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Kenner und Könner

Es brennt eine einsame Flamme: der Dichter in seiner miniaturhaft biedermeierlich eingerichteten Stube, die sich vorn an die Rampe schiebt. Der Dichter denkt, reimt, zweifelt, stammelt. "Paris, 1803" rattert eine Schreibmaschinenschrift an die Rückwand des Recklinghäuser Festspielhauses und setzt später noch ein weiteres Datum: "Dresden, 1808".

Von Andreas Wilink | 04.05.2010
    Frank Hoffmanns Auftaktinszenierung der Ruhrfestspiele zieht einen Kurzschluss und zählt Eins und Eins zusammen: Autor und Werk, Heinrich von Kleist und sein Fragment "Robert Guiskard". Die Entstehung des Dramas wird schlicht als dessen Deutung genommen.
    Der Schauspieler Wolfram Koch durchleidet in diesem aus anderen Kleist-Texten montierten Prolog als heimatloser preußischer Dichter und geistig unbehauster Kopf seine Kantkrise, beargwöhnt die Verstandeskräfte und hält sein halbes Talent für eine Höllengabe. So ist ihm auf Erden nicht zu helfen.

    Kleists unvollendetes Trauerspiel war ein Wahnsinnsunterfangen: Mehrfach begonnen, aufgegeben, vernichtet, schließlich im Manuskript verbrannt, bevor der Autor es drei Jahre vor seinem Tod rekonstruierte. "Robert Guiskard" blieb Stückwerk: Zehn Auftritte, verteilt auf 20 Seiten Text – mit denen sich die Ruhrfestspiele nicht begnügen. Intendant und Regisseur Hoffmann misstraut dem Wenigen. Und meint, Kleists Entwurf aufmöbeln, mit Pomp und Umständen aufrüsten und permanent Bedeutung suggerieren zu müssen.

    Schrecken und Schauder liegen über dem Schauplatz, dem Feldlager der Normannen vor Konstantinopel. Wir befinden uns im 11. Jahrhundert, inmitten komplizierter Machtverhältnisse zwischen Rom, Byzanz und Kleinasien. Die Pest vergiftet das Belagerungsheer und lässt das Kriegsvolk jammern. Es rottet sich zusammen, gegen seinen Fürsten.

    Auf Stefan Mayers, von gläsernen Seitengängen begrenzter Bühne lodert Feuer in Schalen, um die Pestilenz auszuräuchern. Eine Frau schleppt einen bandagierten Leichnam und hantiert mit einem Benzinkanister. Dumpf metallisch dröhnt es aus dem Nichts. Das Herz der Finsternis schlägt unentwegt. Die letzte Nacht im Führerbunker scheint angebrochen.
    Herzog Guiskard trotzt dem Schicksal. Die Soldaten aber wollen heim ins Reich – ins Vaterland Italien. Helena, Griechenlands entthronte Kaiserin und Guiskards Tochter, sucht die Menge zu beruhigen; dann treten die zwei gegeneinander eifernden Kronprinzen auf.

    Das Pathos des szenischen Aufwandes, stilistische Unentschiedenheit und die Trivialität der Gleichsetzungen von Biografie und Werk stehen der Aufführungsidee, das Drama als offenes Kunstwerk zu behandeln, schwer im Wege. Zelebriert werden Wiederholungen, Doppelungen, Einschübe. Jede Geste eine Illustration, zudem aufdringlich von einer Videokamera ins Riesenhafte vergrößert.

    Die Dramaturgie läuft pfeilgenau auf Guiskards Erscheinen zu, den gerüchteweise schon die Seuche befallen haben soll.

    "Er ist's. Triumph."

    Der Übermensch bändigt seine Leute mit ehernem Willen:

    Guiskard: "Es ist der Red nicht wert, sag ich! Hier diesem alten Scheitel, wisst ihr selbst, hat seiner Haare keins noch wehgetan! Mein Leib ward jeder Krankheit mächtig noch. Und wär's die Pest auch, so versicher ich euch: An diesen Knochen nagt sie selbst sich krank!"

    Expressiv wie in einem Murnau-Melodram wuchtet sich Thomas Thieme als Guiskard ins Zentrum, und zitiert den Terror heiligenden Colonel Kurtz aus Coppolas Vietnam-Film "Apokalypse Now". Eine negative Erlöserfigur, ein Ölgötze und wankendes Idol, Adam Erdenkloß als Projektion von Heilsfantasien.
    Das Scheitern des Lebensplans, die groteske oder grausige, komische oder katastrophale Diskrepanz zwischen Erwartung und tatsächlicher Erfüllung, kennzeichnet Kleists Stücke häufig. Auch den "Guiskard". Aber muss man deshalb Caspar David Friedrichs "Eismeer"-Gemälde als Schlussbild plakatieren? Noch so ein grober Fingerzeig. Mal wieder eine gescheiterte Hoffnung.