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Kira Jarmysch: "DAFUQ"
Über den Alltag in einer russischen Gefängniszelle

Sechs Frauen, drei Stockbetten, eine Zelle: In ihrem Romandebüt "DAFUQ" inszeniert Kira Jarmysch, bekannt als Sprecherin des Oppositionellen Aleksej Nawalny, das Drama der russischen Gegenwart auf den wenigen Quadratmetern einer Moskauer Arrestzelle. Tragikomisch, dissident und verstörend aktuell.

Von Melanie Weidemüller | 14.09.2021
Kira Jarmysch: "DAFUQ" Zu sehen sind die Autorin und das Buchcover
Kira Jarmysch, die Sprecherin des russischen Oppositionellen Aleksei Nawalny, veröffentlicht ihren Debütroman (Cover: Rowohlt Verlag / Foto: privat)
"Alles begann mit einer unbequemen Wachstuchmatratze in einer Zelle der Moskauer Polizei."
So heißt es auf Seite eins im Märchenton, doch statt guter Feen ziehen in dieser russischen Tragikomödie korrupte Anwälte und schlecht gelaunte Staatsbeamte die Fäden. Der Romanauftakt wirft uns mitten in die Ereignisse: Die Hauptfigur Anja Romanova, eine 28-jährige Studentin, ist bei einer nicht genehmigten Demonstration festgenommen worden. Schon beim Aufwachen am nächsten Morgen auf dem Polizeirevier spürt sie: Gefängnis ist zuallererst eine körperliche Erfahrung.
"Die Matratze lag auf dem Fußboden, Kissen und Decke gab es nicht, sie konnte keine bequeme Position finden: Die Hand, unter den Kopf gebettet, wurde taub, in Seitenlage tat nach einer Weile der halbe Körper weh. Dass sie überhaupt ab und zu einschlief, merkte Anja nur daran, dass sie immer wieder heftig aufschreckte. Wie spät es dann jeweils war, wusste sie nicht: Die Zelle hatte kein Fenster (…) und das Telefon hatte man ihr weggenommen."
Zehn Tage Arrest wird das Urteil für Anja lauten. Sie verbringt ihn in einer beengten Gemeinschaftszelle – sechs Frauen, drei Stockbetten, eine Toilette; Hofgang, Mahlzeiten, Duschen und Handyzeit gemäß Vorschrift oder Willkür der Aufseher: Das ist die Grundkonstellation in Kira Jarmyschs Romandebüt mit dem Titel "DAFUQ", dem Gangsta-Kürzel für das englische What the fuck. Ein Buch, in dem Literatur und reale Gegenwart sich aufs Engste verzwirnen. Kira Jarmysch, seit 2014 Sprecherin des Oppositionellen Aleksej Nawalny, wurde im Februar wegen Aufrufs zu Demonstrationen festgenommen und unter Hausarrest gestellt.

Autobiografisch gefärbter Roman

Ganz offensichtlich teilt die fiktive Anja einiges mit ihrer Schöpferin: Das Geburtsjahr 1989, das Studium an der Moskauer Diplomaten-Kaderschmiede, die Sozialisierung in der Putin-Ära und die Erfahrung des Aufbruchs in der Protestbewegung. Aber so eindimensional ist dieses autobiografisch gefärbte Werk dann doch nicht.
Die scheinbar schlichte Romankonstruktion erweist sich als Sprungbrett für Zeitreisen. Die Arresttage werden von Tag eins bis neun in Kapiteln heruntergezählt, lange Rückblenden in Anjas Kindheit im Dorf, die Wirren der Pubertät, das freizügige studentische WG-Leben in Moskau lassen sie als Figur plastisch werden. Im Zentrum dieser Coming of Age-Geschichte steht Anjas allmähliche Politisierung, waren ihre ersten Demo-Besuche doch eher Partyabenteuer als reflektierte Dissidenz.
"Als die Demos aus der Mode kamen, entdeckte Anja plötzlich die unerschütterliche Entschlossenheit in sich, auch dann noch hinzugehen, wenn niemand anders es tat. Das war die Art von Heroismus, hinter dem nicht viel mehr als Sturheit steckte. Es war wohl erst mehrere Jahre später, dass Anja zum ersten Mal nicht um der Demo selbst willen, sondern aus Empörung über die Ungerechtigkeit demonstrieren ging – zu der Zeit aber bedeutete ihr die Politik längst mehr, als einfach nur auf den Barrikaden zu stehen."

Unterschiedlichste Charaktere

Ein Clou des Romans ist es, dass Kira Jarmysch nicht im gebildeten Dissidenten-Milieu kuschelt. Die Akademikerin Anja, die einzige "Politische" in der Zelle, trifft auf die selbstbewusste Lesbe Katja, die Halbkubanerin Diana, die völlig verpeilte, tablettensüchtige Irka, inhaftiert wegen nicht gezahlter Alimente. Da ist die püppchenhafte Maja, die sich ihr Luxusleben und die Silikonimplantate von reichen Männern finanzieren lässt und das völlig selbstbestimmt findet. Ihr Gegenpol: Natascha, eine chronisch schlecht gelaunte Kleinkriminelle mit fehlenden Zähnen und Sprachfehler.
Biografisch, sozial und charakterlich geben die Zellengenossinnen einen wilden Haufen ab, mal Solidargemeinschaft, mal bissige Konkurrentinnen, sechs Individuen mit Sehnsüchten und Ängsten, einsam, herumalbernd, erschöpft, angriffslustig. Sie lauschen entgeistert Majas detaillierten Belehrungen über Botox, Fettverpflanzung und Frauen als Investitionsmodell oder nehmen Anja ins Verhör.
"Katja (…) drehte sich um: 'Wie jetzt, müssen Demonstrationen genehmigt werden?' - 'Ja, eigentlich schon.' - 'Und wogegen hast du demonstriert?' - 'Gegen die Korruption. Gegen die Regierung.' - 'Und wo muss man das genehmigen lassen?' - 'Beim Bürgermeisteramt.' - 'Das heißt, man muss die Demo gegen die Regierung von der Regierung genehmigen lassen?', fragte Katja und stemmte die Arme in die Hüften. 'Ich kack ab … Genehmigen die denn überhaupt mal was?'"

Zusammentreffen verschiedener Lebensrealitäten

Bildungsroman, Gesellschaftsanalyse, Sitcom, Selbstreflexion der Protestbewegung: DAFUQ hat von allem etwas. Etwas ratlos machen die Passagen zu Anjas Visionen, die irgendwo zwischen Psychostress und magischem Denken eine weitere Ebene einziehen. Auch der Einstieg in die Lektüre ist etwas mühsam, aber dann rollt der Text.
Mit dem Zusammentreffen verschiedener Lebensrealitäten in der Arrestzelle gelingt ein vielstimmiges, oft sehr komisches Generationenporträt, das die aktuellen gesellschaftlichen Spannungen offenlegt – zwischen Land und Urbanität, Putinokratie und demokratischem Aufbruch, Prawda und Social Media, wo eine privilegierte Bildungselite über politisch korrekte Wokeness diskutiert, umzingelt von Zensur und Staatspropaganda.
Das ist analytisch erhellend, ein Intellektuellenroman ist "DAFUQ" aber gerade nicht: Kira Jarmysch erzählt aus dem gelebten Leben heraus, das ihren Roman gerade mal wieder rechts überholt. Im August wurde die 31-Jährige in Russland zu anderthalb Jahren Freiheitsbeschränkung verurteilt. Ihr jetzt in deutscher Übersetzung vorliegender Debütroman erschien 2020 in einem regimekritischen russischen Verlag und wurde hochgelobt. Hierzulande dürfte er, befördert durch die Popularität Nawalnys, eine interessierte Leserschaft finden. Und die verdient es: "DAFUQ" ergänzt die Gegenwartsliteratur um eine aufregende neue Stimme mit vielen Tonarten – zornig, zärtlich, cool, nachdenklich. Das klingt im besten Falle so:
"Anja trat von einem Bein aufs andere und sah sich um. Ihr fiel eine Szene aus Trainspotting ein, wo der Held gezwungen ist, etwas aus der schlimmsten Toilette von ganz Schottland zu fischen. Offensichtlich war er nie auf der Polizeidienststelle des Rayons Twerskoj gewesen."
Kira Jarmysch: "DAFUQ"
Aus dem Russischen übersetzt von Olaf Kühl.
Rowohlt Berlin, 416 Seiten, 22 Euro.