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Kirchensteuer
"90 Prozent zahlen für den Rest"

Wer einer Kirche angehört, zahlt Kirchensteuer. Nur zehn Prozent dieser Menschen nähmen aber aktiv am Gemeindeleben teil, sagte der Politikberater Erik Flügge im Dlf. Wenn eine Organisation 90 Prozent ihrer Mitglieder nicht kenne, dann werde es schwer, dauerhaft zu überleben. Sein Vorschlag: An den Haustüren klingeln.

Erik Flügge im Gespräch mit Christiane Florin | 08.05.2018
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    Der Politikberater Erik Flügge macht sich Gedanken über die Zukunft der Kirchen. (Ruprecht Stempell )
    Christiane Florin: "Warum die Kirche an ihrer Sprache verreckt". Das Buch mit dem deftigen Titel wurde vor zwei Jahren ein Bestseller und sein Autor, der Politikberater Erik Flügge ist seitdem in beiden Kirchen ein gefragter Gesprächspartner. Verreckt sind die Kirchen nicht, ein Objekt für Wiederbelebungsversuche sind sie. Pünktlich zum Katholikentag, der morgen beginnt, denkt Erik Flügge wieder öffentlich nach. "Eine Kirche der vielen" – verspricht er nun in seinem neuen Buch. Für diese Vision reichen ihm und seinem Co-Autor David Holte wenige Seiten, genaugenommen 80. Ich habe vor der Sendung mit Erik Flügge gesprochen. Er ist Anfang 30 – gehört damit zu einer Altersgruppe, die in den meisten evangelischen und katholischen Gemeinden selten anzutreffen ist. Und deshalb habe ich ihn zunächst gefragt, warum sich ein Hipster wie er überhaupt mit den Kirchen befasst.
    Erik Flügge: Weil sie mich biografisch ganz stark geprägt hat. Mein ganzer Werdegang ist von der Kirche mit bedingt worden. Das heißt für mich zum Beispiel, dass ich eine lange Ehrenamtsbiografie habe in der katholischen Kirche, in der ich sehr viel von dem gelernt habe, was heute meinen Alltag prägt.
    Florin: Es ist also Dankbarkeit.
    Flügge: Ja, es ist Dankbarkeit, und es ist auch Interesse. Ich glaube, wer so lange wie ich in der Kirche mitgemacht hat, der findet das System Kirche nie ganz unspannend.
    Florin: Eigentlich ist das ein ganz interessanter Ansatz, dass die meisten Kirchensteuer bezahlen für etwas, dessen Leistungen – im engeren Sinne – sie gar nicht in Anspruch nehmen. Die wenigsten davon gehen in den Gottesdienst, die wenigsten engagieren sich in der Gemeinde, manche nutzen Kindergärten, Schulen... Aber ist doch eigentlich für die Kirche eine feine Sache: So viele Leute zahlen und nehmen das Angebot kaum wahr.
    Flügge: Ja, das ist unglaublich praktisch für diejenigen, die das Angebot wahrnehmen, weil es im Kern bedeutet, dass sie – das sind etwa zehn Prozent der Kirchenmitglieder, die am Gemeindeleben teilnehmen – dass diese zehn Prozent alles Geld für sich behalten können, und 90 Prozent tatsächlich nur für den Rest zahlen.
    Florin: 90 Prozent zahlen für die zehn Prozent: Das klingt nach einer Neiddebatte, die Sie da eröffnen wollen.
    "90 Prozent der Mitglieder kriegen nie etwas von dieser Kirche mit"
    Flügge: Ich glaube, es ist keine Neiddebatte, ich glaube, es ist die große Zukunftsdebatte der katholischen wie der evangelischen Kirche. Es fällt jeder Organisation schwer, dauerhaft zu überleben und dauerhaft Relevanz in der Gesellschaft zu erzeugen, wenn sie 90 Prozent ihrer Mitglieder nicht kennt. Und nachdem alle Ressourcen in den beiden großen Kirchen im Wesentlichen in die Gemeindearbeit fließen und die wesentliche Kontaktoberfläche die Kirchengemeinde ist und das Abwarten, dass die Leute kommen, dann ist die Konsequenz daraus, dass 90 Prozent der Leute nie was von dieser Kirche mitkriegen und sie deswegen auch in der Öffentlichkeit nicht verteidigen, deswegen an ihren Diskursen nicht teilnehmen und deswegen auch nicht mitbekommen, wofür diese Kirche steht.
    Florin: Was haben Sie gegen Gemeinden?
    Flügge: Ich habe gar nichts gegen Gemeinden. Was ich will, ist das, dass die Gemeinden begreifen, dass sie aktuell 100 Prozent des gesamten Geldes, der gesamten Ressourcen der Kirche verbrauchen und den anderen nichts abgeben, und dass es ein Gewinn sein könnte für die gesamte Kirchengemeinde, wenn man die 90 Prozent der Gemeinde mit in den Blick nimmt, die heute nicht kommen.
    Florin: In Ihrem Buch kommt auch ein Freund zu Wort, David Holte. Der ist aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Hören wir einmal, was er schreibt.
    Was hätte mich also damals davor bewahrt auszutreten? Ich stelle mir vor, ein Kirchenmitarbeiter steht vor meiner Tür und sagt: »Lieber David, vielen Dank für deinen Beitrag. Wir bauen von unseren Mitteln aktuell den örtlichen Kindergarten aus. Und erzähl doch mal, wie hältst du’s mit dem Glauben?« Zack, ein Kontakt wäre entstanden. Ich bin mir sicher, daraus wäre ein fruchtbares Gespräch geworden. Egal, ob ich nun glaube, Gott hat die Welt in sieben Tagen geschaffen oder nicht, der persönliche Austausch über grundlegende Fragen hätte gewirkt.
    Wenn ich das Gefühl hätte »Hey, da ist eine Person, die hat ernsthaftes Interesse an mir« – ich bin mir sicher, ich hätte auch ernsthaftes Interesse an ihr.
    Florin: Was lernen Sie daraus?
    Flügge: Ich bin gestartet – als ich dieses Buch angefangen habe zu schreiben – damit, dass ich die These aufgestellt habe: Eigentlich müssten wir Kirchengemeinden so umbauen, dass wir nicht immer neue Angebote entwickeln, um neue Zielgruppen zu erreichen, sondern dass wir grundsätzlich dazu übergehen zu sagen: Wir haben nicht mehr das Ziel, die Leute in die Gemeinde zu bekommen, sondern die Gemeinde bricht auf, klingelt an Haustüren, geht in Kontakt mit den Leuten. Diese These ist, glaube ich, eine, die funktionieren kann für die Kirchen. Ich habe immer wieder festgestellt, dass die auf Widerstand stößt, weil man so viel Altbekanntes dafür aufgeben müsste, und weil man wirklich mal was wagen muss. Deswegen habe ich David Holte, der aus der Kirche ausgetreten ist, gefragt, ob er an diesem Buch mitwirken will, und habe ihm diese These vorgestellt. Und der hat dann zum ersten Mal seit Jahren drüber nachgedacht, ob diese These eigentlich für ihn etwas bedeuten könnte und hat dabei festgestellt, dass er etwas vermisst an der Kirche. Also, dass er vermisst, dass es einen Ort gibt, wo über Glaubensfragen und Sinnfragen gesprochen wird in seinem Leben. Er hat mir einen Satz gesagt, den finde ich ganz, ganz dramatisch: Als er jetzt noch einmal drüber nachgedacht hat, wie er ausgetreten ist, musste er aufs Amtsgericht gehen und einen Termin machen, er hat 30 Euro dafür bezahlt, er hat recherchieren müssen, wie das alles geht, und hat dann diesen Akt des Kirchenaustritts durchgeführt. Wenn er heute eine Bilanz zieht unter seine eigene Kirchenbiografie, dann sagt er: "Ich als Person habe mehr Zeit in meinen Austritt investiert als die Kirche Zeit in mich."
    Florin: Sie schlagen eine Art Besuchsdienst vor. Diejenigen, die sich in der Gemeinde engagieren, sollen Kirchenmitglieder besuchen. Habe ich das richtig verstanden, nur Kirchenmitglieder, also nicht alle, die dort wohnen? Eigentlich eine Art Mission unter denen, die noch Mitglied sind?
    Flügge: Ja, es ist richtig, ich finde nur den Begriff des Besuchsdienstes falsch. Ich glaube, dass auch in den Gemeinden selbst nicht mehr so einfach zu beantworten ist, welche Relevanz der christliche Glaube und die altbekannte Form für die Leute eigentlich noch hat. Immer weniger Menschen nehmen an der Eucharistiefeier im Katholizismus teil. Immer weniger Diskussionen finden im Protestantismus über die Bibel statt. Also, im Grunde genommen gibt es auch in den Gemeinden eine Aushöhlung des Glaubens, und ich glaube, dass es ein Gewinn sein kann im Gespräch mit denen, die so sind wie David Holte, die sich für Sinn- und Glaubensfragen interessieren, dann den eigenen Gott auch weiter und neu zu entdecken.
    Florin: Aber wenn ich jetzt zum Beispiel an die Sternsinger denke, die Anfang des Jahres durch die Dörfer ziehen. Da ist es ja in vielen Gemeinden schon so: Die müssen sich anmelden, da gibt es eine Liste von Haushalten, und die Kinder wissen: Da sind wir willkommen. Und der Rest? Der will die gar nicht. Warum glauben Sie, dass diese Besucher, die Sie jetzt nicht Besucher nennen wollen, aber diese Gemeindemitglieder, die über den Glauben sprechen wollen, dass die willkommen sind?
    Flügge: Was gar nicht stimmt, dass die unwillkommen wären! Also, ich selber war ja lang genug Sternsinger, viele Jahre lang, und ich komme aus einem Dorf, wo wir auch – obwohl wir weniger wurden – immer den Anspruch hatten, dass wir weiterhin an allen Türen klingeln – und zwar so viele, wie wir schaffen. Ehrlichgesagt: An fast allen Türen waren wir willkommen. Manchmal ist es uns passiert, dass jemand die Tür zugeknallt hat. Aber das, was wir eigentlich überall erlebt haben in der überübergroßen Anzahl von Türen, an denen wir geklingelt haben, ist, dass uns jemand freudig aufgemacht hat und gesagt hat: "Schön, dass ihr mal vorbeikommt!". Ich finde, es ist ein Drama, dass wir mittlerweile an dem Punkt sind, dass wir sagen, die Sternsinger kommen nur noch zu denen, die sich vorher angemeldet haben, weil wir damit auch die Sternsinger zu einem Format gemacht haben, das nur noch auf die aktiven Gemeindemitglieder zielt. Denn von der Anmeldemöglichkeit erfahre ich ja nur, wenn ich am Gemeindeleben teil habe.
    "Natürlich ist das eine Gegenposition zu einem klerikalen Kirchenbild"
    Florin: Was ist Ihre Vision? Also, wenn dann die Gemeinde rausgeht und nicht darauf wartet, dass jemand kommt, wenn mehr über Glauben gesprochen wird, was haben dann auch die davon, die selber nicht gläubig sind?
    Flügge: Meine Vision von den beiden großen Kirchen – der evangelischen wie der katholischen – ist, glaube ich, eine ziemlich ähnliche, auch wenn sie natürlich theologisch sich unterscheiden und andere Grundlagen haben. Meine Vision ist, dass das Kirchen sind, in denen der Kontakt zwischen den einzelnen Mitgliedern wieder vorhanden ist und nicht neun von zehn an der Seite gedrängt nebendran stehen. Das heißt für mich im Kern, dass ich glaube, dass es klug wäre, wenn pastorales Personal, also diejenigen, die in der Kirche arbeiten, zusammen mit Ehrenamtlichen, die das freiwillig tun wollen, an Haustüren gehen, dort klingeln, den Leuten "hallo" sagen – und zwar nicht bei völlig Fremden, sondern bei Menschen, bei denen man sagt, "Sie sind ja Mitglied in unserer Kirchengemeinde, aber wir sind Ihnen nur noch nie begegnet. Also wir kennen Sie nur auf dem Papier, und wir würden gerne von Ihnen mal erfahren, wie Sie so über Gott denken." Ich glaube, es ist das genaue Gegenteil von dem, was Kirche so an Image hat, nämlich dass sie immer nur erzählt, wie Gott ist, und man sich dazu verhalten muss. Ich glaube, der allerallererste Schritt von Kirche muss doch wieder sein, diese Gesprächsfähigkeit dadurch zu erzeugen, dass ich erst einmal mein Gegenüber frage, was es in all den Jahren, in denen man sich nicht begegnet ist, mit Gott erlebt hat.
    Florin: Was mir aufgefallen ist: Sie sprechen, schreiben in dem Buch kaum über die Hierarchie. Aber die ist ja gerade in der katholischen Kirche nicht unerheblich. Pfarrer, Bischöfe, die denken in der Kategorie: Der Gottesdienst, die Eucharistie sind das wichtigste. Und darum wird das gesamte Gemeindeleben gestaltet.
    Flügge: Natürlich ist das eine Gegenposition zu einem klerikalen Kirchenbild. Was wir als Realität haben: Wir haben weniger Priester. Und, ehrlich gesagt, haben wir keine Ahnung mehr im Katholizismus, wie wir Kirchengemeindearbeit in der Fläche aufrecht erhalten sollen angesichts der wenigen Priester und angesichts der gleichzeitigen Nicht-Bereitschaft, die Frage, wer den Gottesdienst leitet, anders zu regeln. Nachdem ich keinerlei Hoffnung habe, dass die Frage, wie der Gottesdienst geleitet wird, grundsätzlich anders geregelt wird als durch den Priester, bin ich der Überzeugung, dass wir sowieso eine Diskussion haben, die sich in die Richtung dreht, dass es geistige Zentren geben wird, in denen wird die Eucharistie gespendet und dann wird Gottesdienst gefeiert, und da sollen alle, für die dieser Gottesdienst sehr wichtig ist, dann hinkommen. Das bedeutet aber wieder, dass wir über noch weniger Leute reden, die dann da kommen. Ich glaube – und das ist das Spannende –, dass außerhalb der ganzen Hierarchiefragen, die am Gottesdienst hängen, eine Kirchengemeinde sich tatsächlich auch einen neuen Zweck vor Ort geben kann, wenn sie selber in dieses Gespräch über Gott mit allen ihren Mitgliedern eintritt. Dann habe ich vor Ort auch wirklich etwas Sinnstiftendes zu tun, und vielleicht ist es sogar für mich selbst in diesen Gesprächen Seelsorge – und mindestens für alle anderen auch.
    "Ich mag den Untergangsdiskurs nicht"
    Florin: Ein großer Teil der Deutschen wird ja jetzt sagen: "Es ist doch völlig egal, ob die Kirchen mehr Mitglieder haben oder weniger. Sollen die sich doch irgendwie gesund- oder krankschrumpfen, aber ich sehe keinen Sinn darin, die Kirchen zu retten."
    Flügge: Naja, deswegen ist es ja auch eine kirchlicher Aufgabe, sich selbst zu retten. Ich mag, ehrlich gesagt, diesen Untergangsdiskurs gar nicht, diese ständige Frage danach, ob wir jetzt noch fünf, zehn, 20 oder 25 Jahre leben, bevor wir endgültig tot sind. Ich glaube, man muss das Ding umdrehen. Wir haben eine Situation, in der wir immer noch viele Millionen Mitglieder in der Kirche haben, aber nur wenige von diesen vielen Millionen haben heute etwas von dieser Kirche. Mit "haben von dieser Kirche" meine ich gar nichts Finanzielles. Also, es geht nicht um die Frage, dass ich genau so viel rauskriege, wie ich dort reingebe, sondern es geht ganz simpel um die Frage von Kontakt. Werde ich mal angerufen von meiner Kirchengemeinde, steht mal jemand vor meiner Tür, schreibt mir mal jemand tatsächlich eine persönliche Postkarte. Dafür ist immer keine Zeit da, weil diese zehn Prozent, die am Gemeindeleben teilnehmen, alle Zeit für sich selbst einfordern.
    Florin: Die Kirchen haben eine lange Tradition und haben in dieser Geschichte auch ziemlich viel Besitz aufgehäuft. Ein Pfarrer heute, der ist natürlich nicht nur mit dem Gottesdienst befasst, sondern er hat viele Sitzungen, der muss viele Zahlenwerke durchgehen, der ist Chef über Personal. Wie sollen die Kirchen diesen Ballast loswerden? Denn das müssten sie ja, um offen zu sein, und zu sagen, wir gehen mal irgendwo hin, und wir teilen unser Personal anders ein.
    Flügge: Ich habe kürzlich einen Kirchenentwicklungsworkshop mit einem Dekanat gemacht, also mit einem Landkreis und allen Kirchen, die es dort gab. Dort saß eine Frau, und die sagte immer: "Ich bin jetzt seit Jahren im Kirchengemeinderat und jede Sitzung reden wir nur über diesen Wald, den wir als Gemeinde besitzen. Ich hasse diesen Wald! Wir haben noch nie über Glaube[n] geredet, noch nie über unsere Gemeinde geredet. Wir reden jede Woche über diesen Wald." Ich glaube, was in diesem Zitat der Frau so stark ist, ist, dass die auch keine Lust hat, eine heilige Immobilienverwaltungsgesellschaft zu sein, und ich glaube, das geht vielen so. Selbst wenn ich mit Menschen ziemlich weit oben in der Kirchenhierarchie spreche, also mit dem einen oder anderen Generalvikar, das ist der Verwaltungsleiter unter dem Bischof, dann sagen die mir auch, "ich wär lieber einige Liegenschaften los als sie alle zu behalten". Aber um jede Liegenschaft, die aufgelöst werden soll, entbrennt in den beiden großen Kirchen ein unglaublich großer Bewahrungskampf, weil es immer ganz wenige gibt, die daran festhalten. Wir haben jetzt diese Fälle gehabt, wo ein Kloster geschlossen werden soll, und dann eine einzige Nonne gekämpft hat um eine riesige Anlage, und …
    Florin: … darüber haben wir berichtet.
    Flügge: Ich glaube nicht, dass es funktioniert, sich einfach vor die Leute hinzustellen und zu sagen, "ja, wir können uns das nicht mehr leisten, wir kürzen das jetzt weg." Ich glaube, es geht nur, wenn man den Mitgliedern der Gemeinde auch einen neuen Zweck gibt: "Schaut mal, wir sind jetzt so viel draußen bei den anderen Mitgliedern, wir sind jetzt so klar in der Kontaktarbeit, brauchen wir denn wirklich dieses Gemeindehaus noch, wenn wir doch den Kontakt in den Wohnzimmern der eigenen Mitglieder haben?"
    "Aber jetzt wird es doch spannend"
    Florin: Sie schreiben, dass ein Großteil der Kirchenmitglieder gar nicht gläubig ist. Woran machen Sie das fest?
    Flügge: Das ist jetzt nicht so schwer herauszufinden, also im Katholizismus haben Sie eine Sonntags-Pflicht, im Katholizismus haben Sie eine Notwendigkeit des Empfangs der heiligen Eucharistie …
    Florin: Aber das ist ja die lehramtliche Meinung, es kann ja sein, dass Leute sagen: "Ich definiere mir meinen Glauben selbst, und ich priorisiere das anders als das Lehramt."
    Flügge: Aber jetzt wird es doch spannend! Also Die offizielle Lehrmeinung ist: Ihr müsst sonntags in der Kirche sagen, ihr braucht die Eucharistie für euer Seelenheil. Die allermeisten Mitglieder kommen nicht. Fast alle Mitglieder teilen diesen Glaubenssatz nicht. Jetzt kann ich natürlich sagen: "Hm, die sind alle vom Glauben abgefallen" oder ich kann sagen: "Die glauben nochmal anders, oder die haben was anderes von Gott verstanden." Dann finde ich die Frage doch hochspannend, mit diesen Leuten in Kontakt zu gehen. Nicht, weil ich glaube, das die das schlauere Dogma zuhause schon verschriftlicht rumliegen haben, sondern weil ich glaube, dass, wenn ich meine eigene Beziehung zu Gott – in der ich vielleicht glaube, dass ich jeden Sonntag in die Kirche muss – in Beziehung setze zu denen, die in der gleichen Kirche Mitglied sind, die den gleichen Glauben haben und die ihn ganz anders leben und trotzdem damit im Reinen sind mit ihrem Gott.
    Florin: Das müsste aber die Institution in ihren Grundfesten erschüttern. Wenn das nicht mehr gilt, was von oben herab verordnet wird, was geglaubt werden soll, was macht das mit dem Katholizismus?
    Flügge: Mit dem Protestantismus macht das erst einmal nichts. Für den ist das kein Problem.
    Florin: Ich habe ja auch nach dem Katholizismus gefragt!
    Flügge: Für den Katholizismus glaube ich nicht, dass es ihn in seinen Grundfesten erschüttert, ehrlich gesagt. Das ist seit 2000 Jahren Realität. Wir haben doch schon immer den Fall, dass wir eine Ungleichzeitigkeit haben zwischen dem, was in der Gemeinde oder vor Ort geglaubt wird, und dem, was in Rom an Regeln gesetzt wird, haben. Mein Konzept sieht gar nicht vor, beispielsweise alte Formen generell infrage zu stellen. Ich bin nicht einer von denen, der sagt, wir müssen den klassischen Gottesdienst aufpeppen, völlig anders machen, mit irgendwelchen Tanzgruppen den verzweifelten Versuch unternehmen, dass da irgendwie modernere Zielgruppen reinkommen. Ich bin jemand, der sagt: Lass doch den Gottesdienst sein wie er ist, und diejenigen, für die er wichtig ist, gehen genau dort hin und bekommen das, was sie brauchen, und lass uns gleichzeitig für diejenigen, die das so nicht suchen, eine andere Form entwickeln. Das ist übrigens auch eine ganz alte katholische Tradition, Volksglauben auch als Teil der eigenen Kirchentradition anzuerkennen.
    Zu Tode beraten?
    Florin: Seit die Mitgliederentwicklung so abwärts geht, heuern beide Kirchen jede Menge Berater an. Es gibt Unternehmensberater, Kommunikationsberater, Imageberater, es wird mit Milieustudien gearbeitet, um auch die modernen Performer in den Großstädten zu erreichen, und jetzt kommen Sie auch noch! Was können Sie besser als andere Berater?
    Flügge: Ich glaube, ich habe einen simplen Unterschied. Der simple Unterschied ist: Ich komme nicht mit einem Konzept oder mit einem Modell oder mit irgendwas davon. Sondern ich habe mir überlegt, wie die Kernstärke von dem, was Kirche eigentlich tut – Gespräch und Kontakt, Beziehung aufbauen zu Leuten, Seelsorge betreiben –, wie die mehr Menschen zuteil wird.
    Florin: Ist die Kirche nicht totberaten?
    Flügge: Ich weiß nicht, ob sie totberaten ist. Ich fände mal ganz gut, wenn man sich weniger beraten würde, sondern einfach mal was macht.
    Erik Flügge/David Holte: "Eine Kirche für viele. Statt Heiligem Rest"
    Herder Verlag, 80 Seiten, 8 Euro