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Kino
Vom Stummfilm zur Second Screen App

Das Kino ist ein Raum, der sich in den letzten Jahren stark gewandelt hat. Vor allem im Hinblick auf den technischen Fortschritt. Im Einstein Forum in Potsdam sprachen Historiker, Soziologen und Kulturwissenschaftler über Geschichte und Bedeutung des Kinos von einst und heute.

Von Andreas Beckmann | 22.05.2014
    Ein Filmstreifen liegt am Freitag (12.10.2012) in Köln auf einem Leuchttisch.
    Das Kino hat sich vor allem durch die Digitalisierung gewandelt. (dpa/lnw/Oliver Berger)
    Julian Hanich:"Ich würde ja behaupten, dass sich alleine über eine Komödie zu amüsieren einen deutlich geringeren Lustfaktor bringt als mit 300 anderen Leuten, die laut loslachen, in einem Kino."
    Für Julian Hanich, der an der Universität Groningen "Film Studies" lehrt, bedeutet ein Kinobesuch mehr, als einfach einen Film zu sehen. Es ist eine Erfahrung, die man in jedem Fall mit anderen teilen kann und die manchmal unvergesslich bleibt:
    "Wenn man als Teenager mit den Eltern zusammen einen Film geguckt hat, wenn in dem Film plötzlich eine Kuss- oder gar eine Sex-Szene zu sehen war, dann hat das plötzlich eine klare Fokussierung auf den Blick der Eltern, die neben einem sitzen, man schämt sich geradezu, daran lässt sich ganz gut erkennen, wie stark der Einfluss der kopräsenten Mitzuschauer auf die Filmwahrnehmung sein kann."
    Fast alle im Kino beobachten nicht nur die Handlung auf der Leinwand, sondern ebenso ihre Sitznachbarn. Jeder ist somit Teil der Inszenierung. Das kann stören, wenn das Pärchen vor einem ständig die Köpfe zusammensteckt. Es kann ablenken, wenn der Popkornduft aus den hinteren Reihen nervt. Aber trotzdem, meint Julian Hanich, schärft dieses Umfeld die Konzentration auf das ästhetische Erlebnis, sobald die Lichter ausgehen.
    "Wenn wir dort mit, sagen wir 300 Leuten sitzen, und die alle gebannt den Film verfolgen, würde ich sagen, dass wir, wenn wir konzentriert gemeinsam einen Film sehen, den auch intensivier erleben."
    Dieses konzentrierte Erlebnis stand aber keineswegs am Anfang der Erfolgsgeschichte des Kinos. Es stellte sich erst ein, nachdem sich die Lichtspieltheater als Teil der Hochkultur etabliert und ihre Ursprünge als Jahrmarkt-Attraktionen hinter sich gelassen hatten.
    Jeanette Toussaint:
    "Es fing in Schaustellerbuden und provisorischen Spielstätten an, dass Menschen umhergereist sind mit Projektoren und ihre Bilder gezeigt haben an unterschiedlichen Orten."
    Die Ethnologin Jeanette Toussaint schreibt gerade an einer Kinogeschichte Potsdams. Die begann wie andernorts Anfang des 20. Jahrhunderts mit "lebenden Fotografien", wie es auf alten Plakaten heißt, die mit Hilfe von Kinematografen abgespielt wurden. Das Medium selbst war die Sensation, auf die Inhalte kam es zunächst weniger an.
    "Das waren kurze bewegte Bilder, kurze Gags, die man inszeniert oder aktuelle Bilder wie zum Beispiel Militärparaden. Oder Kaiser-Besuch. "
    Nach ersten Erfolgen auf der Kirmes hielten die Projektoren Einzug ins Wirtshaus. Ein Mann am Klavier spielte live den Soundtrack zu den Streifen, die schon mal eine Viertelstunde lang sein konnten. Das Publikum an den Tischen zechte und rauchte weiter. In den 20er-Jahren entstanden Filmpaläste, in denen die Zuschauer jetzt diszipliniert in Reihen saßen und nicht nur auf riesige Leinwände schauten, sondern auch ganzen Orchestern lauschten.
    Ton bringt Umbruch
    Der Tonfilm brachte der Branche den ersten Umbruch, der sich im Zuge der wirtschaftlichen Depression in den 1930er-Jahren zur Krise auswuchs und viele Lichtspielhäuser in den Ruin trieb. Eine neue Blütezeit kam nach dem Zweiten Weltkrieg, bis das Fernsehen Ende der 60er-Jahre ein zweites großes Kinosterben einleitete.
    "Es wurde ja auch versucht, darauf zu reagieren, indem man eher alters- oder gruppenspezifische Programmangebote entwickelt hat oder kleinere Kinoformen wie Studiokinos oder eben Gastronomie-Kinos entwickelt, also die Leute mit Film und kulinarischem Erleben ins Kino zu locken. "
    Wer etwas auf sich hielt, ging ins Arthouse- oder Programm-Kino, um Filme zu sehen, die nicht so bald oder vielleicht nie ins Fernsehen kommen würden. Wer mehr dem Massengeschmack folgte, konnte vielleicht bei großen Premieren vor Filmpalästen am roten Teppich stehen.
    Julian Hanich:
    "Da gibt es ja auch ganze Genres des Kinos, die darauf abzielen, dass man sehr lautstark, expressiv mit dem Film mitgeht. Das klassische Beispiel, was da immer genannt wird, ist "The Rocky Horror Picture Show", wo also das Publikum in Verkleidung kommt, im Saal sich sehr aktiv verhält, mit Reis umschmeißt und mit Wasserpistolen herum schießt und dergleichen."
    Die vielfältig ausdifferenzierte Szene geriet bald wieder unter Konkurrenzdruck durch Videotheken, die es jedem erlaubten, sich ein eigenes Programm fürs "Heimkino" zusammenzustellen.
    "Es gibt ja auch einen Vorteil, wenn ich mir zu Hause einen Film alleine auf meinem Laptop angucke, im stillen Kämmerlein sozusagen. Dafür scheint mir ein klares Indiz zu sein, dass die noch in den 70er-Jahren weitverbreiteten Porno-Kinos heute nicht mehr vorhanden sind."
    Second Screen Apps
    Die Filmwirtschaft konzentriert sich heute weitgehend auf Blockbuster, die ihre gigantischen Produktionskosten in wenigen Wochen wieder einspielen sollen. Das funktioniert am besten in riesigen Multiplex-Centern mit vielen unterschiedlich großen Sälen, zwischen denen die Filme je nach Nachfrage kurzfristig hin und her geschoben werden können.
    Ihren eigenen Werbespots glaubt die Filmwirtschaft längst nicht mehr. Sie weiß: In über 90 Prozent der Fälle, in denen in Europa jemand einen Film anschaut, geschieht dies nicht mehr vor einer Leinwand, sondern zuhause oder unterwegs vor einem Bildschirm, sei dieser ein Fernseher, Labtop, Tablet oder Smartphone. Und neueste Studien deuten darauf hin, dass fast drei Viertel der Nutzer dabei noch ein zweites Gerät in Sichtweite haben, etwa um nebenbei Mails zu checken. Um die Aufmerksamkeit ihrer Kunden zu binden, wollen die Filmgesellschaften auch auf diesem zweiten Bildschirm präsent sein. Und zwar durch Second Screen Apps, deren Funktionen Jan Distelmeyer in einem gemeinsamen Studiengang von Fachhochschule und Universität Potsdam zur Europäischen Mediengeschichte erforscht:
    "Das Versprechen, das Second Screen Apps der großen Filmstudios bieten, ist, dass man sozusagen in den Film eintaucht. Was meistens angeboten wird, sind Informationen, Hintergründe, Extra-Materialien, die parallel zum laufenden Film über den zweiten Bildschirm angeschaut werden können."
    Second Screen Apps sollen Zuschauer zudem in Foren und Chats lenken, wo sie über den Film diskutieren können. Bisher werden die Apps hauptsächlich parallel zu beliebten Fernsehreihen wie dem "Tatort" angeboten oder zu berühmten US-Serien, die übers Internet eine weltweite Fangemeinde gefunden haben, die sich austauschen will.
    "Die User werden eingeladen, Dinge zu kommentieren, das ist natürlich der große Traum der Industrie, dass die Konsumenten nicht nur bezahlen, sondern auch kostenlos Werbung machen für diese Produkte, indem sie ihre Kommentare in den sozialen Medien verbreiten und die ja dann im Gegensatz zu der Flüsterpropaganda "Geh in den Film, der ist gut!" Öffentlich stattfinden und einsehbar für alle."
    Der Disney-Konzern hat Second Screen Apps auch schon einmal im Kino getestet. Parallel zu einem Kinderfilm sollten die Kleinen auf dem Tablet Fragen zur Handlung beantworten. Ob ihnen das gefiel, bleibt geheim, erzählt Jan Distelmeyer:
    "Der Versuch, den Second Screen, der im Kino natürlich auch präsent ist, tatsächlich auch in die Narration einzubinden, das steht noch aus in den großen Studios. Ob man es vielleicht so weit treibt, dass wenn die Heldin eine SMS bekommt, alle die, die im Kino sitzen, auch eine SMS bekommen und damit die Narration sich auch auf die Second Sreen-Ebene verlagern kann, das wird man sehen."
    Seit seiner Erfindung hat das Kino seinem Publikum immer wieder neue Sichtweisen beigebracht. Genau das wird es wohl auch in Zukunft tun.
    Julian Hanich:
    "Das Kino wird weiter bestehen. Es wird immer noch weiter ein Bedarf daran bestehen, gemeinsam mit anderen Dinge zu erleben und eben nicht nur allein. Aber wir sind eben heute an einem Punkt, wo wir uns permanent Gedanken machen können, mag ich es heute lieber so erfahren oder lieber in einer anderen Form?"
    Jan Distelmeyer:
    "Ich denke, dass die Formen, die Filme annehmen, sich verändern, dass man sich fragen muss, was ist Kino, wo ist Kino? Das Interessante scheint mir zu sein, wie die Nutzungsweisen dieser Filme für uns vorbereitet, angedacht und nahegelegt werden. "