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Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger
"Ich sehe eigentlich nicht, dass der Rechtsrutsch aufhört"

Weil das Hausfrauendasein sie langweilte, begann die Autorin Christine Nöstlinger Kinderbücher zu schreiben. Nun ist sie im Alter von 81 Jahren gestorben - kurz vor ihrem 80. Geburtstag sprach sie im Dlf über ihre Kindheit in der NS-Zeit, den Rechtsruck in Europa und die Wichtigkeit von Humor.

Christine Nöstlinger im Gespräch mit Ute Wegmann | 14.07.2018
    Die österreichische Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger.
    "Ich bin zu alt, um zornig oder wütend zu werden", sagt Christine Nöstlinger über den Rechtsruck in Österreich und Europa. (imago stock&people)
    Ute Wegmann: Wie gestern bekannt wurde, verstarb am 28. Juni die große österreichische Schriftstellerin und Kinder- und Jugendbuchautorin Christine Nöstlinger. Sie war 81 Jahre alt, geboren im Oktober 1936 in Wien. Mehr als 100 Bücher zählen zu ihrem Werk, in 30 Sprachen übersetzt, einige Geschichten wurden verfilmt. Sie hat neben vielen anderen die beiden wichtigsten Preise der Kinder- und Jugendliteratur gewonnen: 1984 die Hans-Christian-Andersen-Medaille und als erste Preisträgerin überhaupt 2003 den Astrid-Lindgren Memorial-Award. Christine Nöstlinger brachte einen neuen Ton in die Kinderliteratur. Mit Humor, Fantasie und einem guten Schuss Frechheit schilderte sie Alltagswirklichkeiten, wie man sie zuvor im Kinderbuch nicht gelesen hatte. Kinder vertraten ihre Rechte, wehrten sich gegen das ungerechte Verhalten ihrer Eltern. Erwachsenen verloren ihr Allwissen und ihre Allmacht. Geprägt durch den Zweiten Weltkrieg waren ihre Geschichten immer auch gesellschaftkritisch. Sie schrieb Hörspiele, Erstlesebücher, Sachbücher, Serien, Drehbücher. Alles begann im Jahr 1970 mit der feuerroten "Friederike". Es folgten "Wir pfeifen auf den Gurkenkönig", "Maikäfer flieg!" und "Konrad oder das Kind aus der Konservendose". Später dann "Das Austauschkind" und die ersten Geschichten vom Franz und vom Gretchen Sackmeier. Christine Nöstligner war bis an ihr Lebensende eine Kämpferin gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung, eine Kämpferin für die Bildung und das Lesen, die nie ihre Hoffnung auf eine solidarische Welt verloren hat, und dennoch mit großem Argwohn den Rechtsruck der letzten Jahre beobachtete. "Wer nichts weiß, muss alles glauben. Auch den größten Unsinn!", sagte sie am 5. Mai 2015 in einer Rede bei der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Mauthausen. Eine engagierte Rede gegen Rassismus.
    Kurz vor ihrem 80. Geburtstag hatte ich das Glück, sie in ihrer Wohnung in Wien besuchen zu dürfen und mir ihr über ihr Leben und ihr Schreiben zu sprechen.
    "Glück ist was für Augenblicke", so lautet der Titel Ihrer Autobiografie. Waren die Preise Augenblicke des Glücks, habe ich Christine Nöstlinger gefragt.
    Christine Nöstlinger: Augenblicke des Glücks, nein. Preise zu bekommen, ist zwar nett, überhaupt wenn sie gut dotiert sind, aber nein, Augenblicke des Glücks waren es nicht. Es wären vielleicht Augenblicke des Unglücks gewesen, wenn ich nie einen Preis bekommen hätte. So ist halt ein Mensch geartet. Was er bekommt, schätzt er weniger, als das, was er nicht bekommt.
    Wegmann: Und wenn Sie jetzt Augenblicke des Glücks benennen müssten - was wäre das?
    Nöstlinger: Das sind eigentlich alles eher private Augenblicke.
    Wegmann: Darüber sprechen wir jetzt nicht.
    Nöstlinger: Na, eher nicht.
    "Ich hab sehr wohl die Unfreiheit der anderen empfunden."
    Wegmann: Ein kurzer Blick zurück: Geboren im Oktober 1936 in Wien erlebten Sie als Kind den Zweiten Weltkrieg. Der Vater war Soldat und wurde in Russland schwer verwundet, die Großeltern ausgebombt. Die Mutter bringt die beiden Mädchen in einen Wiener Vorort, wo sie die Besatzung der Russen und schließlich das Ende des Krieges erleben. Ihre Mutter bezeichnete Sie als "wütendes, wildes Kind". Sie sagen über sich selber, Sie seien nur frech gewesen, frecher als andere. Als Grund dafür benennen Sie die Erziehung, die Sie genossen haben. Im Gegensatz zu vielen anderen Kindern wurden Sie niemals geschlagen. Sie konnten Ihre Meinung äußern, ohne Angst vor Konsequenzen. Hatten Sie als Kind ein Bewusstsein für diese Freiheit?
    Nöstlinger: Also, ich hab als Kind nicht empfunden, dass ich eine große Freiheit hätte. Denn je besser es einem geht, um so anspruchsvoller wird man natürlich auch. Aber ich hab sehr wohl die Unfreiheit der anderen empfunden, und das war für mich schrecklich. Diese Ungerechtigkeit, dass es mir anders geht, hab ich schon empfunden.
    Wegmann: Hat das Empfinden Sie geprägt in Bezug auf Ihr Schreiben?
    Nöstlinger: Ich glaub schon. Gerade wenn man Bücher für Kinder schreibt, man hat ja als einziges Modell von Kind nur die Erinnerung an sich selber zur Verfügung. Die mag falsch sein, denn die meisten Menschen erinnern sich an sich selbst nicht ganz objektiv, aber ich hätte nie gewagt zu behaupten, ich kenne meine eigenen Kinder. Oder meine Enkel. Ich hab Vorstellungen von ihnen, ich hab Erwartungshaltungen. Aber das einzige Kind, von dem ich glaube, es zu kennen, das bin ich selber als Kind.
    Wegmann: Zu Hause spielte Politik immer eine große Rolle. Der Vater war selbst den "Roten" zu links. Über einen Onkel sagen Sie, er war Nazi und blieb es sein Leben lang. Sie wussten von den Konzentrationslagern und was mit den Juden geschah. Später erlebten Sie die Studentenrevolte und den emanzipatorischen Aufbruch der Frauen. Als Subtext und auch zuweilen konkret fließen viele dieser Erfahrungen in Ihre Geschichten ein. Ist Schreiben für Sie ein politischer Akt?
    Nöstlinger: Mein Gott, ein politischer Akt. Aber natürlich will ich hoffen, steh ich mit meiner ganzen Person dahinter und mit meinen politischen Ansichten. Und schon so, wie ich Geschichten erfinde, wie ich Sympathien und Antipathien verteile, ist das politisch. Ich war immer ein politisiertes Kind, das muss man auch sein, wenn man in einer antifaschistischen Familie als Kind lebt, und rundherum ist NS-Diktatur, dann wird man damit konfrontiert.
    Ich bin natürlich auch herb enttäuscht worden. Wie 1945 plötzlich eine andere Zeit anbrach und wie Kinder so schwarz-weiß denken, da hab ich geglaubt, jetzt verschwinden alle Nazis und sind weg und werden furchtbar bestraft. Und wir sind dann die Mächtigen. Ja, Schnecken! Das war ja nicht so. Das hat mich sehr irritiert.
    "Ich war meinen Sätzen gegenüber immer wahnsinnig kritisch."
    Wegmann: Wie kamen Sie denn zur Literatur, Ihre Ausbildung haben Sie ja als Grafikerin gemacht?
    Nöstlinger: Eigentlich bin ich nicht dazu gekommen. Ich hatte zwei kleine Kinder und es war mir unheimlich fad daheim. Zur Hausfrau hatte ich mich nie entworfen. Früher hab ich bei der Zeitung gearbeitet, beim Layout. Aber mit zwei kleinen Kindern: Dauernd hatte eine Schnupfen, dann war der Kindergarten zugesperrt, dann hab ich es halt bleiben lassen. Haushalt lag mir wirklich nicht.
    Weil ich ausgelernte Grafikerin war, von der Akademie, dachte ich, dann zeichne ich ein Bilderbuch. Ich war ja wahnsinnig schüchtern. Ich hätte mich nie zu einem Verlag getraut und hätte angefragt: Bitte, ich möchte illustrieren. Deshalb hab ich gedacht, ich muss selber mir eine Geschichte erfinden, und die ist immer länger und länger geworden. Und dann hat es tatsächlich der Verlag für Jugend und Volk in Wien genommen. Wenn der das nicht genommen hätte, hätte ich mir in meiner damaligen Situation gedacht: Na siehste, Christel, das kannste auch nicht. Und hätte es nie mehr probiert.
    Dann hat das Buch in Deutschland den Bödeckerpreis gewonnen, nicht die Bilder, sondern die Geschichte. Und ich war so froh, einen Zipfel von einem Erfolg zu haben, außer Gulasch kochen zu können und Hemden konnte ich eh nicht bügeln. Und dann dachte ich: Okay, dann schreib ich halt. Und mein Anfangserfolg war der, dass ich meinen Sätzen gegenüber wahnsinnig kritisch war. Ich war schon immer eine Leserin und ich hab ein Sprachgefühl, aber es ist nie so mit mir durchgegangen, dieses euphorische Schreiben.
    Die österreichische Schriftstellerin Christine Nöstlinger
    Die österreichische Schriftstellerin Christine Nöstlinger (picture alliance / dpa / Frank Leonhardt)
    Manchmal hab ich das gehabt, aber das hab ich mir am nächsten Tag alles wieder weggestrichen. Diese Ergüsse. Es gibt so Schreiborgien, wo man denkt, jetzt ist man ganz toll, und es geht fluchs und fluchs. Aber ich hab dann immer gefunden: Nein, das kann man nicht und hab mich sehr diszipliniert.
    Wegmann: Anfang der 70er Jahre sprach man bei Kinderbüchern nicht von Literatur. Ich darf Sie zitieren: "Kinderbücher galten sichtlich für die meisten dieser kindertümlich befassten Herrschaften als Pädagogik-Pillen, eingewickelt in buntes Geschichterl-Papier." Ein weiteres Zitat aus Ihrer Autobiografie: "Von der Sprache, die mir beim Schreiben das Wichtigste und Schwierigste gewesen war, redete niemand. Und ich hatte doch gedacht, Literatur bedeutete, ein Stück Welt in Sprache umzusetzen." Sie haben vieles wieder weggestrichen. Sie waren nicht zufrieden, mit den Dingen, die da als erstes auf dem Papier standen.
    Nöstlinger: Nein, das bin ich immer noch nicht. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es Schriftsteller gibt, die gleich zufrieden sind.
    Wegmann: Ich-Perspektive oder auktoriales, personales Erzählen, wie und wann entscheidet sich das?
    Nöstlinger: Das ist ein unbewusster Akt. Leicht ist es natürlich, ein Kinderbuch in Ich-Form zu schreiben. Dann kann man von innen heraus schreiben, was ich mir gedacht habe, meine eigene Betrachtung, das ist auf alle Fälle leichter.
    "In jedem Kinderbuch steckt ein Stück meiner Kindheit."
    Wegmann: "Ein Stück Ihrer Welt in Sprache umsetzen" – das haben Sie in "Maikäfer flieg!" gemacht, eindringlich wird die Kriegsatmosphäre geschildert mit allen Entbehrungen und Ängsten, aber auch der normale Alltag und eine Beziehung, die das Mädchen, Ihre Protagonistin zu einem russischen Koch aufbaut. Kann man sagen, dass dieser Kinderroman den größten autobiografischen Anteil hat?
    Nöstlinger: Es gibt dann noch eine Fortsetzung: "Zwei Wochen im Mai." Das hat auch den biografischen Anteil. Es steckt natürlich in jedem Kinderbuch ein Stück meiner Kindheit und von mir. Ich kann immer nur Kinder beschreiben, als Hauptfiguren, die so ähnlich sind wie ich. Ich bin ein völlig unsportlicher Mensch, was man in Wien botschert nennt. Ich könnte nie ein Buch über ein Kind schreiben, das sportlichen Ehrgeiz entwickelt. Ich wüsste nicht, wie ich das erklären soll.
    Wegmann: Also Sie greifen auf Ihre Gefühle, Ihre erinnerten Gefühle zurück?
    Nöstlinger: Ja schon! Andere stehen mir nicht zur Verfügung.
    Wegmann: In "Konrad" werden Rollen- und Leistungsdenken sowie Gehorsam infrage gestellt. Im "Gurkenkönig" geht es u.a. um die Fragestellung nach Autoritäten und Gleichberechtigung und somit ist es ein kritischer Blick auf die Konservativen und diejenigen, die an überkommenen Regeln festhalten. Im "Austauschkind" steht die Selbstbestimmung und Individualität der Kinder im Mittelpunkt. Man kann sagen, dass Sie somit in bester Astrid Lindgren Tradition stehen.
    Nöstlinger: Also, das "Austauschkind", ich schreib ja kein Buch und denk mir, ich behandel dieses oder jenes Thema. Es hatte damals eine Freundin, die so ein Austauschkind aus England, der immer nur fish and chips wollte und dick war und die ganze Familie zur Verzweiflung gebracht hat. Nur sind dann sechs Wochen vorübergegangen und der ist wieder weg, das ist nicht genug für eine Geschichte. Aber der Anfang ist natürlich diese verzweifelnde Familie mit dem dicken Engländer, das andere muss man dann als Autor dazu erfinden.
    "Ich unterwerf mich nicht mehr der Mühe."
    Wegmann: "Sie ist eine zuverlässige Unterstützerin der Kinder und derjenigen, die am Rande der Gesellschaft leben." So steht es in der Begründung der Astrid Lindgren Memorial Award Jury. Aber hätte das nicht auch anders kommen können? Dass Sie sich vom Kinderbuch wegbewegen und Belletristik schreiben?
    Nöstlinger: Mich wollten schon mehrere Verleger dazu überreden. Aber dann denk ich mir: Mein Gott, wem wird das gefallen. Dann lese ich vielleicht in der Kritik: Wär sie doch bei ihren Kinderbücher geblieben. Ich unterwerf mich nicht mehr der Mühe.
    Wegmann: Sagen wir, Sie schreiben realistische Alltagsgeschichten. Sagen wir, Sie mischen hin und wieder ein fantastisches Element hinein. Zum Beispiel, dass ein Kind in einer Konservendose aus der Fabrik geliefert wird, ein Gurkenkönig im Keller, der sein Volk unterdrückt, oder Karl, ein alter Herr, der im Fernseher lebt, und Kontakt aufnimmt mit dem Protagonisten, der davor sitzt.
    Was Sie ebenfalls immer hineinmischen, ist Humor: "disrespectful humour" - "respektloser Humor", so nannte es die Jury in Schweden. Ist die Gabe, dem manchmal tristen oder banalen Alltäglichen etwas Heiteres abzutrotzen ein Schlüssel zum Erfolg?
    Nöstlinger: Ich nehme es an. Ich kann nicht anders. Selbst in den traurigsten Situationen meines Lebens fällt mir das Komische an der Situation auf. Dann bin ich natürlich nicht heiter und lach drüber, aber ich hab es für später aufgehoben. Das ist so. Da tu ich nichts dazu, aber ich bemerke es.
    Wegmann: John Irving hat mal gesagt: Humor kann man nicht erlernen, das ist was Genetisches. Von wem haben Sie es?
    Nöstlinger: Das weiß ich nicht. Ob mein Vater Humor hatte? Der hatte Witz, aber Humor hatte der eigentlich nicht. Meine Mutter hatte Humor aber keinen Witz. Vielleicht hat sich das so getroffen.
    "Es ist eigentlich keine Autobiografie. Es sind Erinnerungen."
    Wegmann: Der Nöstlinger-Humor kommt vor allem auch in Ihren Kolumnen zum Tragen, die Sie früher täglich geschrieben haben. In zwei "Hausbüchern für alle Lebenslagen" zusammengetragen. In kurzen Kapiteln haben Sie alltägliche Situationen sehr heiter festgehalten. Meist Männer-, Frauen-, oder Mütterthemen. Über Abnehmrituale, Müllentsorgung, Hutkäufe usw. Diese beiden Anthologien und Ihre Autobiografie erscheinen jetzt zu Ihrem runden Geburtstag in einem schicken Schuber. Wie wichtig war für Sie das Schreiben der Autobiografie?
    Nöstlinger: Überhaupt nicht. Es war so: Eine Journalistin wollte sie schreiben und hat sie geschrieben. Und ich dachte, ja dann soll sie. Und ich hab das gelesen und das war so schrecklich für mich. Und der Verlag hatte das schon im Programm. Da hab ich mich hingesetzt und hab das selber geschrieben. Drum steht in dem Buch "nach Aufzeichnungen von". Ich hab das nicht aus freien Stücken gemacht. Und es ist ja auch eigentlich keine Autobiografie. Es sind etliche Erinnerungen.
    Wegmann: Im Jahr 1970 als Ihr erstes Buch erschien, waren Sie 34 Jahre alt. Hat sich Ihre Haltung jetzt 46 Jahre später zum Schreiben oder beim Schreiben verändert?
    Nöstlinger: Ja, Gott, ich werd jetzt 80 Jahre alt. Verändert hat sich das Tempo. Ich kann mir nicht mehr erklären, wie ich vor dreißig, vierzig Jahren, wie ich das alles geschafft habe. Ich lebte damals in einer großen Wohnung und hatte drei Schreibtische mit Schreibmaschinen. Auf einem lag das Buchmanuskript, auf dem anderen ein Drehbuch für den ORF und auf dem dritten die Zeitungsartikel. Ich hab das irgendwie geschafft, und nicht unter wahnsinnigem Stress, ich hab so wahnsinnig gern gearbeitet. Es war das, was ich am liebsten tat.
    Wegmann: Und wie viel arbeiten Sie jetzt?
    Nöstlinger: Jetzt arbeite ich nicht so viel. Es geht mir nicht so gut. Und wenn ich zwei Stunden am Computer sitze, tut mir alles weh. Und ich kann für kleine Kinder Bilderbücher oder Kinderbücher schreiben, aber ich kann nicht für Zehn-, Elf-, oder Zwölfjährige schreiben. Ich habe keinen Zugang. Ich schau mir die Altersgruppe verblüfft an. Ich seh, wie sie dauernd mit ihren Mobiltelefonen beschäftigt sind, aber was in so einem Hirn vor sich geht, das weiß ich nicht. Und ein Kinderbuch muss man aus dem Blickwinkel eines Kindes schreiben, sonst wird es nichts. Und den Blickwinkel eines Zwölf-, oder Dreizehnjährigen habe ich nicht mehr.
    Wegmann: Im "Gurkenkönig" sprechen die Hogelmann -Geschwister in einer Szene von den "armen Negerkindern". Das Wort Negerkind hat ein Sternchen, am Rand der Seite steht dazu: Wolfgang Hogelmann und die anderen reden von Negern "das war damals, als das Buch entstand noch so. Heute würde man Schwarze sagen." Wie stehen Sie zu der Diskussion, diese politisch nicht korrekten Worte zu ersetzen?
    Nöstlinger: Ja also, eigentlich ist es mir gleich. Ich finde in einer solchen Geschichte bringt es ein Kind mehr zum Denken, wenn es den Stern da hat und wenn es erfährt, dass das noch nicht so lange her ist. Das Herumstreiten bei der Pippi Langstrumpf, da darf es nicht mal mehr der Südseekönig sein, sondern wieder was anderes. Und dann gibt es Sachen. Nehmen wir das Wort Neger in Wien, noch ärger ein Mohr. Ja wenn ich jetzt aus meiner Kindheit beschreiben würde, wie mein Großvater, der kein Rassist war, den ersten schwarzen US-Soldaten gesehen hat, heimkam und sagte: 'Kinder, jetzt hab ich einen Mohr gesehen.' Das kann ich nur so beschreiben.
    "Zuerst wird das Bewusstsein verändert, dann die Sprache."
    Wegmann: Nun ist ja gerade bei Otfried Preußler und in den Astrid Lindgren Geschichen sehr viel geändert worden. Empfinden Sie das nicht auch als einen Eingriff in die Literatur? In die Wertschätzung der Geschichten?
    Nöstlinger: Ja, schon, aber wenn es sein soll. Ich hab da meine eigenen Ansichten. Ich glaube nicht, dass Sprache überhaupt so bewusstseinsverändernd sein kann. Das muss meiner Meinung nach umgekehrt gehen. Zuerst wird das Bewusstsein verändert und dann auch die Sprache. Ich hab auch überhaupt nichts dagegen, wenn in meinem Pass Schriftsteller und nicht Schriftstellerin steht. Ich nehm das nicht so krumm.
    Wegmann: Woran scheitert es, dass die Kinderliteratur gesellschaftlich anerkannt ebenbürtig neben der Belletristik ihren Platz einnehmen kann?
    Nöstlinger: Der Kinderbuchmarkt ist zu klein, um viele Sparten gleichberechtigt zu haben. Für Erwachsene, da gibt es die Rosamunde Pilcher-Leser, die Grass-Leser, oder solche, die spezialisiert sind auf amerikanische Autoren. Das geht alles, weil der Markt groß genug ist. Aber ein Kinderbuch soll gleichermaßen alle Kinder befriedigen. Da gibt es noch Altersabstufungen. Aber Kinder sind so unterschiedlich wie Erwachsene. Deshalb gibt es viele Kinder, die nicht lesen, weil sie nie die Literatur finden, die zu ihnen passt.
    Wegmann: Wobei wir mit 8.000 Neuerscheinungen jährlich ja eine Vielfalt haben.
    Nöstlinger: Ja schon, aber es geht immer über einen Kamm. Es soll alle befriedigen. Und das geht einfach nicht.
    "Ich bin zu alt, um zornig oder wütend zu werden."
    Wegmann: Am 5. Mai 2015 haben Sie bei einer Gedenkfeier gegen Gewalt und Rassismus eine beeindruckende Rede gehalten. Sie warnen vor Parolen, vor Menschen, die von Überfremdung sprechen oder von der Bevorzugung der Ausländer. Sie fordern eine bessere Bildung, denn "Wer nichts weiß, muss alles glauben". Und Sie sprechen von den sieben angeborenen Hautschichten und einer achten, der vielleicht wichtigsten. Der Zivilisationshaut.
    Nöstlinger: Und die ist sehr dünn. Ich bin zu alt, um zornig oder wütend zu werden. Aber ich bin sehr traurig. Ich hab nicht mehr viel Zeit zum Leben, ein paar Jahre noch, wenn es hochkommt, und wenn ich mir die politische Situation in Österreich und ganz Europa ansehe, sehe ich eigentlich nicht, dass der Rechtsrutsch aufhört, solang ich noch lebe. Und so hab ich mir das nicht vorgestellt. Wenn ich an die 60er, die 70er und auch noch die 80er Jahre denke, ich hab immer geglaubt, das geht weiter, das wird besser, das wird gerechter. Und jetzt ist das alles futsch. Wenn ich vierzig wäre, würde ich sagen: Okay, die Vernunft muss überwintern und kommt wieder. Aber so lange ich lebe, wird es nicht wiederkommen. Und damit habe ich nicht gerechnet.
    Wegmann: Man hat gerade erforscht, dass Menschen, die Romane lesen, sich besser in fremde Kulturen hineinversetzen können. Also bleibt das Lesen doch das Wichtigste?
    Nöstlinger: Ja, aber dann muss man Voraussetzungen schaffen. Lesen ist ein Kulturverhalten. Und Kinder imitieren ihre Umgebung. Und wenn alle Menschen lesen, werden Kinder bitte auch lesen.
    Wegmann: Liebe Christine Nöstlinger, ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Geburtstag. Was ist Ihr Lieblingskuchen?
    Nöstlinger: Mein Lieblingskuchen? Ich bin gar nicht so süß. Aber Kardinalschnitten mag ich ganz gern, die haben so eine Kaffeecreme drinnen.
    Wegmann: Die wird’s dann geben.
    Nöstlinger: Na, glaub ich nicht.
    Wegmann: Vielen Dank für das Gespräch.
    Christine Nöstlinger: "Best of Christine Nöstlinger".
    Residenz Verlag, Salzburg 2016, 900 Seiten, 29,90 Euro.