Donnerstag, 28. März 2024

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Kinderschutzbund: Gemeldete Misshandlungen sind nur Spitze des Eisbergs

Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Hilgers, hat die hohe Zahl der gemeldeten Fälle von Kindesmisshandlungen in Deutschland als Spitze des Eisberges bezeichnet. Allerdings beweise die gestiegene Zahl der Anzeigen ein höheres Bewusstsein für das Problem in der Gesellschaft. Hilgers betonte, es sei notwenig, dass Gesundheitsdienste und die Jugendhilfe offensiver auf Problemfamilien zugehen.

Moderation: Bettina Klein | 30.12.2005
    Bettina Klein: Zum Rückblick auf das Jahr 2005 gehört leider hierzulande auch, gehören auch die dramatischen Fälle von Kindesmisshandlungen, die die Öffentlichkeit erschütterten in diesem Jahr. Es waren besonders grausame Geschehnisse: Vernachlässigung oder Misshandlungen, die tödlich endeten. Im Fall der Jessica aus Hamburg wurden die Eltern wegen Mordes verurteilt. Nur die Spitze eines Eisberges, sagen Kinderschutzorganisationen. Und in dieses Bild scheint ein Bericht der Zeitung "Die Welt" zu passen, die heute aus bisher unveröffentlichten Statistiken des Bundeskriminalamtes zitiert. Danach sind die Fälle von Kindesmisshandlungen seit 1996 um 50 Prozent gestiegen. Das klingt dramatisch. Und darüber möchte ich jetzt sprechen mit dem Präsidenten des Deutschen Kinderschutzbundes, mit Heinz Hilgers. Zuerst mal die Frage, Herr Hilgers: Wie können wir denn erkennen, ob die Zahl der Fälle tatsächlich angestiegen ist oder ob einfach mehr Fälle gemeldet werden?

    Heinz Hilgers: Ja, jedenfalls nicht an der Kriminalstatistik. Die Kriminalstatistik weist die gemeldeten Fälle aus. Und man sieht ja auch einen sehr großen Unterschied zwischen Städten: Überall da, wo Polizei, wo auch die Jugendhilfe sich intensiv bemühen, werden mehr Fälle aufgedeckt als in Städten, wo dies nicht geschieht. Und die Spitze des Eisberges ist etwas deutlicher geworden. Wir wissen auf der anderen Seite, dass etwa im selben Zeitraum die Zahl der Kinder, die - aus anderen Untersuchungen -, die Zahl der Kinder, die regelmäßig mit Gegenständen geschlagen werden, von einer Million auf etwa 700.000 zurückgegangen ist. Und das sind natürlich viel höhere Zahlen als die Zahlen, die den Strafverfolgungsbehörden bekannt sind.

    Klein: Doch noch mal kurz gefragt: Worauf führen Sie zurück, dass mehr Misshandlungen gemeldet werden?

    Hilgers: Vielleicht gibt es in der einen oder anderen Stadt und in den Bereichen auch mehr Bewusstsein dafür. Das ist bekannter geworden, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben durch das Gesetz zum 1.1.2000. Und im Übrigen, auch darauf, dass eben in bestimmten Städten sich die Kriminalpolizei, die Polizeidienststellen und die Jugendämter mehr um dieses Problem kümmern.

    Klein: Insgesamt betrachtet: Gewalt gegen Kinder und Gewalt gegen Jugendliche, wie schätzen Sie die Situation derzeit ein in Deutschland, wenn Sie sie bewerten würden?

    Hilgers: Ja, also ich würde sagen, die Dunkelziffer ist etwas kleiner geworden. Aber nur ganz wenig. Die Situation ist nach wie vor schlimm. Und man darf nicht vergessen: Jeder Einzelfall ist furchtbar. Und es ist dringend erforderlich, dass wir uns offensiver mit Hilfeinstrumenten an die Eltern wenden.

    Klein: Was würde das für Sie bedeuten? Also die Bundesfamilienministerin hat jetzt ein Frühwarnsystem vorgeschlagen und angekündigt. Wie müsste das aussehen, damit es etwas bringt?

    Hilgers: Ja das ist jetzt erstmal ein Wort. Inhaltlich ist notwendig, dass sich die Gesundheitsdienste und die Jugendhilfe besser vernetzen, dass sie offensiver auf Problemfamilien zugehen. Aber ich würde sogar sagen: Ein Jugendamt wäre gut beraten, wenn der Soziale Dienst und die mit ihm zusammenarbeitenden freien Träger alle Eltern besuchen, jedes Neugeborene besuchen, mit einem Babybegrüßungspaket, in dem alles drin ist, von den ärztlichen U-Untersuchungen bis hin zu Elternbriefen. Und dass einfach man sagt: Kinder sind in unserer Stadt, in unserem Land willkommen, wir freuen uns und wenn Sie mal Hilfe brauchen, sind wir da. Und dass man darüber hinaus dann auch zu bestimmten Terminen bei den Eltern, die ihr Kind nicht zum Kindergarten anmelden und verspätet zur Schule, auch offensiv einen Hausbesuch macht und sich mal zeigt und Hilfe anbietet. Nicht im Sinne von Kontrolle, sondern im Sinne von offensiv Hilfe anbieten. Es reicht heute nicht mehr aus, in seiner Beratungsstelle oder in seiner Einrichtung zu sitzen und zu warten, bis die Probleme auf einen zukommen.

    Klein: Nun, Herr Hilgers, rein praktisch kann ich mir das schwer vorstellen. Also, Begrüßungsbesuche bei allen Neugeborenen und deren Eltern - das ist sicherlich ein schönes Zeichen, ein gutes Signal, vielleicht kann man auch wirklich schwere Probleme da schon erkennen. Doch was ist mit Familien, wo alles sehr harmonisch aussieht, die scheinbar auch keine sozialen Probleme haben und wo dennoch später ja Gewalt auftreten kann? Also wie will die Gesellschaft dem einen Riegel vorschieben?

    Hilgers: Man kann nicht allem einen Riegel vorschieben. Das ist sehr deutlich und das ist auch nicht möglich - auch nicht mit Pflichtuntersuchungen für die Früherkennungsuntersuchungen. Nein, das geht nicht. Es wird immer möglich sein, dass es schreckliche Fälle gibt. Das ist schlimm für jeden Einzelfall, aber ganz auszuschließen ist das nicht. Wir müssen als Gesellschaft insgesamt natürlich eine bessere Einstellung zu den Menschen, zu den Eltern gewinnen, die Verantwortung für Kinder tragen, und wir müssen unsere gesamten Hilfesysteme verbessern und wir müssen unsere Kindertagesstätten und unsere Schulen wirklich zu Hilfezentren für Kinder und Familien umbauen.

    Klein: Wie weit haben sich denn die Erziehungsvorstellungen geändert nach Ihrer Erfahrung und Einsicht? Also in einer Umfrage haben wohl 70 Prozent der Kinder angegeben, Ohrfeigen zu bekommen. Das galt früher als ein ganz normales, notwendiges Erziehungsmittel. Hat sich daran was geändert in größerem Maßstab?

    Hilgers: Ja, positiv. Die Gewalt in den Familien ist im historischen Zusammenhang deutlich zurückgegangen, sowohl über die Generationen hinweg als auch in den letzten 15, 20 Jahren. Das ist erfreulich. Das hat mit Aufklärung und Bildung zu tun. Und gerade Elternkurse, Elternbildung sind notwendig und müssen auch angeboten werden. Sie werden aber die Familien in besonderen Problemlagen, im Armutsbereich, nicht erreichen. Da sind offensivere Methoden notwendig.