Freitag, 29. März 2024

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Klang der Gosse

Außer der Reise nach Petuschki, dem alkoholhaltigsten Buch der Weltliteratur, selbst Malcolm Lowry kann da nicht mithalten, ist bisher kein Buch von Wenedikt Jerofejew auf Deutsch erschienen. Kein Wunder, denn es gibt auch im Original nicht viele Veröffentlichungen. Das liegt natürlich auch an der unsteten Lebensweise des bekennenden Trinkers Jerofejew und selbstverständlich liegt es daran, dass eine solche Literatur in der Sowjetunion keine Chance hatte. Jerofejew, der sich mit dem ihm eigenen Trotz und Witz immer als sowjetischen Schriftsteller bezeichnet hat, ist bald nach deren Ableben ebenfalls verschieden. Fast könnte man meinen, er habe sich diese Pointe bis zum Schluss aufgehoben, um noch einmal zu unterstreichen, was sein Schreiben ausmacht. Bei ihm weiß man nie, wo der Witz aufhört und die Tragik beginnt und ob man denn beides überhaupt unterscheiden kann.

Von Joachim Büthe | 06.09.2004
    Die Reise nach Petuschki war die ebenso furchtbare wie tränentreibend komische Reise im Kopf eines Trinkers. Mit den nun vorliegenden Aufzeichnungen eines Psychopathen kann man nachvollziehen, wann und wo diese Reise begonnen hat. Sie sind kein Tagebuch, die Verschmelzung zwischen realen und fiktiven Personen, die man aus der Reise nach Petuschki kennt, ist bereits vorhanden. Sie sind vielmehr die Selbsterfindung eines jungen Mannes als Autor. Gleich zu Beginn kommt es zu einem fiktiven Dichterwettbewerb, bei dem Jerofejew die Konkurrenz fulminant aus dem Feld schlägt. Diesen Mangel an Demut wird man ihm nachsehen können. Er ist gerade 18 Jahre alt und schon jetzt ein außergewöhnlicher Autor:

    Ich bin Optimist! Ich neige zu der Annahme, dass alles, was mir nicht gefällt, ein Komplex meiner launischen Empfindungen ist! Ich begrüße begeistert jedwede Abweichung vom normal Menschlichen! Aber ich kann nicht verstehen, warum die Erhöhung vorgezogen wird, wenn oben und unten gleichgeartete Abweichungen vom allgemeinmenschlichen Niveau sind! Überdies ist Erhöhung zeitweilig! Unten zu sein ist nach dem Zeugnis der physikalischen Gesetze bedeutend dauerhafter!

    Zu diesem Zeitpunkt wird der begabte Student Jerofejew gerade von der Universität relegiert. Sein Vater, auch er ein starker Trinker, verstirbt nach langjähriger Lagerhaft. Sein Bruder wird ebenfalls inhaftiert und kommt wenig später um. Es gibt in den Aufzeichnungen traumhafte Begräbnisszenen, in den sich Jerofejew seine eigene Beerdigung bei vollem Bewusstsein imaginiert. Auch Suizidgedanken kommen vor. Sie sind jedoch nicht dominant. Jerofejew zieht es vor, gegen diese Realität anzutrinken und anzuschreiben. Das ist seine Form des Widerstands.

    Triiinken!
    Triiiiinken!
    Triiinken, ihr verdammten Urschlöcher !

    Jerofejews Aufzeichnungen sind fragmentarisch. Sie kombinieren Erinnerungen und Träume mit gedachten oder vielleicht auch wirklichen Aussagen über seine Person. Sie nutzen das Material der alltäglichen Gespräche und der sich häufenden Vorladungen zu aberwitzigen Dialogen, die den Bereich der Satire mehr als nur streifen. Das ist Jerofejews Rache, seine
    Genugtuung auf dem Papier. Grundiert sind diese, für einen Achtzehnjährigen erstaunlichen, Kabinettstücke mit einer tiefen Verzweiflung und dem drastischen Vokabular der Gosse, dem vertrauten Terrain des Trinkers. Jerofejew hat den Platz, den seine Gesellschaft für ihn vorgesehen hat, angenommen. Er hat das kurze Glück und das lange Elend des Rausches zu seinem Thema gemacht. Und, das ist nicht die geringste seiner Leistungen, er hat diesen Platz mit Würde ausgestattet.

    Und fürchte dich nicht vor dem Gefängnis ... Das Wichtigste – fürchte dich nicht vor dem Gefängnis ... Das Gefängnis macht einen zum Tier ... Und das ist gut. Die Banditen sind grob und gefühllos, aber sie verhehlen es nicht ... sind aufrichtig ... Eure Leute von der Universität sind genauso, versuchen aber, sich sentimental zu geben ... Klug sind nur wenige,
    aber sie stellen sich so... Fühlen muss man klug, nicht mit dem Kopf, aber klug ...


    Wenedikt Jerofejew
    Aufzeichnungen eines Psychopathen
    Tropen Verlag Köln, 191 S., EUR 17,80