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Kinder mit Aufmerksamkeitsstörung profitieren von Behandlung

Es gibt kaum eine Grundschulklasse mehr ohne ein Kind mit der Aufmerksamkeitsstörung ADHS. Fünf Prozent der Kinder sollen betroffen sein, sagen Experten. Allerdings leiden nicht alle Kinder, die dauernd den Unterricht stören, an ADHS. Eine sichere Diagnose kann nur ein Fachmann stellen.

Von Hellmuth Nordwig | 13.12.2011
    Wenn ein Grundschulkind drei Mal im Jahr in die Unfallchirurgie eingeliefert wird; wenn in der Familie niemand richtig schlafen kann, weil das Kind die ganze Nacht herumturnt; wenn Unterricht wegen des Zappelphilipps kaum möglich ist – dann ist die Diagnose ziemlich sicher: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom, kurz ADHS. Mindestens jedes zwanzigste Kind soll betroffen sein, sagt Martin Schmidt, bis vor Kurzem Kinder- und Jugendpsychiater am Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit.

    "Eine echte Zunahme ist nicht zu registrieren. Wir haben mehr Bewusstsein für die Störung und deswegen auch bessere Diagnosen und Inanspruchnahme von Hilfe. Der Leidensdruck hängt natürlich ab von den Erwartungen der Eltern und der Umgebung."

    ... ergänzt Berthold Koletzko, der die Kinderklinik der Universität München leitet.

    "Wenn ich eine Familie habe, wo beide Eltern berufstätig sind, wo beide eine gute Ausbildung haben: Die erwarten, dass ihr Kind auch "funktioniert" und einen unkomplizierten Schulweg geht bis zum Abitur – dann ist natürlich der Leidensdruck bei einer Verhaltensauffälligkeit viel größer. Und das führt vielleicht auch zu einer anderen Wahrnehmung des Problems als in einer Situation, wo mehr Großzügigkeit besteht für Auffälligkeiten wie Unaufmerksamkeit."

    Allerdings leiden nicht alle Kinder, die dauernd den Unterricht stören, an ADHS. Eine sichere Diagnose kann nur ein Fachmann stellen: ein Kinderpsychiater oder ein entsprechend spezialisierter Kinderarzt. Nur wenn Unaufmerksamkeit und Überaktivität zusammen auftreten und nicht kontrolliert werden können, liegt ADHS vor. Leider gibt es keinen Bluttest, denn die Störung hat mit Veränderungen im Gehirnstoffwechsel zu tun. Wie sie entsteht, darüber rätseln die Experten noch – die Gene haben zumindest einen Einfluss, soviel ist sicher. Vor Kurzem haben Forscher gezeigt, dass es auch einen Zusammenhang mit Neurodermitis gibt: Kinder, die an dieser Allergie leiden, entwickeln häufiger ADHS, sagt Berthold Koletzko.

    "Das sind sehr spannende Beobachtungen, die zeigen, dass es hier eine Assoziation gibt, die es nicht gibt mit anderen allergischen Erkrankungen. Und die Fragen, die sich jetzt stellen: Ist das alles ein klassisches ADHS oder verbergen sich dahinter auch Kinder, die durch permanenten Juckreiz und den Leidensdruck, der daraus entsteht, Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren, und auch vermehrte Unruhe und Schlafstörungen haben, weil auch nachts der Juckreiz besteht?"

    Die Behandlung von ADHS stützt sich auf zwei Säulen: die Verhaltenstherapie, die kurzfristige Erfolge bringen kann, und Medikamente wie Methylphenidat, besser bekannt unter seinem Handelsnamen Ritalin. Es wirkt bei drei von vier Kindern – vorausgesetzt, die Diagnose ADHS ist zuverlässig gestellt worden. Dennoch wird häufig Kritik daran geübt, dass die Kinder sozusagen verträglich für Schule und Familie gemacht werden – durch Tabletten, die nicht selten von Gesunden zur Leistungssteigerung missbraucht werden und deshalb dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen. Viele betroffene Eltern können die Vorwürfe allerdings nicht akzeptieren. Nicht nur, weil der Schulerfolg ihres Kindes ausbleibt.

    "Zum anderen auch, weil eine Reihe von sekundären Risiken auftreten: gehäuft Unfälle, Drogenmissbrauch, kriminelle Aktivitäten, Frühschwangerschaft und eine Reihe von anderen Folgen, die auftreten können. Und nicht zuletzt, dass bei einem Drittel der Betroffenen auch im Erwachsenenalter erhebliche Auffälligkeiten bestehen bleiben."

    Unbehandelt bleiben ADHS-Kinder oft isoliert, weil sie für ihre Umgebung nur schwer auszuhalten sind. Schon das sollte Grund genug sein, mit einem auffälligen Kind einen Fachmann aufzusuchen.