrückerischen, aber grundsätzlich funktionstüchtigen Staates durch eine Diktatur des Marktes. Die Menschen sind an Hunger gestorben, an Depressionen, an Alkoholismus und Gewalt, und sie haben es nicht nur stillschweigend getan, sondern sogar bereitwillig. Sie haben ihren Eroberer gepriesen."
Keith Gessen und sein Protagonist Andrew sympathisieren mit dieser Sicht der Dinge. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern. Andrews fiktionaler Bruder Dima ging direkt nach dem Ende der Sowjetunion nach Russland, um dort als Unternehmer reich zu werden. In Andrews Augen gehört Dima zu jenen rücksichtslosen Schlaubergern, die Russland in den 90ern nicht nur ausplünderten, sondern auch noch stolz darauf waren:
"Er war nicht nur nach Russland gekommen, um den Jackpot zu knacken; er war gekommen, um den Kapitalismus, die Demokratie und eine moderne Nation aufzubauen. Er knüpfte an die Arbeit der großen sowjetischen Dissidenten an, die meine Eltern so verehrt hatten."
Zu Dimas Grundüberzeugungen gehört diese: "Im Kommunismus aufgewachsene Menschen haben eine Sklavenmentalität."

Keith und Masha Gessen

Hier lassen sich Parallelen zu Keith Gessens realer älterer Schwester Masha kaum übersehen. Masha Gessen ging wie Dima Anfang der 90er-Jahre nach Russland. Nicht um Geschäfte zu machen allerdings, sondern um dort als Übersetzerin und bald schon als Journalistin Karriere zu machen. Sie war schon früh eine harte Kritikerin Putins. Als der sich 2011 anschickte, auf den Präsidententhron zurückzukehren, engagierte Masha Gessen sich bei Großdemonstrationen. Als dann auch noch eine massive Kampagne gegen Homosexuelle begann, ging Gessen mit ihrer Partnerin und den drei Kindern zurück in die USA. 2017 erschien hier das Buch "Die Zukunft ist Geschichte", Gessens Bilanz der neueren russischen Geschichte.
Die zentrale These des Buches findet sich im Untertitel. Im englischen deutlicher noch als im deutschen. Auf Deutsch heißt es:
"Wie Russland die Freiheit gewann und verlor"
Im Englischen rabiater: "How totalitarianism reclaimed Russia. - Wie Russland wieder totalitär wurde."
Gessen behauptet in ihrem Buch, die russischen Bürger seien von 70 Jahren Totalitarismus traumatisiert und nicht in der Lage, selbst zu denken und frei zu handeln. Überdies fehlten ihnen – ebenfalls als sowjetisches Erbe – die intellektuellen Mittel, um ihre fürchterliche Lage als unfreie Untertanen auch nur zu begreifen.
"Das Sowjetregime hat den Menschen nicht nur die Möglichkeit genommen, frei zu leben, sondern auch die Fähigkeit, wirklich zu verstehen, was ihnen vorenthalten wurde und wie das geschah."
Diese durchaus herablassende Sicht auf die Russen und ihre neuere Geschichte ist nicht nur bei westlichen Journalisten wie Masha Gessen verbreitet, sondern auch unter russischen Liberalen. In Keith Gessens Roman vertreten sie Figuren wie Andrews Bruder Dima, aber auch die jungen Leute aus dem Jean Jacques.
Keith Gessen stellt dieser Sicht Russlands mit seinem Roman "Ein schreckliches Land" eines der charmantesten und nachdenklichsten Bücher an die Seite, die in den letzten Jahren über Russland geschrieben wurden. Ein klassischer realistischer Roman in der russischen Schule des 19. Jahrhunderts. Leicht und doch ernst, lustig auf eine melancholische Art, unverkennbar mit aufklärerischer Absicht geschrieben und doch nie unangenehm pädagogisch. Und dass Keith Gessen Wladimir Putins Regime in irgendeiner Weise verharmlosen würde, kann beim besten Willen niemand behaupten.
Am Ende des Romans schlägt der Staat hart zu und es zeigt sich schnell, wer auch unter Druck noch zu seinen Idealen steht und wer nicht. Andrews russische Freunde werden verhaftet. Er selbst bekommt für seinen Einsatz im Kampf gegen das russische Regime die lang ersehnte Professur in den USA. Andrew schämt sich, aber er nimmt sie an.
Keith Gessen: "Ein schreckliches Land",
aus dem amerikanischen Englisch von Jan Karsten, CulturBooks Verlag Hamburg, 486 Seiten, 24 Euro.