Donnerstag, 18. April 2024

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Kindergeldzahlungen ins Ausland
"Es gibt keinen Generalverdacht"

Der Deutsche Städtetag hat seine Forderung nach neuen Regeln für Kindergeldzahlungen ins Ausland bekräftigt. Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy sagte im Dlf, es gehe um die Frage, ob das Kindergeldsystem in Europa nicht falsche Anreize setze. Er betonte, man wolle Menschen aus Rumänien oder Bulgarien nicht unter Generalverdacht stellen.

Helmut Dedy im Gespräch mit Christoph Heinemann | 10.08.2018
    Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Helmut Dedy.
    Das kindergeld dürfe nicht Teil der Erwerbsbiografie werden, meint Helmut Dedy (pa/dpa/Gabbert)
    Derzeit lohne es sich, allein wegen des Kindergeldes in ein anderes Land überzusiedeln. Das sei ein Problem. Wenn man Missbrauch wahrnehme, müsse man das diskutieren, betonte Dedy. Es gehe nicht um einen Generalverdacht gegen Menschen aus Rumänien und Bulgarien. Aber er sei der Meinung, dass man das Kindergeld dem Bedarf anpassen müsse. Und der sei für im osteuropäischen Ausland lebende Kinder geringer als in Deutschland.
    Die EU-Kommission sprach sich gegen neue Regeln für Kindergeldzahlungen ins Ausland aus. Wenn ein Arbeitnehmer in ein nationales Sozialversicherungssystem einzahle, müsse er die gleichen Leistungen erhalten wie jeder andere auch - unabhängig von seiner Nationalität und vom Wohnort seiner Kinder, sagte eine Sprecherin der Brüsseler Behörde der Deutschen Presse-Agentur. Der Paritätische Gesamtverband nannte die geltende Praxis korrekt und fair. Hauptgeschäftsführer Schneider erklärte, es gehe überdies um Menschen, die in Deutschland entweder als Fachkräfte gebraucht oder häufig in schlechten Arbeitsverhältnissen ausgebeutet würden.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Zweierlei muss man also unterscheiden: einmal Kindergeld, das ausländische Eltern beziehen, die hierzulande etwa als Pflegekräfte oder Erntehelfer hart arbeiten, einerseits eben, und andererseits eben Missbrauchsfälle, also Kindergeld für Kinder, die es möglicherweise gar nicht gibt. Über beides wollen wir jetzt sprechen mit Helmut Dedy, dem Hauptgeschäftsführer des Deutsche Städtetages, der eine Reform des Systems fordert. Guten Morgen!
    Helmut Dedy: Schönen guten Morgen, Herr Heinemann!
    Heinemann: Herr Dedy, Thema Nummer eins: Kindergeld für Kinder, die im Ausland leben. Was wollen Sie ändern?
    Dedy: Erst mal bin ich Ihnen dankbar, dass Sie das trennen. Gestern ist ja die Diskussion doch fröhlich durcheinandergelaufen. Die Missbrauchsfälle und die Reformvorschläge kamen in eine Tüte, das war mir nicht so recht, und ich will auch das noch mal sagen, was ich gestern schon gesagt habe: Wir haben keinen Generalverdacht gegen Menschen aus Rumänien oder Bulgarien, das liegt uns fern. Es geht bei der Reform darum, dass wir die Frage stellen, ob das Kindergeldsystem in Europa nicht falsche Anreize setzt – falsche Anreize setzt, weil es sich lohnen kann, allein wegen des Kindergeldes in ein anderes Land zu wandern, überzusiedeln, und das ist aus unserer Sicht ein Problem, und dem würden wir ganz gerne etwas nähertreten.
    "Das Kindergeld ist dann ein Teil der Erwerbsbiografie"
    Heinemann: Aber es kommen ja nicht nur Leute allein wegen des Kindergeldes, warum sollten also zum Beispiel Pflegehelfer, Pflegekräfte oder Erntehelfer, die ihre Kinder zu Hause lassen müssen, nicht auch Kindergeld bekommen?
    Dedy: Ja, die sollen ja Kindergeld bekommen, das ist nicht das Thema, sondern wir kommen von dem Thema: Wozu dient eigentlich das Kindergeld? Das hat eine steuerliche Komponente, aber das hat eben auch die Komponente, dass es den Bedarf eines Kindes abdecken soll. Es ist natürlich so, dass der Bedarf eines Mädchens, das in Bulgarien lebt, ein anderer ist als der Bedarf eines Mädchens, das in Nordrhein-Westfalen lebt. Diese Bereiche, meinen wir, muss man diskutieren, ob da nicht Anreize drinstecken, denn das Kindergeld ist dann natürlich ein Teil der, na, ich sag mal, der Erwerbsbiografie, und dafür ist es eigentlich nicht gedacht.
    Heinemann: Aber für die Leute, für die Menschen, die hier arbeiten, gilt ja auch nicht ein anderer Steuersatz. Muss man dann nicht sagen, gleiches Kindergeld für gleiche Steuerbelastung?
    Dedy: Ja, es kann durchaus sein, dass wir differenzieren müssen. Was mich so ein bisschen stutzig macht in der Debatte, ist, dass es gar nicht besprochen werden soll. Ich meine, wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, ob nicht Fehlanreize drin sind und ob nicht die Tatsache, dass wenn ich in Deutschland lebe und mein Kind lebt in einem Land mit deutlich niedrigeren Lebenshaltungskosten – das sind ja teilweise, ich weiß nicht, 20, 30, 40 Prozent des deutschen Niveaus –, ob dann das deutsche Kindergeld angemessen ist. Das ist eigentlich die zentrale Frage.
    "Haben auch Fälle von gezieltem Ausnutzen"
    Heinemann: Ich hatte aber, Entschuldigung, eine andere Frage gestellt: Wenn ausländische Arbeitskräfte hier nach deutschen Regeln steuerlich veranlagt werden, haben sie dann nicht auch das Recht, das gleiche Kindergeld zu bekommen?
    Dedy: Ja, grundsätzlich haben sie das, und grundsätzlich ist das auch nicht der Kern unseres Themas. Also da würde ich Ihnen zustimmen, das ist richtig, das ist sinnvoll, trotzdem würde ich gerne auf der europäischen Ebene darüber diskutieren, was kann man tun, damit auch die Fehlanreize, die es in dem System gibt, rausgenommen werden. So ein bisschen sind wir auf zwei Seiten unterwegs. Sie kommen von dem Idealfall, der auch das Denken der EU-Kommission prägt: Jemand geht arbeiten in einem anderen Land, und dann soll er dort auch die entsprechenden Ansprüche haben. Ist okay, aber wir haben eben neben dem Normalfall auch Fälle von gezieltem Ausnutzen. Mit denen müssen wir uns natürlich auch beschäftigen …
    Heinemann: Und auf die kommen wir gleich noch mal zu sprechen.
    Dedy: Aber die sind im Moment nicht rechtswidrig. Die sind im Moment nicht rechtswidrig. Wenn ich aus Rumänien nach Deutschland komme, habe ich hier einen Kindergeldanspruch, ob ich arbeite oder nicht. Das ist unser Thema.
    Heinemann: Der Europäische Gerichtshof wollte Großbritannien vor der Brexit-Abstimmung entgegenkommen, um den EU-Kritikern auf der Insel den Wind aus den Segeln zu nehmen, nach der Brexit-Abstimmung war das Thema dann auf einmal wieder vom Tisch. Wie bewerten Sie die Haltung der EU in dieser Frage?
    Dedy: Ich habe es gerade schon versucht anzudeuten, ich bin zurückhaltend, was die Grundhaltung der EU-Kommission angeht. Sie gucken nur auf den Normalfall des europäischen Binnenmarktes. Sie gucken auf die Arbeitswanderung, auf die Freizügigkeit, und sagen, wenn jemand wandert, dann muss er auch die Ansprüche in dem Land bekommen oder haben, in das er wandert.
    Ich sage, wir haben aber viele Fälle, in denen gerade beim Kindergeld dieser Grundsatz nicht gilt. Wenn ich wandere in ein anderes Land, aus Bulgarien nach Deutschland, dann habe ich in Deutschland einen Kindergeldanspruch, ob ich hier einen Job habe oder ob ich keinen Job habe, ob ich schwarz arbeite oder nicht schwarz arbeite. Und da, glaube ich, ist ein Fehler im System, und über den würde ich ganz gerne nachdenken.
    Heinemann: Eine Indexierung, eine Anpassung der Kindergeldsätze würde vermutlich überhaupt gar nichts bringen, das hat uns gestern der FDP-Sozialpolitiker Matthias Seestern-Pauly erklärt im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen.
    Matthias Seestern-Pauly: Weil der normale Weg darüber läuft, dass beispielsweise jemand betrügen möchte, mit gefälschten Geburtsurkunden zu einem Einwohnermeldeamt geht, da eine Adresse angibt, die hinterlegt, und wie bei jedem anderen Bürger ja auch einige Wochen darauf dann die Steueridentifikationsnummer ja zugeschickt wird. Und mit dieser Steueridentifikationsnummer beantrage ich dann bei der zuständigen Familienkasse das Kindergeld. Das bedeutet, dass wir eigentlich schon ganz am Anfang dieser Kette unterbinden müssen, dass man überhaupt in das System reinkommt, beispielsweise um zu überprüfen, ob die Kinder, die per gefälschter Geburtsurkunde dann da vorgelegt werden, überhaupt existieren. Das heißt, wir bräuchten de facto eigentlich ein europäisches Melderegister, um überprüfen zu können, ob diese Kinder überhaupt existieren.
    "Das System ist an der Stelle missbrauchsanfällig"
    Heinemann: Das ist der eine Vorschlag des FDP-Politikers Seestern-Pauly, der andere die Vernetzung der Familienkassen und ein Außendienst der Familienkassen, der in Zweifelsfällen überprüft, ob die gemeldeten Kinder überhaupt leben. Warum gibt es das nicht längst?
    Dedy: Vor zwei Jahren gab es einen Staatssekretärsausschuss, der sich mit diesen Fragestellungen befasst hat. Die Bundesregierung hat jetzt gesagt, sie geht noch mal ran an das Thema, ich denke, wir müssen da ran. All diese Vorschläge, die da gekommen sind, sind richtig. Es gibt weitere: Es gibt einen großen Bereich von Schwarzarbeit, da spielt der Zoll eine Rolle, und wir haben das zentrale Thema, dass die Menschen, die aus Südosteuropa kommen, gezielt in zehn, fünfzehn Städte etwa zuwandern und in diesen Städten dann meist unter menschenunwürdigen Bedingungen in Schrottimmobilien leben. Das heißt, es ist gar nicht so, dass ich sage, auch in den Missbrauchsfällen, die Menschen aus Rumänien oder Bulgarien sind Täter, sie sind ganz oft Opfer, aber trotzdem ist das System eben an der Stelle missbrauchsanfällig.
    Heinemann: Alles nichts Neues. Warum ist bisher nichts passiert?
    Dedy: Also dass nichts passiert, das ist falsch. Es hat eine ganze Reihe von Entwicklungen gegeben, wir sind im Bereich der Wohnungsüberwachung weitergekommen, es hat in Nordrhein-Westfalen vor zwei Jahren eine intensive gemeinsame Aktion gegeben von kommunalen Ordnungsbehörden, vom Zoll, von der Bundesagentur, von den Kindergeldkassen. Also da passiert eine ganze Menge, das war auch erfolgreich, aber es bleibt eben eine Aufgabe, mit der wir uns auseinandersetzen müssen. Das muss weitergehen, und diese Debatte noch mal zu verdeutlichen oder das Thema noch mal anzusprechen, das war auch Ziel unseres Statements gestern.
    Heinemann: Herr Dedy, zurück zu Ihrer ersten Antwort eben noch mal: Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link, SPD, hat gestern Folgendes gesagt: "Wir haben derzeit rund 19.000 Menschen aus Rumänien und Bulgarien in Duisburg, Sinti und Roma. Vor knapp sechs Jahren, 2012, hatten wir erst 6.000 in Duisburg." Jetzt einmal jenseits der Zahlen: Wie führt man diese Debatte, a) indem man die Fakten benennt, aber b) ohne bestimmte Menschen herabzuwürdigen.
    Dedy: Finde ich ausgesprochen schwierig, ist auch ein Punkt, der mir große Kopfschmerzen macht im Moment. Ich hab eben schon mal gesagt, wir müssen das Thema ansprechen, wir müssen auch ansprechen können, wenn wir glauben, dass Fehlanreize da drin sind, wir müssen auch ansprechen können, wenn wir Missbrauch wahrnehmen. Auf der anderen Seite erreichen uns gerade jetzt auch sehr viele Zuschriften von Menschen aus Rumänien, aus Bulgarien, die sich getroffen fühlen durch die Debatte gestern.
    Das auseinanderzuhalten, geht, glaube ich, nur, indem man in der Sprache klar ist, und geht auch, glaube ich, nur, indem man in der Haltung klar ist. Wir haben gestern gesagt, es gibt keinen Generalverdacht, wir haben gestern gesagt, wir brauchen keine Stimmungsmache, und wir haben gesagt, wir müssen uns mit dem Thema faktisch auseinandersetzen, also auf der Grundlage dessen, was wir wissen. Das Ganze ist eine Frage, ich glaube, von Sprache, von Diktion und auch von vielleicht Nachdenklichkeit.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.