Donnerstag, 25. April 2024

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Kirche und Caritas
"Die Akzente müssen neu geschärft werden"

Peter Neher, Präsident des deutschen Caritas-Verbandes, fordert ein stärkeres Engagement der katholischen Kirche für sozial schwache Menschen. "Setzen wir unsere Möglichkeiten wirklich so ein, dass das denen zugutekommt, die am Rande leben und um ihre Existenz kämpfen?", fragte er im Deutschlandfunk.

Peter Neher im Gespräch mit Jürgen Zuheide | 31.05.2014
    Der Präsident des Deutschen Caritasverbands (DCV), Peter Neher spricht am 17.07.2013 in Berlin bei der Jahres-Pressekonferenz zu den Gästen.
    Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritasverbands (dpa / Rainer Jensen)
    Die Worte von Papst Franziskus, der sich eine arme Kirche für die Armen wünscht, seien provokant und ein "Stachel im Fleisch" einer Kirche, die in Deutschland über großen geistigen, intellektuellen, aber auch materiellen Reichtum verfüge. Daher sei es nötig, die Akzente der Kirche neu zu schärfen. "Und ich mache natürlich keinen Hehl daraus, dass ich mir wünsche, dass sich an manchen Stellen noch mal die Akzente zugunsten der Menschen, für die wir unsere Arbeit tun, verschieben würden", sagte Neher. "Es wäre aber auch nicht fair, so zu tun, als würden wir am Katzentisch sitzen."
    Durch den neuen Papst habe sich die Aufmerksamkeit der Kirche für das Thema bereits vergrößert. Viele Podien und Debatten auf dem Katholikentag etwa machten deutlich, dass die Kirche dabei sei, "dieses Ohr noch einmal zu schärfen - auf dem sie im Übrigen nie taub war".
    "Am Projekt einer gerechten und solidarischen Gesellschaft arbeiten"
    Neher beklagte ein Auseinanderdriften der Lebenswelten in Deutschland: Es gebe eine starke Segregation in Städten mit Vierteln, wo gut situierte Menschen lebten, und Stadtteilen mit Menschen in schwierigen Lebenslagen. Dadurch finde in den Schulen kein Austausch und kein Kontakt mehr statt. "Das ist für eine Gesellschaft hochproblematisch, wenn sich ganze Gesellschaftsgruppen isolieren und damit nicht einmal am gemeinsamen Projekt einer gerechten und solidarischen Gesellschaft arbeiten."
    Die Verantwortung, dies zu ändern, liege aber nicht allein beim Staat: "Es ist der Reichtum unserer Gesellschaft, dass der Staat nicht Monopolist der sozialen Aufgabe ist", so Neher. Erst die Vielfalt der Engagements unterschiedlicher Gruppen ermögliche es, nah am Menschen zu sein und vielfältige Nöte aufzugreifen.

    Das Gespräch in voller Länge:
    Jürgen Zurheide: Beim Katholikentag heute wird weiter diskutiert. Dort wird der Bundeswirtschaftsminister sein, dort wird der Chef der Katholischen Bischofskonferenz sein, Reinhard Marx, und man wird sehr politisch diskutieren, denn es ist ein politischer Kirchentag, wo es auch um die Frage geht: Wie muss die Kirche sich eigentlich ökonomisch aufstellen und was muss bei der Kirche dort verändert werden? Dass da möglicherweise das eine oder andere verändert werden muss, scheint klar angesichts der Diskussionen um Limburg. Wir begrüßen jetzt am Telefon den Präsidenten der Caritas, Peter Neher, und mit ihm wollen wir über dieses Thema reden. Guten Morgen, Herr Neher!
    Peter Neher: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Reiben Sie sich eigentlich gelegentlich die Ohren, wenn Sie so Sätze von Reinhard Marx hören unter der Überschrift "Kapitalismus ist nicht das Ziel, wir müssen ihn überwinden"?
    Neher: Nein. Kardinal Marx greift ja hier eigentlich nur auf, was Papst Franziskus gerade auch mal wieder unlängst in seinem Apostolischen Schreiben formuliert hat, wo der Papst deutlich macht, dass eine bestimmte Art des Wirtschaftens, und zwar weltweit betrachtet, ja, wie er sagt, Wirtschaft tötet. Also er meint eine ganz bestimmte Wirtschaft, die sich an keine Regeln hält, die nur dem Markt die entsprechenden Vorteile gewährt, Menschen ausgrenzt und Leben verhindert. Das ist eigentlich die Botschaft, die mich freut, weil das ist im Grunde ja auch die Botschaft, die die Caritas versucht, im Inland und im Ausland in ihrer konkreten Arbeit auch praktisch werden zu lassen.
    Zurheide: Jetzt gibt es den einen oder anderen, der sagt, na ja, die Botschaft höre ich gerne, aber ist das mehr als nur Rhetorik und als Anpassung an einen neuen Zeitgeist?
    Neher: Nein, ich glaube schon, dass also jetzt speziell noch mal die Worte von Papst Franziskus, wenn er sagt, er wünscht sich eine arme Kirche für die Armen, dass das schon provokant ist und das natürlich auch im Land einer katholischen Kirche, die ja durchaus über viel, sage ich jetzt mal, Reichtum, aber nicht nur materiell - da ist viel Intelligenz, da ist Kompetenz da, da ist Ehrenamt da, also da ist ein großer Schatz von Fähigkeiten da -, und ich empfinde das schon als noch mal einen Stachel im Fleisch, zu prüfen: Was tun wir denn? Also setzen wir die Möglichkeiten, die wir haben, die sich in der Geschichte ein Stück ergeben haben, wirklich so ein, dass das den Menschen zugutekommt, die am Rande leben, die um ihre Existenz kämpfen? Oder sind wir doch stark in einer bürgerlichen Mitte, sodass wir die aus dem Auge verlieren, die die Benachteiligten auch unserer Art des Wirtschaftens sind? Also ich empfinde das schon als ... Das darf keine Rhetorik bleiben, das ist schon ein Programm.
    Zurheide: Wir reden gleich darüber, was die Kirche tun muss. Ich will vorher noch mal einen Schritt zurückgehen und will den Mann der Caritas fragen: Die gesellschaftliche Realität, über die wir ja auch viel diskutieren in diesen Tagen, wir hören dann Zahlen von Herrn Piketi über das, was in unseren Gesellschaften auseinanderdriftet - ist das so?
    "Ein Auseinanderdriften von Lebensmöglichkeiten"
    Neher: Ja. Also ich denke, dass wir schon in den letzten Jahren ein Auseinanderdriften, ich sage jetzt gar nicht arm, reich, sondern von Lebensmöglichkeiten und keinen Lebensmöglichkeiten haben. Nehmen Sie her, wir haben mittlerweile eine starke Segregation in den Städten, also eine Unterscheidung von Stadtvierteln, wo wohlhabende Menschen, gut situierte Menschen leben und getrennt davon Stadtviertel, wo Menschen in schwierigen Lebenslagen ... Das heißt, da kommen die Kinder schon gar nicht mehr zusammen in der Schule, das heißt, sie erfahren sich nicht gegenseitig, sie leben nicht miteinander, sie lernen sich nicht kennen. Und das ist für eine Gesellschaft mittelfristig hochproblematisch, wenn sich hier ganze Gesellschaftsgruppen also verselbstständigen, isolieren und damit eigentlich nicht mal gemeinsam am gemeinsamen Projekt einer gerechten und solidarischen Gesellschaft arbeiten.
    Zurheide: Jetzt muss ich den Mann der Caritas nicht fragen - dass Sie versuchen, zu ändern, ist klar. Ich will Sie jetzt auch nicht mit Limburg traktieren, das wäre mir jetzt zu billig. Aber ich frage dennoch hart: Setzt die katholische Kirche die richtigen Akzente, ich sage, weniger Kult, weniger Geld für den Kult und mehr für die Caritas?
    Neher: Ich denke, dass die Akzente sicherlich noch mal neu geschärft werden müssen. Ich würde aber nicht sagen, weniger Geld für den Kult und mehr Geld für die Caritas. Ich glaube, die Kirche insgesamt hat die Aufgabe der Verkündigung der Liturgie, der Feier des Gottesdienstes und des sozialen Engagements. Das gehört zusammen, das darf man nicht auseinanderreißen. Und ich glaube, dass es tatsächlich natürlich immer wieder eine Neujustierung braucht: Sind die Mittel so vergeben und so eingesetzt, die wir haben, dass tatsächlich auch die Caritas ihre Aufgabe tun kann? Und ich mache natürlich keinen Hehl draus, dass ich mir schon wünschte, dass sich an manchen Stellen hier die Akzente noch mal zugunsten der Menschen, für die wir unsere Arbeit tun, verschieben würden. Aber es wäre auch nicht fair, so zu tun, als würden wir hier nur am Katzentisch sitzen. Aber ich glaube, dass für unsere Kirche insgesamt diese Frage schon ansteht, aber genauso für uns als Caritas selber: Setzen wir auch unsere Möglichkeiten so ein, dass dazu Menschen zu neuen Lebensmöglichkeiten kommen? Also das ist eine Aufgabe der Kirche als Ganze und damit natürlich auch der Caritas selber.
    Zurheide: Wird die Botschaft innerhalb der Kirche gehört, Ihre Botschaft?
    Neher: Das ist eine gute Frage. Ich habe schon den Eindruck, dass sich jetzt in den letzten zwei Jahren auch durch Papst Franziskus hier das Hören geschärft hat. Ich wünsche mir natürlich auch, dass nicht nur meine Stimme, sondern die der vielen Verantwortlichen im Bereich der verbandlichen Caritas in Deutschland hier in den eigenen Bistümern jeweils Gehör findet. Das gelingt mehr, das gelingt weniger. Ich glaube aber, dass sich was geändert hat, und ich bin zuversichtlich - auch hier auf dem Katholikentag: Die vielen Podien, die Debatten, die geführt werden, machen schon deutlich, dass unsere Kirche dabei ist, hier dieses Ohr noch mal zu schärfen, auf dem sie im Übrigen nie taub war, aber wo sie hier noch mal deutlich die Akzente in Richtung Engagement, Einsatz für Menschen, die tatsächlich ums Leben kämpfen und engagiert sind, dass die Unterstützung brauchen.
    Zurheide: Wenn es die Caritas nicht machen würde, müsste es der Staat machen, könnte man ja auch sagen, dann soll es der Staat machen. Warum plädieren Sie - was kein Wunder ist - für die andere Variante?
    Neher: Ich glaube, das ist ein Reichtum unserer Gesellschaft der letzten Jahrzehnte, dass eben der Staat nicht Monopolist der sozialen Aufgaben ist, sondern dass es Aufgabe ist einer Gesellschaft, alle gesellschaftlichen Kräfte auch zu engagieren, Stichwort Subsidiarität, dass hier wertorientierte Einrichtungen, Dienste genauso ihre Arbeit machen. Und ich glaube, die Vielzahl der Engagements, die wir in unserem Land haben, die ermöglicht erst, tatsächlich nah am Menschen zu sein und das aufzugreifen, was nottut. Also ich hätte große Sorge und ich möchte keinen Staat, der omnipotent für alles zuständig ist. Ich bin froh, dass wir in einer so differenzierten Gesellschaft leben, wo die unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte, auch die der Kirche mit ihrer Caritas, tatsächlich hier auch zum Zug kommen und ihr Engagement und ihre Arbeit leisten können, ganz zu schweigen: Es ist unsere Aufgabe aus dem Evangelium heraus, für die Menschen da zu sein, da brauchen wir gar keinen staatlichen Auftrag dazu.
    Zurheide: Das war der Präsident der Caritas in Deutschland, Peter Neher. Herr Neher, ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch. Danke schön!
    Neher: Ich danke Ihnen, Herr Zurheide!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.