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Kinderarmut in Deutschland

Kinderarmut in Deutschland: lange Zeit wurde sie offiziell totgeschwiegen. Doch es gibt sie, und sie ist weit verbreitet, obwohl auf den ersten Blick nicht sichtbar. Hungerleidende Straßenkinder, wie in der Dritten Welt, leben in Deutschland nicht. Auch laufen die wenigsten mit zerrissenen Kleidern herum. Fast alle armen Kinder hierzulande haben ein Dach über dem Kopf und meist genug zu essen. Aber - in einer sozial schwachen Familie aufzuwachsen, heißt für die betroffenen Kinder: Benachteiligung in allen Lebensbereichen, Unterversorgung bei Bildung und Gesundheit, soziale Ausgrenzung.

Von Annamaria Sigrist | 26.12.2003
    Die jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen: In Deutschland leben über 1,1 Millionen Kinder von Sozialhilfe und damit in Armut. Jedes 15. Kind also. Ihm stehen im Durchschnitt etwa 150 Euro pro Monat zum Leben zur Verfügung. Die meisten dieser Kinder - mehr als die Hälfte - wachsen in Haushalten von Alleinerziehenden auf.

    Professor Christoph Butterwegge, Leiter der Abteilung Politikwissenschaft an der Universität Köln und Mit-Autor der Bücher "Armut und Kindheit" und "Kinderarmut und Generationengerechtigkeit", geht sogar von einer weitaus größeren Zahl aus.

    Es gibt eine hohe Dunkelziffer: also Menschen, die entweder nicht genügend Informationen haben, dass sie Sozialhilfe beantragen können oder die sich schämen Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. D.h. die Zahl der Armen ist eigentlich größer, als die Zahl derjenigen, die statistisch erfasst sind und von den Sozialämtern auch tatsächlich Sozialhilfe beziehen. Die Armutsforscher gehen davon aus, dass etwa 2 bis 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik als arm zu bezeichnen sind.

    Die Diplompädagogin Tina Laux, Mitarbeiterin beim Diakonischen Werk in Bonn, ist Leiterin von zwei Stadtteilbüros in sozialen Brennpunkten. Hier berät sie Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen in Not geraten sind. Täglich hat sie mit Familien zu tun, die ausschließlich von Sozialhilfe leben. Sie begegnet der Kinderarmut täglich und hautnah.

    Man kann die Armut der Kinder nicht von der Armut der Eltern trennen, das ist miteinander verbunden. Die Kinder sind deshalb arm, weil die Eltern es sind.

    Soziale Brennpunkte wie in Bonn-Tannenbusch oder Bonn-Dransdorf gibt es unzählige in Deutschland. Hochhaussiedlungen, in denen Sozialhilfeempfänger, kinderreiche Familien, Geringverdiener und viele Migranten leben. Es sind Ghettos. Das Lebensumfeld ist hässlich, es gibt kaum Spielfläche für Kinder. Die häuslichen Verhältnisse sind meist extrem beengt. Tina Laux:

    Da leben sechs Leute in drei Zimmern, oder acht in zwei Zimmern. Also da gibt es ganz unterschiedliche Wohnbedingungen, die aber in der Regel immer beengt sind. Ich habe eine Familie in Beratung, bzw. eine Mutter von sieben Kindern, deren Mann zurzeit in Haft ist und sie ist alleine für die Erziehung dieser 7 Kinder verantwortlich. Die Familie ist jetzt umgezogen. Sie haben aber vorher in einer drei Zimmer-Wohnung gewohnt, wo sich die Kinder gestapelt haben. Dann kann man sich natürlich vorstellen, da sind auch Schulkinder dabei, dass die wenig Möglichkeiten haben, in Ruhe ihre Hausaufgaben zu erledigen. Die Frau ist völlig überlastet mit den 7 Kindern aber auf drei Zimmern da den Alltag zu bewältigen, und das auch noch ausschließlich von Sozialhilfe und Kindergeld, das ist ziemlich problematisch.
    Kinder aus solchen Verhältnissen sind sozial ausgegrenzt. Sie haben praktisch keine Möglichkeit, unbeschwert aufzuwachsen. Kino oder Schwimmbadbesuche sind so gut wie ausgeschlossen. Einladungen zu Kindergeburtstagen werden nicht angenommen, weil das Geld für Geschenke fehlt. Zum anderen mag man den eigenen Geburtstag nicht mit Freunden feiern, aus Scham über die Situation zu Hause.

    Kinder sind in Deutschland eine Armutsfalle. Besonders betroffen sind kinderreiche Familien. Mit der Geburt eines jeden Kindes, sinken der Lebensstandard und der Wohlstand der Familie.
    Für den Präsidenten des Deutschen Kinderschutzbundes Heinz Hilgers ist das eine unerträgliche Situation.

    Es ist eine Schande, dass wenn man in Deutschland 2500 Euro Brutto verdient und das ist mehr als der Durchschnitt der Bevölkerung, man bei vier Kindern spätestens zum Sozialamt muss, weil man damit nicht auskommen kann, angesichts der hohen Sozialabgaben.

    In Zusammenarbeit mit dem Institut für Sozialpädagogik in Frankfurt hat die Arbeiterwohlfahrt mehrere Untersuchungen zu Kinderarmut vorgelegt. Dabei wurden Lebenssituation und Zukunftschancen von armen Kindern und Jugendlichen genauer betrachtet. Knapp 900 sechsjährige Kinder wurden dazu befragt. Der erste Bericht erschien im Jahr 2000. Manfred Ragati, Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt sieht da eine fatale Entwicklung.
    Dort haben wir beobachtet, die Entwicklung von Kindern in den Kindertagesstätten, Kinder in Armut und haben drei Jahre später einen Bericht vorgelegt und haben die gleiche Klientel verfolgt in die Grundschule hinein. Das Fazit ist, dass man feststellen muss, die Armut wandert über den Kindergarten in die Grundschule mit.

    Kinder, die in ärmlichen Verhältnissen aufwachsen, die also auch von Sozialhilfe leben müssen, haben meist wenig Chancen, aus diesem Milieu auszubrechen. Das belegt auch die zweite Untersuchung der Arbeiterwohlfahrt aus dem Jahr 2003. Demnach begleitet Armut, so Manfred Ragati, die Menschen bis ins Erwachsenen-Alter.

    Armut wandert mit vom Kindergarten in die Grundschule – in die Hauptschule, bei dieser Gruppe in die berufliche Ausbildung und dann in die Arbeit. Das zieht sich wie ein roter Faden von der Geburt bis in das Arbeitsleben herein.

    Mit anderen Worten: Kinder, aus sozial benachteiligten Lebensverhältnissen sind die Sozialhilfeempfänger von morgen.
    Auch Tina Laux beobachtet, dass Kinder aus einem solchen Umfeld in der Zukunft wenig Chancen haben. Das zeigt sich bereits in der in der Schule.
    Sie sind in der Schule insofern benachteiligt, weil sie in der Regel niemand zu Hause haben, der sie unterstützen kann, der sie fördern kann. Die Eltern haben keine abgeschlossene Berufsausbildung in der Regel, sie haben keine Schulausbildung, zum Teil können sie selbst kaum lesen und schreiben. Wir haben in der Beratung auch etliche Analphabeten. Ich kenne einige schon über mehrere Jahre und ich stelle fest, dass wenn die die Grundschule hinter sich haben, gehen ganz viele Kinder auf die Hauptschule und auf Schulen für Lernbehinderte und mit diesem Abschluss haben sie sowieso kaum eine Chance in dieser Gesellschaft zu bestehen. Wir haben auch ganz viele, die die Schule vorher abbrechen, die die Schule überhaupt nicht zu Ende machen.

    Die Situation für Kinder aus sozial schwachen Familien droht sich jetzt sogar zu verschlimmern. Denn im Rahmen der Agenda 2010 wird die Bundesregierung Anfang 2005 die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe zum so genannten Arbeitslosengeld II zusammenlegen. Für die jetzigen Empfänger von Arbeitslosenhilfe heißt das: sie werden etwa 15 Prozent weniger im Portemonnaie haben. Die Wohlfahrtsverbände sehen einen drastischen Anstieg der Kinderarmut voraus. Auch Heinz Hilgers, Präsident des Kinderschutzbundes.
    Als erstes ist es ja so, dass es auf dem Niveau der Sozialhilfe zusammengelegt wird. Ich meine, jetzt leben ja auch Kinder von Arbeitslosenhilfe, aber das Niveau ist fast ein Drittel höher. Das bedeutet, dass die Zahl der Kinder, die von Sozialhilfe oder diesem Niveau leben müssen, sich von etwa 1 Million auf 1,5 Million erhöht. Das ist die höchste Zahl in Deutschland seit dem 2. Weltkrieg. Dabei muss man wissen, dass in den letzten 30 Jahren sich die Zahl der Kinder, die von Sozialhilfe leben müssen, sowieso schon verdreifacht hat, während die Kinderzahl in Deutschland deutlich zurückgegangen ist. Also die einzige Zahl die steigt, ist die von Kindern, die in Armut leben. Und die macht dann noch mal diesen gewaltigen Sprung. In einer Stadt wie Bremen leben dann weit über 30 Prozent, also jedes dritte Kind von Sozialhilfe. In manchen Stadtteilen über die Hälfte. (..) Ich glaube nicht, dass wir uns das leisten können.

    Auch Tina Laux vom Diakonischen Werk in Bonn fürchtet, dass Kinderarmut durch die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe steigen wird.

    Es wird am stärksten die jetzigen Arbeitslosenhilfebezieher treffen. Die werden darunter stark zu leiden haben, weil beispielsweise Vermögensfreigrenzen werden enorm sinken, so dass die jetzigen Arbeitslosenhilfebezieher, die noch ein einigermaßen gesichertes Leben führen können, die rutschen auf die Stufe der Sozialhilfe ab. Es wird sicherlich eine Vielzahl neuer Arme geben, weil sie sich ganz plötzlich ihre Wohnung nicht mehr leisten können. Und überhaupt ihren Lebensstandard noch weiter herunterfahren müssen, als er ohnehin schon ist. Und das wird aus meiner Sicht eine ganz neue Welle von Armen geben, die wir sicherlich auch alle in der Beratung haben werden.

    Ziel der Agenda 2010 und der Hartz-Gesetze ist, die Konjunktur in Deutschland anzukurbeln, Arbeitsplätze zu schaffen. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe soll die Menschen dazu bringen, einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen. Doch die Realität sieht anders aus. Die aktuellen Zahlen belegen: die Arbeitslosigkeit steigt. Manfred Ragati, auch Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege geht davon aus, das Problem "Arbeit" werde so nicht gelöst, die Armut werde sogar weiter wachsen.

    Man muss davon ausgehen, dass der Arbeitsmarkt derzeit nicht die Ressourcen hat Arbeitsplätze zu schaffen, so dass viele, die im Arbeitslosengeld II sind, wahrscheinlich auch nach der Übergangsphase sich plötzlich auf der Höhe der Sozialhilfe sehen. Und das kann die Armut steigern. Ich sagte in einem Gespräch mit der Bundesregierung, sie sollen sich nicht wundern, wenn beim nächsten Armutsbericht drinsteht, die Armut hat zugenommen, wegen Arbeitslosengeld II.

    Bundesfamilienministerin Renate Schmidt verteidigt die Einführung des Arbeitslosengeldes II. Allerdings hält sie die Zahl von 500.000 Kindern, die dann zusätzlich in Armut geraten , für überzogen.

    Nach unseren Berechnungen werden durch das Zusammenlegen von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe rund 220.000 Menschen ins Arbeitslosengeld II kommen. Das heißt nicht, dass all diese Menschen weniger bekommen als vorher. Manche, die in der Arbeitslosenhilfe waren und Kinder haben, haben in der Arbeitslosenhilfe weniger bekommen, als ihnen eigentlich in der Sozialhilfe zugestanden hätte und sie haben aus Unkenntnis, oder weil sie sich geniert haben oder aus welchen Gründen auch immer Sozialhilfe nicht beantragt. Für die wird das Übergehen in das Arbeitslosengeld II von Vorteil sein. Für andere wird es unter Umständen auch ein Nachteil sein. Wir haben aber versucht, auch im Arbeitslosengeld II Familienkomponenten einzuführen und unser Ziel ist es ja, dass die Menschen möglichst schnell wieder in die Erwerbstätigkeit kommen, auch teilweise in gering bezahlte Erwerbstätigkeit.

    Trotzdem hat die Bundesregierung erkannt, dass sie das Problem "Kinderarmut" nicht ignorieren kann. So hat Familienminis-
    terin Renate Schmidt im Rahmen der Agenda 2010 ein ganz konkretes Instrument angekündigt, um die Kinderarmut in Deutschland zu reduzieren.

    Dieses Instrument heißt Kinderzuschlag und es beinhaltet im Prinzip beide Aspekte: Zum einen soll nicht gießkannenmäßig Geld an Familien, die in Sozialhilfe leben, verteilt werden, sondern es sollen vor allem die Familien unterstützt und gefördert werden, deren Eltern erwerbsmäßig sind, aber die sowenig verdienen, dass es nicht für sie selbst und für ihre Kinder ausreicht. Für die wird es einen Kinderzuschlag geben, der bis zu 140 Euro hoch sein kann, je nachdem wie viel die Eltern verdienen, und der verhindern wird, dass Eltern in das künftige Arbeitslosengeld II hineingeraten.

    Von diesem ab Januar 2005 gezahlten Kinderzuschlag werden laut Berechnungen des Bundesfamilienministeriums rund 150.000 Kinder profitieren können. Der Rest wird weiter in Armut leben müssen. Familienministerin Renate Schmidt rechtfertigt sich.

    Ich behaupte ja nicht, dass die Tatsache 150.000 Kinder jetzt aus der Armut herauszubringen schon das Ende der Fahnenstange sein darf. Wir müssen weitermachen. Aber es ist das erste Mal überhaupt ein Instrument. In den vergangenen Regierungszeiten, zu Zeiten Herrn Kohls wurde zur Bekämpfung von Kinderarmut überhaupt nichts getan. Wir haben jetzt ein erstes Instrument – ich sage aber nicht, dass wir da schon am Ende alles dessen sind, was wünschbar ist.

    Denkbar sei ein weiterer Ausbau des Kinderzuschlags, so Renate Schmidt. Doch solange die Staatskassen leer sind, wird daran nicht zu denken sein. Der Präsident des Kinderschutzbundes Heinz Hilgers glaubt nicht, dass der jetzt geplante Kinderzuschlag wirklich helfen könnte.

    Einmal wird das Geld nur bezahlt an Familien, die Billigjobs annehmen. Wenn man etwas mehr verdient, dann werden für je 10 Euro die man mehr verdient von den 140 Euro schon 7 Euro abgezogen. Das zweite ist, das Ganze wird befristet auf zwei Jahre um angebliche Mitnahmeeffekte, die man nicht weiter begründet hat, zu verhindern. Ja zwei Jahre … ein Kind kostet Minimum 18 Jahre Geld, meistens länger.

    Damit Frauen aber überhaupt arbeiten gehen können,- und sei es auch nur in Billigjobs - will ihnen die Bundesregierung durch konkrete Maßnahmen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern.
    Bundesfamilienministerin Renate Schmidt.

    Wir haben uns als Bundesregierung vorgenommen, gerade für die Betreuung der unter Drei-jährigen einen Anstoß zu geben und dafür zu sorgen, dass es hier vorwärts geht. Wir haben hier die größten Defizite und obwohl der Bund in keiner Weise zuständig ist, werden 1,5 Milliarden Euro ab dem Jahr 2005 in den Kommunen auf Dauer und zwar auch für Personal zur Verfügung stehen, um die Betreuungssituation für die unter Drei-jährigen zu verbessern. Und wir haben bei den Ganztagsschulen, der zweite große Bereich, wo wir Defizite haben, 4 Milliarden Euro eingesetzt in dieser Legislaturperiode, obwohl auch hier der Bund in keiner Weise zuständig ist. Und damit soll geholfen werden, dass Eltern und vor allen Dingen auch die Ein-Eltern-Familie ihre Erwerbstätigkeit und ihre Kinder miteinander besser vereinbaren können.

    Christoph Butterwegge, Professor für Politik an der Universität Köln, befürwortet diese Maßnahmen grundsätzlich, auch wenn er den Kinderzuschlag nicht für ein geeignetes Mittel hält.

    Die Bundesregierung unternimmt zwar einerseits richtige Schritte, nämlich den Bereich der Kinderbetreuung auszubauen, wo die Bundesrepublik Deutschland einfach ein Nachzügler ist in Europa. Das ist sicher richtig. Auf der anderen Seite wird man zum Beispiel durch einen Kinderzuschlag die zunehmende sooziale Polarisierung nicht aufhalten. Und auf der einen Seite den Menschen bei der Arbeitslosenhilfe, die abgeschafft wird, Kürzungen zuzumuten und sie im Grunde auf Sozialhilfeniveau abzusenken – auf der anderen Seite durch Kinderzuschläge diesen Prozess wieder abmildern zu wollen. Ja, das erinnert mich daran, den Betroffenen in die eine Tasche etwas zu stecken und ihnen aber aus der anderen Tasche umso mehr herauszunehmen. D.h. insgesamt, dass Armut in Deutschland zunehmen wird.

    Grundsätzlich begrüßen Wohlfahrtsverbände und Experten, dass die Bundesregierung endlich etwas zur Reduzierung der Kinderarmut unternimmt. Und sie sind sich auch darüber einig, dass natürlich die desolate Schul- und Betreuungssituation in Deutschland so nicht hingenommen werden kann. Denn die PISA-Studie hatte es bereits belegt: Arme Kinder haben in Deutschland extrem schlechte Bildungschancen. Beim Abschneiden der einzelnen Bundesländer ergab sich ein direkter Zusammenhang mit der Zahl der Sozialhilfeempfänger. Danach belegte Bremen den letzten Platz. Der Grund: hier leben 22 Prozent aller Kinder von Sozialhilfe. Und das, obwohl Bremen relativ viel für Bildung ausgibt. Bayern schnitt am besten ab - hier beziehen nur 3,6 Prozent der Kinder Sozialhilfe.

    Das deutsche Schulsystem ist bislang nicht in der Lage, soziale Ungleichheit aufzufangen. Durch flächendeckende Ganztagsschulen soll das jetzt anders werden, so die Bundesregierung.
    Doch den Wohlfahrtsverbänden sind diese Schritte immer noch zu halbherzig. Denn die Länder und Kommunen werden angesichts ihrer leeren Kassen die laufenden Kosten für die Ganztagsschulen nicht tragen können. Manfred Ragati, Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt.

    Das Problem dabei ist, dass die Gemeinden und Länder genauso finanzielle Probleme haben, um dieses Angebot des Bundes zu realisieren. Wir befürchten, dass es bei der Umsetzung, die sehr zögerlich vonstatten gehen wird, eine Billiglösung geben wird. Das Kinder- und Jugendpflegerische wird der einfachen Betreuung geopfert. Und das ist nicht im Sinne unserer Vorstellung von Bekämpfung von Kinderarmut, die Kinder aus der Armut herauszunehmen und ihnen Karrierechancen zu ermöglichen.

    Professor Christoph Butterwegge versteht Kinderarmut im Grunde genommen sogar als Systemdefekt. Kinder würden in der politischen Diskussion immer nur als "Humankapital" gesehen. So werde in der Politik nicht wirklich die Kinderarmut bekämpft, sondern es werde viel eher über Kinderlosigkeit in Deutschland diskutiert. Und zwar in dem Sinne, dass durch die niedrige Geburtenrate die bestehenden sozialen Sicherungssysteme wie Rente oder Gesundheitswesen nicht mehr finanziert werden könnten. Für ihn ist das ein Ausdruck sozialer Kälte. Nur mit einem grundsätzlichen Bewusstseinswandel, so Butterwegge, ließe sich der Kinderarmut wirklich beikommen.

    Es müsste in allen Bereichen der Gesellschaft den Versuch geben, auch ein Klima zu schaffen, was Armut entgegenwirkt. Solange aber Konkurrenz und Leistung hochgehalten werden und Armut als so eine Art funktionale Bestrafung derjenigen angesehen wird, die zu faul oder zu unfähig sind, solange ein solches Klima herrscht, wird sich politisch nichts verändern lassen. Also d.h. es müsste ein Bewusstseinswandel stattfinden, durch die ganze Gesellschaft hindurch. Nur wenn das stattfindet, hätte man eine Chance Armut wirklich zu bekämpfen und das auch mit Erfolg.