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Kieferorthopädie
Gesundheitsökonom: Langfrist-Nutzen von Zahnspangen unklar

3.600 Studien - doch keine einzige belegt den langfristigen Nutzen von Zahnspangen. Das zeigt eine Studie des Gesundheitsökonoms Holger Gothe. Ein Nebenbefund der Studie sei, dass Informationsangebote für Eltern und Patienten fehlten. Sie würden aber "unbedingt gebraucht", sagte Gothe im Dlf.

Holger Gothe im Gespräch mit Ralf Krauter | 09.01.2019
    Patientin beim Einsetzen einer Zahnspange beim Zahnarzt
    Unter "langfristigen Nutzen" falle etwa die Reduktion von Entzündungen oder Zahnausfall, nicht aber die Korrektur der Zahnstellung, sagte Gesundheitsökonom Gothe im Dlf (imageBROKER)
    Ralf Krauter: Vergangene Woche sorgte eine Studie im Auftrag des Gesundheitsministeriums für Wirbel. Es ging um kieferorthopädische Maßnahmen und die Frage, ob Zahnspangen überhaupt was bringen. Und zwar den Patienten und nicht nur den Ärzten, die sie auf Kosten der Krankenkassen verschreiben. Die Gutachter kamen zu dem Schluss, dass ein langfristiger Nutzen nicht belegt ist, was manche Zeitung zu Titeln wie ‚Abzocke mit Zahnspangen‘ verleitete. Florian Schumann mit einem Überblick über die Fakten.
    Bei einer Kassenleistung, die jährlich rund eine Milliarde Euro verschlingt, würde man als Laie eigentlich schon erwarten, dass es klare Belege dafür gibt, dass Zahnspangen wirklich was bringen. Ich habe den Hauptautoren der Studie, Dr. Holger Gothe, Leiter des Bereichs Versorgungsforschung am IGES Institut in Berlin, gefragt, ob auch er überrascht war, wie dünn die Beweislage ist.
    Holger Gothe: Wir waren zunächst mal überrascht, wie viele Studien wir initial gefunden haben. Unsere Aufgabe war ja, in der veröffentlichten wissenschaftlichen Literatur zu schauen, wie viel Evidenz, also wie viel Belege es gibt für den potenziellen Nutzen der Kieferorthopädie. Da hatten wir erst ganz viel gefunden, aber wenn man dann genau hinschaut, welche Studien tatsächlich etwas aussagen, dann ist man überrascht, wie wenig von diesen abertausenden Studien übrigbleibt.
    Wir haben dann letztlich zu unseren beiden Themen, nämlich der Therapie und der Diagnostik, eine unterschiedlich kleine Anzahl an Studien gefunden, die wir eingeschlossen haben in unserer Auswertung, und das hat uns dann tatsächlich überrascht, dass es so wenig waren. Bei der Therapie waren es ungefähr 3.600 Studien, die wir gefunden haben, und davon haben wir dann 18 einschließen können.
    "Veränderung der Zahnstellung ist nicht das langfristige Endergebnis"
    Krauter: Hauptergebnis Ihrer Analyse ist, dass es letztlich kaum Belege für eine langfristige Wirksamkeit einer Zahnspangenbehandlung gibt. Heißt das, ob das Schließen einer Zahnlücke oder die Korrektur einer Fehlstellung dabei hilft, künftigen Zahnverlust durch Karies oder Entzündung vorzubeugen, ist völlig unklar?
    Gothe: Wir haben in der Tat keine Studie gefunden, die einen langfristigen Nutzen belegen würde. Wobei der langfristige Nutzen darin zu sehen ist, dass die Morbidität, also das Ausmaß der Erkrankung im Zahn- und Mundbereich, reduziert wird. Das heißt also konkret, dass beispielsweise der Zahnverlust reduziert wird, dass Entzündungen reduziert werden. Das wären so die medizinischen Indikationen.
    Wenn man sich jetzt die Studien anschaut, dann zerfallen die in zwei Teilmengen. Nämlich die Teilmenge, die sich mit den kürzeren Effekten beschäftigt, das wäre also beispielsweise die Korrektur von Zahnfehlstellungen. Das kann man messen im Laufe der Behandlung, aber auch unmittelbar danach. Das würde man messen mit Indikatoren, und diese Indikatoren sind ja noch nicht das eigentlich erwünschte Endergebnis. Also eine Veränderung der Zahnstellung, eine Korrektur der Zahnfehlstellung ist noch nicht das langfristige Endergebnis, was man im Sinne eines Nutzens anstreben würde. Studien, die nun diesen langfristigen Nutzen untersuchen, die sind in der Tat nicht vorhanden.
    "Nutzen lässt sich nicht belegen mit der vorhandenen Studienlage"
    Krauter: Wenn der langfristige Nutzen einer Kieferkorrektur so unklar ist, wie Sie das jetzt rausgefunden haben, warum fördern die Krankenkassen solche Maßnahmen dann denn schon seit Jahrzehnten? Wären diese Milliarden im Sinne einer evidenzbasierten Medizin und Versorgung nicht anderswo besser eingesetzt?
    Gothe: Also wir haben natürlich uns hier in diesem Kontext nur mit der Kieferorthopädie beschäftigt. Wir haben uns nicht die Frage gestellt, ob man es hier mit einer Fehlallokation zu tun hat, also mit einer Anordnung von Geld oder von Maßnahmen aus einem falschen Gebiet. Sondern wir haben ja uns schwerpunktmäßig mit der Frage beschäftigt, wie der Nutzen der Kieferorthopädie belegt worden ist.
    Die Frage, die Sie stellen, warum solche Interventionen trotzdem gemacht werden und finanziert werden von der gesetzlichen Krankenversicherung, die betrifft, denke ich, nicht nur die Kieferorthopädie. Sondern die betrifft sehr viele medizinische und zahnmedizinische Interventionen, bei denen die ärztliche Erfahrung eine große Rolle spielt, die Erkenntnis, dass die Maßnahmen, die ergriffen werden, durchaus eine Wirkung zeitigen. Dass wir keinen Nutzen gefunden haben auf lange Sicht, heißt ja nicht, dass es diesen Nutzen nicht gibt. Das heißt nur, dass sich der Nutzen nicht belegen lässt mit der vorhandenen Studienlage.
    Krauter: Wie könnte man denn Klarheit gewinnen, wem Zahnspangen langfristig wirklich medizinisch etwas helfen? Welche Art von Studien bräuchten wir, und wer müsste, wer sollte die finanzieren?
    Gothe: Wenn man langfristige Effekte betrachten will, braucht man große Populationen, also viele Probanden, viele Versicherte, bei denen man die Effekte der Intervention über Jahre hinweg beurteilen kann. Charakteristischerweise tut man das mit Studien, die schon lange laufen oder die eine lange Laufzeit a priori haben - Studien beispielsweise im Bereich der Sekundärdaten, also Daten, die bei den Krankenversicherungen oder in anderen Zusammenhängen, beispielsweise in Registern gesammelt werden und dann einer zweiten Nutzung zugeführt werden, indem sie wissenschaftlich ausgewertet werden.
    Der Vorteil solcher Daten ist, dass sie praktisch schon vorhanden sind, dass sie eine große Zahl von Menschen einschließen und dass diese Menschen über lange Jahre beobachtbar sind. Also das wäre eine der Empfehlungen, die man geben kann, um zu diesem langfristigen Nutzen zu gelangen, beziehungsweise zum Beleg desselben.
    Kaum neutrale Informationen über Zahnspangen
    Krauter: Was raten Sie ganz konkret Eltern, bei deren Kindern bzw. Heranwachsenden, so eine Zahnspange im Gespräch ist? Wie können die sich informieren, wie sollten die handeln?
    Gothe: Wir haben sozusagen als Nebenbefund uns auch mit der Frage beschäftigt, wie können sich denn Eltern beispielsweise informieren. Das ist ein bisschen ernüchternd, was wir da gefunden haben. Es gibt nicht allzu viele mögliche Quellen, bei denen eine neutrale Information gegeben wird. Wir sind beispielsweise aufmerksam geworden auf eine Website, die heißt www.kostenfalle-zahn.de, die von der Verbraucherzentrale angeboten wird. Und schon wenn man sich jetzt die Benennung dieser Domain anschaut, dann stellt man ja fest, dass diese Bezeichnung so ein bisschen negativ gefärbt ist. Das heißt, hier geht es schwerpunktmäßig um die Kostenfrage.
    Es gibt Informationsangebote, beispielsweise der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung der Bundeszahnärztekammer, die sich zum Teil mit Kieferorthopädie beschäftigen, die aber nicht sehr spezifisch sind und auch nicht unbedingt sich durch die Art und Weise, wie sie angeboten werden, jetzt dem Laien oder den Eltern erschließt. Also ich würde sagen, man braucht unbedingt für die Eltern - und für die Patienten möglicherweise auch - verdauliche Informationen. Und die fehlen aktuell noch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.