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Kinder als Unglücksbringer

In seinem neuen Roman ist der österreichische Schriftsteller bemüht, alle Register des Mystery- und Thriller-Genres zu ziehen. In "Indigo" spürt ein Pädagoge in einem Internat in der Steiermark eigenartigen Vorgängen nach, die mit dem Verschwinden sogenannter I-Kinder zusammenhängen.

Von Günter Kaindlstorfer | 17.12.2012
    Clemens Setz ist alles andere als unumstritten. Die einen feiern den 29-jährigen Österreicher als literarisches Wunderkind, als raffinierten Postmodernisten, der der deutschsprachigen Literatur neue, pynchoneske Horizonte erschreibe. Die anderen halten den jungen Mann für einen genialischen Schaumschläger, der literarisch noch lange nicht so viel drauf hat, wie eine verblendete Öffentlichkeit sich selbst und dem Autor weismachen möchte.

    Dass er als "Wunderkind" gefeiert und herumgereicht wird, stört Clemens Setz nicht:

    "Mit 29 als Kind bezeichnet zu werden, ist eigentlich sehr schön. Diese Bezeichnung ist ja freundlich gemeint, insofern habe ich keine Probleme damit, ich muss das nicht korrigieren, wie manche Autoren, so wie Harold Brodkey, der, immer wenn er 'Genie' genannt wurde, explodiert ist vor Wut und den Menschen erklären musste, dass sie einen Fehler begehen, wenn sie ihn Genie nennen, das ist eitel. Ich habe kein Bedürfnis, das zu korrigieren."

    Kurzum: Clemens Setz betrachtet sich nicht als eitel: er hat kein Problem damit, als Wunderkind zu gelten.

    Und nun also "Indigo". Der Titel des Romans ist schon mal nicht schlecht. Indigo, das weckt Assoziationen an kostbare Farben und exquisite Stoffe und tropisch-schwüle Nächte, in denen man sich im nostalgischen Parlando alter Duke-Ellington-Nummern auf Hotelterrassen wiegt. Esoterisch angehauchte Geister werden eher an sogenannte "Indigo-Kinder" denken, die in der New-Age-Szene seit geraumer Zeit Furore machen: Diese Kinder, angebliche Vorboten einer spirituell höher stehenden Lebensform, sind in den Augen der New-Age-Gläubigen von einer indigofarbenen Aura umgeben...
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    m Fall des Clemens-Setz-Romans führt die Esoterik-Assoziation auf die richtige Fährte, nur hat der Autor das Ganze ins Spukhaft-Düstere gewendet. Gehen Indigo-Kinder im Verständnis esoterischer Obskurantisten als stolze, hochbegabte Kinderkönige durchs Leben, als rebellische Sympathieträger, die in den Augen Eingeweihter Wohlwollen und Zuneigung auf sich ziehen, sind sie in Clemens Setz' Roman tragische kleine Unheilsbringer: Jeden, der Setz' Indigo-Kindern zu nahe kommt, befallen Übelkeit, Schwindel und heftige Kopfschmerzen.

    "Die Vermutung, dass es so etwas gibt, habe ich schon sehr lange. Ich hab schon als Kind gedacht, dass man durch seine bloße Anwesenheit jemand anderen krankmachen kann. Das ist eine ständige Fantasie, die mich nie losgelassen hat. Ich habe immer wieder gedacht: Vielleicht gibt's so was. Ich weiß ja, dass es unwahrscheinlich ist und wissenschaftlich nicht haltbar. Aber gerade in solchen Einfällen, die aus einem Comic stammen könnten, aus den "Simpsons" zum Beispiel, gerade in solchen Einfällen steckt meiner Ansicht nach viel Potenzial."

    Und Clemens Setz, der von der Comic- und Computerkultur mindestens so sehr beeinflusst ist wie von Thomas Pynchon und Kafka, Clemens Setz hat aus dem mysteryhaften Grundeinfall seines Buchs einen komplexen, vielschichtig verrätselten Roman gemacht, der den kruden Realismus traditionellen Erzählens weit hinter sich lässt. Dass der Autor auf eine lange, zeittypische Sozialisation als pubertierender Nerd zurückblicken kann, hat ihm bei der Arbeit an seinem Roman geholfen.

    "Ja, das stimmt. Ich war ganz und gar Computermensch. Ich bin Tag und Nacht vor dem Computer gesessen: Internetsurfen, Spielen, ein bisschen Programmieren. Ich hab auch immer gedacht, ich werde vielleicht mal ein toller Hacker. Ist ein bisschen peinlich, das zuzugeben, aber die Fantasie war da. Das Talent leider nicht. So war das."

    Clemens Setz bemüht sich, sein Faible für Computerspiele und die Untiefen der Comickultur auch literarisch fruchtbar zu machen. Dem verdankt sich eine unübersehbare Vorliebe für die surreale Groteske.

    "Das ist witzig. Gerade in der deutschen Literatur ist dieses Gebiet noch vollkommen unabgegrast. In der amerikanischen Literatur ist das häufiger, da gibt's schon Autoren, die zum Beispiel sprechende Hunde vorkommen lassen. In Thomas Pynchons Roman 'Mason & Dixon' zum Beispiel tritt tatsächlich ein sprechender Hund auf, und dieses Kapitel ist eines der herrlichsten Prosastücke der Weltliteratur. Das ist eben meine Leidenschaft: solche Einfälle in meine Texte einzubauen, die aufs erste Hinschauen Cartoonhaft wirken, sagen wir's einmal so."

    Clemens Setz hat sich auch selbst "eingebaut" in seinen Roman. Ein Mathematik-Lehrer namens Clemens Setz, so will es Clemens Setz, wird als Praktikant in ein rätselhaftes Internat in der Steiermark geschickt. In "Helianau", so der Name des Instituts, werden Kinder mit "Indigo-Syndrom" interniert:

    "Ich bin oft mit dem Zug an der Helianau vorbeigefahren, an diesem mächtigen Gebäude, das direkt aus einem Berghang zu wachsen scheint. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Bäume, die das Anwesen umstehen, und den Efeu, der es in Teilen bewächst. An sonnigen Tagen blitzen von einem bestimmten Punkt aus alle Fenster zugleich auf – als finde eine Explosion in seinem Inneren statt."

    In dieses Institut wird Clemens Setz, der Romanprotagonist, geschickt. Hier beginnt der Nachwuchs-Pädagoge eigenartigen Vorgängen nachzuspüren, die mit dem rätselhaften Verschwinden sogenannter I-Kinder zusammenhängen.

    Wie schon in seinem letzten Buch, dem Erzählband "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes", zeigt sich Setz auch in seinem jüngsten Buch vom Topos der Gewalt und von bizarren Grausamkeits-Fantasien fasziniert. Dabei verfolge er keine gesellschaftskritisch-analytische Absicht, erklärt der Autor:

    "Eigentlich hab ich keine Agenda beim Schreiben. Ich schreibe Sachen auf, um sie zu erleben und zu sehen, damit sie sich wirklicher anfühlen als in meinem Kopf. Ich hab kein Bedürfnis, ein theoretisches Problem wie 'Gewalt in der Gesellschaft' zu untersuchen. Dass das aber doch gemacht wird, ist auch nicht zu leugnen. Aber es ist nicht mein Bedürfnis. Mein Bedürfnis ist ein sinnlicheres. Ich möchte etwas erleben, ich möchte einer Angst von mir auf den Grund gehen oder so, oder gewisse Kurzschluss-Reaktionen untersuchen: Warum habe ich zum Beispiel manchmal das Bedürfnis, jemanden sofort umzubringen? Wenn ich irgendwas Schlimmes im Fernsehen sehe, keine Ahnung: Jemand sperrt einen Menschen im Keller ein, dann möchte ich den sofort umbringen, und dann will ich wissen, was steckt da eigentlich dahinter?"

    Ob Clemens Setz eine Antwort für sich gefunden hat? Den Leser jedenfalls befriedigt sein Roman nur bedingt. Zwar hat der Autor fleißig Thriller-Spuren ausgelegt in seinem metafiktionalen Text, zwar wirbelt er Fakten und Fiction in streckenweise virtuoser Manier durcheinander, zwar amüsiert man sich dann und wann auch prächtig über gelehrte Anspielungen, auf Johann Peter Hebel beispielsweise, aber das Ganze krankt, trotz geglückter Einzelpassagen dann und wann, doch an den alten Clemens-Setz-Schwächen: Szenen und Dialoge bleiben inhaltlich und atmosphärisch dünn, eine selbstverliebte Virtuosität verdeckt die existenzielle Flachheit des Ganzen, und letztlich beginnt man sich im Dschungel ironischer Vexierspiele und popkultureller Verweis-Exzesse auch verhältnismäßig rasch zu langweilen.

    Clemens Setz ist 29, ein begabter Autor und Verrätsler, zweifellos. Von der Meisterschaft der wirklich großen Verrätsler in der Literatur – Julio Cortázar, Thomas Pynchon, Antonio Tabucchi – ist der junge Mann allerdings noch ein gutes Stück entfernt.

    Clemens Setz: Indigo.
    Roman
    Suhrkamp-Verlag, Berlin, 475 Seiten, 22,95 Euro