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Kinder- und Jugendliteratur
Wo sind sie geblieben?

Den "Kleinen Maulwurf" des tschechischen Illustrators Zdeněk Miler kennt wohl noch jeder. Ansonsten hat es Kinder- und Jugendliteratur aus Osteuropa in den vergangenen Jahren aber schwer gehabt in Deutschland. Eine Spurensuche.

Von Siggi Seuß | 23.11.2013
    "Mein Name ist Susan Struppert und ich bin Inhaberin des Kinderbuchladens Serifee in Leipzig in der Südvorstadt. Ich blättere meine Bücher durch, um rauszufinden, wo ein russischer Autor oder Illustrator dabei ist. Ich habe auch was im Kopf. Ich weiß, dass ich die auch schon da hatte. Ich glaub im Jugendbuch findmer dann nix. Könntmer aber mal gucken. Vielleicht. - Und dann haben wir noch – Tschechen. Naja, klar, den "Kleinen Maulwurf", den haben wir da."
    Dieses freundliche Geschöpf findet man nahezu überall in den Regalen der Buchhandlungen. Es wird von Jung und Alt seit Jahrzehnten geliebt. Der Kleine Maulwurf des tschechischen Illustrators Zdeněk Miler steht stellvertretend für die Wertschätzung, die die traditionelle osteuropäische Illustrations- und Erzählkunst für Kinder und Jugendliche hierzulande erfahren hat. Der Maulwurf neigt zur Unsterblichkeit. Aber was ist mit dem Rest des Erbes?
    Die Illustratoren Zdeněk Miler, Adolf Born, Karel Franta, Květa Pacovská, der polnische Lyriker Julian Tuwim, der russische Schriftsteller Samuil Marschak, der Fantasyautor Alexander Wolkow, die böhmischen Geschichtenerzähler Miloš Macourek und Jindřich Polák - das sind nur einige Künstler, die dafür sorgten, dass wir unsere täglichen Strategien der Krisenbewältigung um eine tschechische, polnische, ja auch russische Note erweitern konnten. Sie prägten einen Erzähl- und Illustrationsstil, in dem sich viele eigenständige und eigenartige Elemente zusammenfanden: Liebenswürdige Folklore, schräge Gestalten, absurde Situationen, hintergründiger Humor, subversiver Witz, schwejksche Schlauheit, augenzwinkernde Betrachtung des Alltags, fantastische Eskapaden, lyrische Sprachspielerei und avantgardistische Experimentierfreude. - Damit wurde die osteuropäische Kinder- und Jugendliteratur der 1950er- bis 1980er Jahre zu einem Refugium von Widerspenstigen in einem Meer aus realsozialistischer Nüchternheit.
    Sind wir inzwischen völlig im Bann westlicher, vor allem amerikanischer Erzählmuster?
    Doch was kommt danach? Seit Beginn der 2000er Jahre ist bei den Verlagen hierzulande eine vornehme Zurückhaltung gegenüber neuerer Kinder- und Jugendliteratur aus osteuropäischen Ländern zu spüren. Hat diese Literatur in einer veränderten, globalisierten Welt keine Heimat mehr? Oder gibt es etwa in jenen Ländern keine jüngere Generation, die das Erbe bewahrt und gleichzeitig neue Geschichten erzählt, die auch im Westen Gehör finden könnten? Sind wir inzwischen völlig im Bann westlicher, vor allem amerikanischer Erzählmuster?
    Adam Jaromir, Verleger, Übersetzer, Autor, Mitbegründer des kleinen Gimpel Verlags in Hannover, der sich auf polnische Kinder- und Jugendliteratur spezialisiert hat, Adam Jaromir klagt:
    Einige Autoren sind plötzlich nicht mehr gefragt
    Einige Autoren sind plötzlich nicht mehr gefragt (picture alliance / dpa / Angelika Warmuth)
    Jaromir: "Es ist eine traurige Geschichte, denn wenn man sich, zum Beispiel, den Weg Jozef Wilkons anschaut, der in Deutschland unzählige Bücher publizierte, über Jahre hinweg, und nun praktisch von der Bildfläche verschwunden ist - es gibt noch hier und da ein paar Ausgaben seiner alten Bücher, aber er ist plötzlich nicht mehr so gefragt auf dem deutschsprachigen Raum wie in seiner Heimat."
    Helga Preugschat, Lektorin bei S.Fischer, Expertin für osteuropäische Kinder- und Jugendliteratur:
    Preugschat: "Also, ich find's schade, dass wir so wenige Bücher aus dem osteuropäischen Raum haben. Ich denke einfach so, diese Erzähltradition ist eine andere als die amerikanische und vielleicht hat das auch ein bisschen damit zu tun, dass wir uns so sehr an das Erzählen, an dieses gradlinige, an dieses ganz stringente Erzählen inzwischen schon so gewöhnt haben und dass uns dieses Abschweifende und dieser hintergründige Humor, zum Teil, etwas befremden, vielleicht."
    Eva Kutter, Programmleiterin Kinder- und Jugendbuch bei S.Fischer in Frankfurt:
    Kutter: "Ich glaube, dafür gibt’s natürlich verschiedene Gründe und ich kann mich ja selber auch noch gut dran erinnern, wie ich als junges Mädchen die ganzen tschechischen Märchenfilme gesehen habe, und Lolek und Bolek und so weiter, also alle diese Figuren. Und der Kleine Maulwurf - die sind mir alle sehr vertraut, aus dem Fernsehen, aber auch aus den Büchern. Und das ist natürlich ne berechtigte Frage: Wo sind die eigentlich geblieben? Und warum scheint es da jetzt so'n Cut gegeben zu haben, dass das aufgehört hat? - Und wir müssen natürlich gucken, was erwartet das Publikum, was hat 'ne Chance auf Erfolg? Und da ist es einfach so, dass tatsächlich inzwischen der Geschmack, was Erzählstrukturen und Erzähltempi und auch Orte und Handlungen angeht, sich das gesamte Interesse nach Amerika, nach England ausrichtet."
    Nun scheinen sich auch in der Kinder- und Jugendliteratur einige Türen zu öffnen
    Katja Wiebe, Lektorin für osteuropäische Kinder- und Jugendliteratur an der Internationalen Jugendbibliothek in München. Sie berät zudem die Robert-Bosch-Stiftung im Förderprogramm "ViVaVostok" für Kinder- und Jugendbücher aus Osteuropa:
    Wiebe: "Und da kann ich den deutschen Verleger schon hören: „Ich weiß gar nicht, wie ich das bei mir platzieren soll. Was ist das denn?“ Vielleicht, weil's doch ein Wagnis ist und ich weiß nicht, wie das ist für einen Verlag, jemand völlig Unbekanntes auf einmal zu promoten, zu bewerben. Zumal aus der Terra Incognita Osteuropa, wo's vermeintlich ja nichts gibt. Ich suche ja nach den Gründen und - sicherlich: es gibt da Länder, die sind noch in der Entwicklungsphase. Aber gerade eben bei den Polen könnte durchaus viel mehr hierher kommen."
    Nun scheinen sich auch in der Kinder- und Jugendliteratur einige Türen zu öffnen
    Nun scheinen sich auch in der Kinder- und Jugendliteratur einige Türen zu öffnen (Jan-Martin Altgeld)
    Sieht man von den Publikationen des auf Tradition und Ost-Nostalgie bedachten Programms des Leipziger leiV-Verlags ab, gibt es in den Verlagen zwar gelegentlich bemerkenswerte - auch preisgekrönte - Publikationen osteuropäischer Autoren und Illustratoren, aber von einem stabilen Programmsegment kann keine Rede sein. - Wie kommt das? Gibt es keine talentierten jüngeren Autoren und Illustratoren in jenen Ländern? Oder gibt es ganz andere Gründe für die Zurückhaltung? - Wir haben kompetente Stimmen gesammelt, die dem Klischee lebhaft widersprechen, es gäbe zu wenig gute Kinderliteratur aus Osteuropa. Im Belletristikbereich ist man schon längst vom Gegenteil überzeugt. Nun scheinen sich auch in der Kinder- und Jugendliteratur einige Türen zu öffnen, mehr noch bei kleinen Verlagen als bei großen.
    Wiebe: "Mit der Wende nach 89 sind natürlich die Buchmärkte drüben zusammengebrochen. Und dieses System, dass Staatsverlage den Buchmarkt bespielen und da natürlich auch den Kinderbuchmarkt, das gab es ja dann nicht mehr. Und überhaupt – dass sich diese neuen Kinderbuchmärkte wieder jetzt – völlig neu entwickeln mussten, in Eigenregie, mehr oder weniger, das braucht natürlich Zeit. Und da ist natürlich erstmal nicht viel gewesen.
    Die Sprachhürde ist wirklich ein großes Problem für die deutschen Verleger
    Und es gibt eine Handvoll an kleinen, neu gegründeten Kinderbuchverlagen, so seit sieben, acht Jahren, würd ich sagen, die auf eine andere Produktion setzen. Und die sind sehr klein und müssen erstmal innerhalb ihres eigenen Landes Fuß fassen und versuchen, neue Autoren dort zu etablieren. Und gucken dann natürlich erst ins Ausland."
    Kutter: "Ein großes Problem sind die mangelnden Sprachkenntnisse. Insofern haben wir erstmal das Problem, dass wir angewiesen sind auf Ratschläge von Außenstehenden, die hier nicht arbeiten, sondern die als Übersetzer tätig sind und/oder als Kulturschaffende oder eben auch als Agenten, und uns erstmal versuchen müssen - in ihren eigenen Worten - Informationen über das Buch zu geben."
    Wiebe: "Ja, die Sprachhürde ist natürlich wirklich ein großes Problem für die deutschen Verleger, die natürlich nicht unbedingt polnisch oder slowenisch oder ukrainisch können. Die müssen ja eigentlich auf Übersetzer hören und auf deren Votum. Andererseits befindet sich der Übersetzer in so ner zwiespältigen Rolle, weil natürlich er auch die eigene Position immer mitvertritt."
    Kaum Kenntnis, wie man in Deutschland ein Buch an den Markt bringen müsste
    Kaum Kenntnis, wie man in Deutschland ein Buch an den Markt bringen müsste (picture alliance / dpa / Jan Woitas)
    Thomas Weiler, Übersetzer aus dem Polnischen, Russischen und Belarussischen:
    "Das ist eines der Probleme: Dass ich eigentlich Übersetzer bin, aber auch diese Agentenrolle mitspielen muss. In der Kinderliteratur sowieso. Dass aber alles irgendwie nebenher passieren muss und natürlich nicht honoriert wird und zeitaufwendig ist."
    Wiebe: "Das ist ein Problem innerhalb der Länder, dass die Netzwerke und Strukturen einfach noch nicht so ausgeprägt sind oder dass sie einfach anders laufen als bei uns, dass die Märkte anders strukturiert sind und dann vielfach gar nicht die Kenntnis da ist, wie man in Deutschland ein Buch an den Markt bringen müsste."
    Wenn der Funke nicht so richtig springt, dann zündet auch nichts
    Kutter: "Wir haben mit vielen angelsächsischen und anderen westeuropäischen Verlagen auf den Buchmessen regelmäßige Kontakte. Tatsächlich vernachlässigen wir – muss ich ganz offen gestehen – diesen osteuropäischen Bereich doch sehr und pflegen gar nicht so diese engen Kontakte. - Man könnte sich auch für den osteuropäischen Raum ein ähnliches System ausdenken, wie wir es in England und Amerika haben, mit Scouts, die wir bezahlen, dafür, dass sie uns informieren über das, was dort passiert. Das ist aber natürlich ein sehr teures Verfahren und muss sich auszahlen in großen wirtschaftlichen Erfolgen, die das dann rückfinanzieren. Ich glaube, die Verlage zögern ein wenig, da zu investieren, weil sie nicht sicher sein können, dass tatsächlich große Erfolge so durchsetzen, dass sich das wirklich lohnen würde."
    Markus Weber vom kleinen Moritz Verlag, der bereits vor einiger Zeit die neue polnische Illustrationskunst für sich entdeckt hat:
    Markus Weber: "Und die Marketingabteilungen haben oftmals das letzte Wort. Und wenn der Funke zwischen Lektor und dieser Abteilung nicht so richtig springt, dann zündet auch nichts, und dann wird dieses Buch auch nicht gemacht. Oder es wird einzig und allein aus Imagegründen gemacht, weil man ja hin und wieder auch Titel im Programm haben muss, die gewissen Leuchtturmfunktionen haben."
    Der Ausruf "Das muss ich unbedingt machen" scheint in jüngster Zeit häufiger geäußert worden zu sein, vor allem in zwei kleinen Verlagen. Außerdem mehren sich die Zufälle in den vergangenen Jahren auffällig. Und es ist bestimmt kein Zufall, dass die Bücher osteuropäischer Autoren und Illustratoren, die bei uns auf den Markt kommen, gemessen an ihrer geringen Zahl, überdurchschnittlich viele Preise und lobende Kritiken einheimsen.
    Kontakte zu Verlagen gibt es manchmal nur zufällig
    Kontakte zu Verlagen gibt es manchmal nur zufällig (picture alliance / dpa)
    Irgendwie glaubt man da nicht mehr so richtig an "Zufälle“
    Der Debütroman der Polin Dorota Masłowska, "Schneeweiß und Russenrot“, hat vor einigen Jahren den Deuschen Jugendliteraturpreis erhalten. Iwona Chmielewskas außergewöhnliches Bilderbuch über Janusz Korczaks Waisenhaus, "Blumkas Tagebuch“, schaffte es im vergangenen Jahr auf die Liste der Nominierten. Das Bilderbuch "Fantje“ von Adam Jaromir und Gabriela Cichowska wurde beim Bologna Ragazzi Award in die Liste der schönsten Bilderbücher des Jahres 2012 aufgenommen. Zweimal bereits hat die polnische Illustratorin Marta Ignerska den weltweit renommiertesten Bilderbuchpreis gewonnen. Im Herbst erscheint ihr jüngstes Preisbuch "Die Ton-Angeber“. Iva Prochazkovás Roman "Orangentage" erhielt den ZEIT Luchs des Jahres. Anna Vovsovás Jugendroman "Josef und Li" wurde vor zwei Jahren von der deutschen Kritik wohlwollend besprochen. Der russische Fantasy- und Science-Fiction-Autor Sergej Lukjanenko ist mit "Trix Sollier" erfolgreich. "Die wilden Piroggenpiraten" des Letten Maris Putninš sind für den diesjährigen Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Und schließlich hat der kleine Moritz Verlag mit den Büchern des polnischen Illustratorenpaars Mizieliński im Gefolge des mehrfach preisgekrönten Sachbilderbuchs "Treppe. Fenster. Klo." den Vogel abgeschossen. Irgendwie glaubt man da nicht mehr so richtig an "Zufälle“, auch wenn Markus Weber Abenteuerliches über die Kontakte nach Polen zu erzählen weiß:
    Weber: "Es kam damit zustande, dass ich eine Mail nicht weggeklickt habe, die eigentlich jeder wegklickt. Auf dieser Mail stand im Betreff "Invitation“. Normalerweise gibt’s dann Viagra oder irgendwas in dieser Art. Ich hab die E-Mail geöffnet und dann kam in der Tat eine Einladung, eine ganz ernst gemeinte Einladung vom Polnischen Buchinstitut aus Krakau, die sich gewandt hat an europäische Kinderbuchlektoren, mit dem Zweck, diese mit der polnischen Literatur für Kinder und der Illustration in Polen bekanntzumachen. Das war dann eine Reise nach Krakau, die wunderbar organisiert war. Auf dieser Reise wurden wir nun zusammengesetzt mit kleinen Verlagen, die uns in 45 Minuten ihre Programme vorgestellt haben. Und da war eben dieses Architekturbuch dabei, auf polnisch. Ich hab nichts verstanden, aber ich hab'n paar Bilder gesehen und ich hab auch keine Ahnung von Architektur und dachte aber: „Das könnte was sein.“ Und das wurde dann eben auch etwas."
    Ich möchte, dass Bücher so erscheinen, wie ich mir sie erträumt habe
    Im Herbst wird im Moritz Verlag von den Mizielińkis ein neues Buch erscheinen, "Alle Welt", ein Landkartenbuch, das völlig aus dem Rahmen des Gewohnten fällt. - Aber auch der Gimpel Verlag von Adam Jaromir bringt im Herbst ein spektakuläres Buch heraus, eine Art Graphic Novel vom Feinsten, mit viel Text und einem hervorragenden künstlerischen Design, "Fräulein Esthers letzte Vorstellung".
    Jaromir: Ein weiteres Buch zu Bei meinem Buch, das ich jetzt rausbringen durfte, geht es um die Geschichte und das Ende von diesem Waisenhaus und die letzten drei Monate im Warschauer Getto. Es ist ein Buch, in dessen Mittelpunkt eigentlich die unbekannten, namenlosen Kinder und Erzieher dieses Waisenhauses stehen. Ich hab dieses Buch gemeinsam mit der Gabriela Cichowska gestaltet - das ist eine sehr talentierte junge Künstlerin, die in Krakau an der Akademie der Schönen Künste studiert hat.
    Ein außergewöhnlich ästhetisches Buch, ein hervorragendes Beispiel der Verbindung von Tradition und Moderne in der polnischen Buchkunst, aber:
    Jaromir: "Das ist ein völlig unökonomisches Buch. Es war eine Herzensangelegenheit. Ich bin ein Querkopf - immer schon gewesen. Ich hab festgestellt, dass ich auch gerne grade künstlerische Prozesse kontrollieren möchte. Ich möchte, dass die Bücher am Ende so erscheinen, wie ich mir sie erträumt habe. Und diese Fähigkeiten, die man fürs Marketing braucht, die hab ich immer versucht irgendwie wegzuschieben. Jetzt merk ich, dass das das A und O eines Verlages ist und dass ich das in einer Art Crashkurs nachholen muss."
    "Die Sockenfresser": In Tschechien mittlerweile ein moderner Kinderbuchklassiker
    Vorläufige Bilanz: Von einem etablierten Programmsegment „Osteuropäische Kinder- und Jugendliteratur“ kann hierzulande im Augenblick nicht die Rede sein, sieht man von dem kleinen, noch nicht besonders ökonomisch arbeitenden Gimpel Verlag ab. Aber es gibt - angeregt durch einzelne Lektoren in größeren Verlagen - wie bei S.Fischer -, durch Spürnasen wie Katja Wiebe, Adam Jaromir und Markus Weber und Übersetzer wie Thomas Weiler oder Andreas Tretner, die sich notgedrungen auch als Scouts und Gutachter verdingen müssen -, es gibt gute Nachrichten. Türen öffnen sich, nicht zuletzt dank internationaler Würdigungen, durch Förderprogramme wie "ViVaVostok", Internetportale für belarussische oder ukrainische Literatur, es gibt also gute Nachrichten, auch durch bessere Vertriebsstrukturen in den Ländern, vor allem in Polen, und immer wieder: durch die Courage Einzelner. Und es gibt Kinder- und Jugendromane osteuropäischer Autoren, die schon längst ihren Weg nach Deutschland gefunden haben müssten.
    Wiebe: Es gibt in Tschechien seit Jahren auch ein Kinderbuch, das heißt übersetzt soviel wie "Die Sockenfresser". Das ist in Tschechien mittlerweile ein moderner Kinderbuchklassiker. Es gibt jetzt gerade den dritten Teil. Ein wahnsinnig erfolgreiches Kinderbuch. Da gibt es tatsächlich auch ein richtiges Merchandising, was sehr ungewöhnlich ist, mit Puzzlespielen und Plüschfiguren. Und das Buch ist aber auch literarisch sehr witzig und gut und in Tschechien kennt fast jedes Kind die Protagonisten aus diesem Titel. Und da frag ich mich: Warum schafft es dieser Titel nicht nach Deutschland? Er hat es nach Polen geschafft, nach Kroatien. Warum nicht zu uns?
    Weiler: Warum das in Deutschland noch keiner wahrgenommen hat: Grigori Oster ist der Name - supererfolgreich gewesen schon in den 90ern in Russland. Hat mehrere Bände immer im selben Stil geschrieben, ja, mit metrischen Versen, die nicht gereimt sind und böse Ratschläge für Kinder enthalten. Antipädagogisch - er schreibt halt, was man alles Schlimme anstellen könnte. Er schreibt halt - was ich finde - eigentlich sehr nah an Kinderdenken. Man hat irgendeine Situation und überlegt sich dann: Was könnt ich draus machen?
    Richtig fiese Texte, in Russland wahnsinnig erfolgreich
    Auch, wer grade aus dem zweiten Stockwerk seiner Schule fliegt / sollte noch in allen Fächern völlig auf der Höhe sein. / Niemand ist zur Unterbrechung seines Bildungswegs befugt, / nur nicht faul und flugs im Fallen alle Fälle wiederholt.
    Weiler: "Richtig fiese Texte, waren in Russland wahnsinnig erfolgreich oder ist es auch noch. Ist dann in Serie gegangen und hat sich inzwischen ein bisschen erschöpft, weil er immer nach demselben Muster arbeitet. - Und ich weiß es auch schon von Kollegen, die hausieren gegangen sind mit diesen Texten und irgendwie zündet das nicht im Deutschen. Vielleicht hängt das auch an den Illustrationen. Aber da ließe sich ja auch jemand anders finden."
    Osteuropäische Bücher haben es schwer
    Osteuropäische Bücher haben es schwer (picture alliance / dpa /Boris Roessler)
    Wiebe: "Es gibt, zum Beispiel, aus Russland einen jungen Autor, Eduard Verkin, der hat im vergangenen Jahr ein Buch rausgebracht über russische Jugendliche in der Provinz. Das heißt, die sitzen nicht in Moskau oder Petersburg, sondern irgendwo in der russischen Pampa. Und wie das Leben dort, zum Teil ohne Elektrizität, stattfinden muss – und auf der anderen Seite dann die reichen Moskauer auf ihre Datscha rausfahren und dann eben mit Smartphone, Computer und sowas in diese vermeintliche Wildnis eindringen – was das für eine Sehnsucht auslöst – das ist eine ganz spannende Reibungsfläche, die in dem Buch zumindest vorhanden ist. Es ist nicht übersetzt."
    Liebenswürdige Folklore, schräge Gestalten, absurde Situationen
    Weiler: "Das ist eigentlich 'ne Serie, auch aus 'nem kleinen Verlag, mit Anti-Handbücher. Die haben ein Buch gemacht mit Professor und Assistent, die bestimmte Alltagsgegenstände untersuchen und erforschen, wofür sie nicht zu gebrauchen sind. Und der erste Band ist eben der zum 'Hammer', wo sie verschiedene Bereiche unter die Lupe nehmen und eben feststellen: Der Hammer ist nicht zum Zähneputzen zu gebrauchen."
    "Wir haben im Alltag mit den unterschiedlichsten Gegenständen zu tun. Die meisten davon sollen uns das Leben erleichtern. Um aber Verzweiflung, Depression oder Wutanfällen vorzubeugen, ist es nützlich zu wissen, wozu der jeweilige Gegenstand nicht taugt. Und wir hoffen, dass dieses Buch in dieser Frage von Nutzen sein kann.“ - "Also, ich find's grandios!"
    Und wir hoffen, dass dieses Buch und viele andere Bücher für junge Leser, dass Bildergeschichten, Erzählungen und Romane aus Osteuropa eines nicht mehr allzu fernen Tages nicht nur von Nutzen sind, sondern eine feste Größe in den deutschen Kinder- und Jugendbuchverlagen. Und dass jene Eigenschaften der osteuropäischen Kunst des Erzählens, die wir und unsere Kinder noch vor zwei Jahrzehnten liebten, auch unter veränderten Bedingungen ihre Gültigkeit nicht verloren haben: Liebenswürdige Folklore, schräge Gestalten, absurde Situationen, hintergründiger Humor, subversiver Witz, schwejksche Schlauheit, fantastische Eskapaden, lyrische Sprachspielerei und avantgardistische Experimentierfreude. Und - nicht zu vergessen - Augenzwinkern!