Kinogeschichte

Das Unglück in der Fremde

Schwarz-weißes Foto des Regisseurs Rainer Werner Fassbinder bei Dreharbeiten.
Rainer Werner Fassbinder bei Dreharbeiten. © dpa / aa / Frank Leonhardt
Von Cornelis Hähnel · 05.03.2014
Es war der erste Publikumserfolg Rainer Werner Fassbinders: In "Angst essen Seele auf" beschrieb er das Leben eines Gastarbeiters im Nachkriegsdeutschland. Vor 40 Jahren wurde der Film uraufgeführt.
Es ist Abend. Regen prasselt auf den grauen Asphalt, in den Pfützen spiegelt sich das Neonlicht der Kneipen. Angelockt durch die fremden Klänge sucht die verwitwete Putzfrau Emmi Unterschlupf in einer Wirtschaft, die vor allem von Gastarbeitern besucht wird. Dort lernt sie den deutlich jüngeren Marokkaner Ali kennen.
"Du tanzen mit mir?" "Wie bitte, tanzen?" "Ja, du allein sitzen, macht viel traurig, allein sitzen nicht gut." "Warum eigentlich nicht? Obwohl, ich hab mindestens 20 Jahre nicht mehr getanzt. Eher mehr. Vielleicht kann ich gar nicht mehr tanzen." "Macht nix. Tanzen ganz langsam."
Die beiden werden ein Paar, doch Emmi ahnt schnell, dass ihr Umfeld ablehnend auf die neue Liebe reagieren wird: "Bitte! Warum weinen?" "Weil ich so glücklich bin und weil ich solche Angst habe". "Nix Angst, Angst nix gut. Angst essen Seele auf." Trotz aller Zuversicht droht die Beziehung des ungleichen Paares an den überkommenen Moralvorstellungen der Gesellschaft zu zerbrechen.
"Das Glück ist nicht immer lustig", diesen Satz hat Regisseur Rainer Werner Fassbinder seinem Film "Angst essen Seele auf", der am 5. März 1974 in München seine Premiere feierte, vorangestellt. Wie kein anderer hat sich Fassbinder in seinem Werk mit den Problemen der bundesdeutschen Nachkriegszeit auseinandergesetzt und einen schonungslosen Blick auf die innere Befindlichkeit geworfen.
Rainer Werner Fassbinder: "Ich sag immer wieder: Man muss versuchen, eine Art Kino in Deutschland zu erfinden, das richtiges Kino ist, das aber auch sehr genau auf die Umwelt, in der die Filme gemacht werden, reagiert."
Das Melodram als Ausdrucksmittel
Während viele Vertreter des Neuen Deutschen Films, wie etwa Alexander Kluge, Authentizität durch semi-dokumentarische Arbeitsweisen erreichen wollten, konzentrierte sich Fassbinder auf eine ästhetische Stilisierung. In "Angst essen Seele auf" bediente er sich der Erzählmechanismen des Melodrams – ein Genre, das seinerzeit als rührselig verschrien war und den meisten jungen Autorenfilmern zu große Parallelen zum Kino der Vätergeneration aufwies, von dem sie sich ja abgrenzen wollten.
Fassbinders Interesse für das Melodram war eine direkte Reaktion auf die Filme des Regisseurs Detlef Sierck, der vor den Nationalsozialisten in die USA geflohen war und in den 1950er-Jahren in Hollywood als Douglas Sirk Erfolge feierte. Für Fassbinder waren dessen Filme, die er 1970 bei einer Retrospektive in München gesehen hatte, eine Offenbarung. So schrieb er in einem Essay: "Ich habe sechs Filme von Douglas Sirk gesehen. Es waren die schönsten der Welt dabei."
Für "Angst essen Seele auf" ließ er sich von Sirks Film "Was der Himmel erlaubt" inspirieren. War Fassbinders Frühwerk noch von einer elitären formalen Strenge geprägt, versuchte er nun, das amerikanische Kino zu adaptieren: die Filme sollten populär, aber nicht so verlogen wie in Hollywood sein. "Angst essen Seele auf" ist daher eine bewusst naiv erzählte, fast märchenhafte Geschichte mit einfachen Charakteren. Das Publikum sollte den Film auf die eigene Lebenswelt übertragen.
Hauptanliegen bleibt der Protest
"Es stimmt nicht, dass ich den Protest, oder das, wogegen ich protestiere, dass ich das zugunsten des Films vergessen hätte. Ich habe mir überlegt, was sind die richtigeren Mittel, diesen Protest auszusprechen und ich habe eben gesehen, dass die Filme, die ich gemacht habe, wo der Protest das Wichtigere war als die Form, dass die nicht interessiert haben und dass, je mehr ich an die Form gedacht habe, zusätzlich zum Protest, die Leute sich für die Filme interessieren konnten. Und der Protest dennoch nicht verloren geht."
Fassbinder hatte die breite Masse gesucht und gefunden, "Angst essen Seele auf" wurde sein erster Publikumserfolg. Kritik an der Gesellschaft formulierte er jedoch nicht minder scharf. Am Ende des Films wird bei Ali ein Magengeschwür diagnostiziert, das – wie bei den meisten Gastarbeitern – eine psychosomatische Ursache habe, so der Arzt. Dem Zuschauer wird das private Unglück hier als direkte Folge der gesellschaftlichen Missstände gezeigt.
"Wenn ich das Bewusstsein des Einzelnen revolutioniere, verändere, dann wird man letztlich auch die Gesellschaft verändern. Das ist meiner Ansicht nach der richtige Weg, das Bewusstsein des Einzelnen, na ja, aufzuklären oder klarer zu gestalten."
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