Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Kindergarten als Teil des Bildungswesens

Oliver Paasch, Erziehungsminister der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien, hat die Kinderbetreuung im Nachbarland als Vorbild für Deutschland empfohlen. Es sei eine Frage der sozialen Chancengerechtigkeit, jedem Kind eine gebührenfreie ganztägige Betreuung zu bieten, sagte Paasch. Zudem sei der Kindergarten in Belgien als Vorschule ausgerichtet und somit Teil des Bildungswesens.

Moderation: Doris Simon | 23.03.2006
    Doris Simon: Wer in Deutschland einen Platz im Kindergarten bekommen hat, der darf glücklich sein. Dabei kann Kindergarten hier eine teuere Sache sein. In städtischen Kindergärten in Köln zum Beispiel kostet der Vormittagsbesuch die Eltern je nach Einkommen zwischen 0 und 150 Euro pro Kind und pro Monat. Bei Betreuung bis 16.30 Uhr mit Mittagessen können es bis zu 265 Euro werden. Das führt dazu, dass viele Immigranten in Deutschland ihre Kinder erst gar nicht in den Kindergarten schicken, mit den bekannten Folgen für deren Deutschkenntnisse und für die Integration in die Mehrheitsgesellschaft. Deswegen haben Politiker aus der SPD, aber unter anderem auch Bundeskanzlerin Merkel gefordert, der Kindergarten müsse für die Eltern kostenfrei sein. Aber die Kommunen wehren sich. Sie finanzieren bereits zu vier Fünftel die Kindergartenkosten und wissen nicht, woher sie die zwei Milliarden Elternanteil nehmen sollen.

    In unserem Nachbarland in Belgien sind Eltern in einer ganz anderen Situation. Der Kindergarten ist gebührenfrei und den ganzen Tag geöffnet. Am Telefon ist Oliver Paasch. Er ist als Bildungsminister in Eupen auch zuständig für die Kindergärten in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens. Ich grüße Sie, Herr Paasch.

    Oliver Paasch: Ja, guten Tag!

    Simon: In Deutschland bezweifeln viele, dass ein Gratiskindergarten bezahlbar ist. Wie schaffen Sie in Belgien das?

    Paasch: In Belgien ist das eigentlich eine sehr gute Tradition schon seit sehr langer Zeit. In der Tat ist es so, dass die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens jedem Kind ab dem dritten Lebensjahr einen Kindergartenplatz anbietet, ganztags und gebührenfrei. Es ist natürlich auch so, dass wir es hier mit einer Frage der sozialen Chancengerechtigkeit zu tun haben.
    Ich spreche eigentlich nicht so gerne vom Kindergarten als von der Vorschule. Wir betrachten eigentlich den Kindergarten als ein Bestandteil des Bildungswesens, in dem schon auf die Primarschule vorbereitet wird. Die Zeitspanne ist diejenige zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr, also das klassische Vorschulalter.

    Simon: Herr Paasch, Sie sagen, wir bieten jedem Kind in Belgien einen Kindergartenplatz oder einen Vorschulplatz, wie Sie gerade erklärt haben. Es gibt also überhaupt keine Probleme, erst mal einen zu bekommen?

    Paasch: Nein. Das ist nicht nur eine Theorie, nicht nur ein gesetzlicher Anspruch; das ist auch in der Praxis so. Jedes Kind hat Anrecht auf diesen Platz und bekommt auch einen. Es handelt sich allerdings nicht für die Eltern und Kinder um eine Pflicht, aber dieses Angebot wird zu 99,98 Prozent auch tatsächlich dann wahrgenommen.

    Simon: Wo sparen Sie denn dann, dass Sie das so hinkriegen? Sind die Gruppen besonders groß? Sind die Räumlichkeiten nicht sehr modern eingerichtet?

    Paasch: Ich hoffe doch, dass die Räumlichkeiten modern eingerichtet sind. Ich gehe auch davon aus, dass die Gruppen in einer verträglichen Größe zu Stande kommen. Man kann davon ausgehen, dass wir im Schnitt pro Klasse 15 bis maximal 20 Kinder betreuen.

    Simon: Eine Klasse wäre das, was man in Deutschland eine Kindergartengruppe nennt?

    Paasch:! Ja richtig. Das ist dann eine Klasse von 15 bis 20 Kindern, die dann von einer, manchmal auch zwei Lehrpersonen betreut wird. Übrigens, die Kindergärtner arbeiten eigentlich nicht im Sozialbereich, sind auch nicht im Erziehungsbereich ausgebildet. Sie werden ausgebildet in Bildungswissenschaften an den jeweiligen autonomen Hochschulen, gehören also schon von der Ausbildung her in das System des Bildungswesens mit hinein.

    Aber sie haben eingangs die Frage nach der Finanzierbarkeit gestellt. Das ist natürlich eine ganz große Anstrengung für die öffentliche Hand, dies integral zu finanzieren. Wir geben beispielsweise in der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens über 50 Prozent aller Finanzmittel für das Bildungswesen aus, zu dem dann auch der Kindergarten gehört. Ich denke das ist eine Frage der politischen Prioritätensetzung. Ich bin davon überzeugt, dass dieses System des gebührenfreien Kindergartens der sozialen Chancengerechtigkeit dient. Wenn wir nicht wollen, dass die Zukunft unserer Kinder, die Bildungschancen der Kinder vom Geldbeutel der Eltern abhängen, dann müssen wir solche Angebote zur Verfügung stellen.

    Simon: Das heißt, in Belgien gibt es da auch über die Parteigrenzen hinweg einen Konsens?

    Paasch: Ja, da gibt es einen breiten Konsens schon seit vielen Jahren, und ich bin der festen Überzeugung, dass dieses System auch von niemandem wirklich in Frage gestellt werden wird. In absehbarer Zeit wird es dieses System auch weiterhin geben. Wir sorgen dafür, dass wir in den jeweiligen öffentlichen Haushalten die notwendigen Mittel frei machen, um das System aufrechterhalten zu können, denn die Erfahrungen, die wir mit diesem System machen, sind durchaus viel versprechend.

    Simon: Was meinen Sie mit viel versprechend?

    Paasch: Wir bereiten also wie gesagt in der Vorschule schon ganz konkret auf die Unterrichte in der Grundschule vor. Das vereinfacht natürlich den Lehrpersonen in der ersten Stufe des Grundschulwesens den Umgang mit den Kindern und das Vermitteln der Lehrinhalte. Das ist die praktische Erfahrung, die wir mit diesem System gemacht haben. Wie gesagt, ganz besonders wichtig ist natürlich auch der soziale Aspekt. Es geht um die soziale Chancengerechtigkeit, gleiche Chancen für jedes Kind unabhängig von der sozialen Herkunft und gleichzeitig auch um die Verträglichkeit von Familie und Beruf. Es ist ja klar, dass dieses Angebot in den Familien auch beiden Elternteilen sehr viel mehr Möglichkeiten einräumt als in einem System, wo ein solches Angebot nicht besteht.

    Simon: Herr Paasch, wenn Sie das Bildungssystem bei sich in Belgien anschauen, welche Rangordnung hat der Kindergarten? In Deutschland hat er ja viele Jahre ganz versteckt hinter Schule und vor allem hinter der Universität rangiert.

    Paasch: Bei uns ist der Kindergarten wie gesagt Bestandteil eigentlich des Schulwesens. Insofern ist seine Bedeutung, die auch die Politik ihm beimisst, durchaus vergleichbar mit dem Grundschul- und auch dem Sekundarschulwesen. Wir machen da keinen Unterschied. Für uns ist die Bedeutung gerade im Kindergarten und im Grundschulalter besonders groß, denn wir wissen alle aus vielen Studien, dort werden die Grundlagen gelegt für die spätere Bildung, dort werden wichtige Grundfertigkeiten vermittelt. Deswegen müssen wir sie auch prioritär unterstützen, wie das zum Beispiel auch in vielen skandinavischen Ländern der Fall ist.

    Simon: Herr Paasch, in Deutschland bekommen Eltern Kindergeld. Nun hat der deutsche Finanzminister Steinbrück angeregt, man könne auch ein bisschen am Kindergeld kürzen, dafür den Kindergartenbesuch gebührenfrei machen. Wäre das bei Ihnen auch ein machbarer Vorschlag?

    Paasch: Es gibt in Belgien auch ein Kindergeld, aber nach meinen Informationen ist dieses Kindergeld ohnehin niedriger als dasjenige, das in Deutschland ausbezahlt wird. Man müsste die Zahlen miteinander vergleichen, um die Frage wirklich hier von Belgien aus beurteilen zu können. Die Idee aber, diesen Kindergarten gratis beziehungsweise gebührenfrei anzubieten, ihn zu integrieren schon ins Vorschulwesen, halte ich aus unserer Sicht mit unseren Erfahrungen auf jeden Fall für richtig.

    Simon: Haben Sie eigentlich auch Erfahrungen mit Deutschen, die nach Belgien kommen und dort ihre Kinder in den Kindergarten tun?

    Paasch: Ja, diese Erfahrungen machen wir durchaus, sogar in einem relativ großen Ausmaß. 15 Prozent aller in der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens eingeschriebenen Kinder sind deutscher Nationalität. Das ist ein sehr hoher Anteil. Die meisten wohnen allerdings dann auch in der Deutschsprachigen Gemeinschaft und sind sehr froh - da gibt es auch entsprechende Untersuchungen – über dieses Angebot, das es ja auf der anderen Seite der Grenze so nicht gibt. Man muss allerdings hinzufügen, dass dieses Angebot des gebührenfreien Kindergartens nur für Menschen gilt, die auch in Belgien wohnen, gleich welcher Nationalität, aber sie müssen ihren Wohnsitz in Belgien haben. Es gibt auch Menschen aus der Bundesrepublik Deutschland, die dann nicht ihren Wohnsitz hier haben und das Angebot trotzdem in Kauf nehmen. Dort erheben wir dann allerdings eine Gebühr in einer Größenordnung von 750 Euro im Jahr. Das muss man dann auch der Vollständigkeit halber hinzufügen.

    Simon: Ganz herzlichen Dank. Das war Oliver Paasch. Er ist Bildungsminister in der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien. Vielen Dank und Auf Wiederhören.

    Paasch: Vielen Dank auch.