Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Klassiker aus den Niederlanden
Im Schwimmbadschritt

Bereits 1923 erschienen, zählt "Ein Junge wie Kees" des Schriftstellers und Lehrers Theo Thijssen zu den Klassikern der niederländischen Literatur. Nun wurde die kluge und anrührende Geschichte über einen verträumten Jungen aus Amsterdam zum ersten Mal vollständig ins Deutsche übersetzt.

Von Bettina Baltschev | 20.09.2019
Buchcover Theo Thijssen: "Ein Junge wie Kees"
Blasse Farben, bunte Geschichte: "Ein Junge wie Kees" (Wallstein Verlag)
Viermal in der Stunde lässt der warme Glockenklang der Westerkerk die Amsterdamer wissen, dass die Zeit niemals stehen bleibt. Am Fuße der Kirche ist das urbane Gewimmel entsprechend groß. Autos, Radfahrer und Fußgänger haben es eilig auf der Radhuisstraat. Touristen schieben sich unweit des Königspalastes durch die Prinsengracht. Bernard Kruithof von der Theo Thijssen-Stiftung muss laut gegen den Straßenlärm ansprechen, wenn er über "Ein Junge wie Kees" erzählen will. Es ist der Roman über einen kleinen verträumten Jungen, der Ende des 19. Jahrhunderts unterhalb der Westerkerk aufwächst.
Bernhard Kruithof von der Theo Thijssen-Stiftung: "Das ist der Westertoren. Der klingt jetzt und in "Ein Junge wie Kees" hat er einen Traum, dass dieser Riesenturm umfällt und dass er heldhaftige Dinge kann damit und immer, wenn er vorm Haus steht, kann er den Turm seht und das findet er immer sehr beeindruckend und wenn man hier steht, kann man sich das gut vorstellen."
Zitat "Ein Junge wie Kees": "Kees blieb einen Moment stehen. Ja, er sah es deutlich, der Turm bewegte sich wahrhaftig etwas hin und her. Außerdem stand er schon nicht mehr genau gerade. Vielleicht war er, Kees, der Einzige, der es sah, denn niemand achtete darauf (…) Gleich würde es schlimmer - würde die Bewegung noch deutlicher - das hielt er nicht aus, Leute, das hielt er nicht aus, da gab es einen deutlichen Bruch, direkt unter dem Ziffernblatt. Er fiel, er stürzte!"
Literarische Ikone in den Niederlanden
Doch der Traum vom stürzenden Kirchturm wird gut ausgehen, denn in seiner Phantasie ist Kees Bakels ein Junge von fast zwölf Jahren, dem alles gelingt. Und das ist wohl auch das so schlichte wie erfolgreiche Geheimnis dieses Buches, das es in den Niederlanden zur literarischen Ikone werden ließ. Als Fortsetzungsgeschichte von Theo Thijssen verfasst, erscheint es 1923 in Buchform und basiert auf autobiografischen Erinnerungen des Lehrers und Schriftstellers. Denn der wuchs selbst unweit der Westerkerk auf, in einfachen Verhältnissen, als Sohn eines Schuhmachers. Im Haus seiner Eltern ist heute ein kleines Museum eingerichtet. Dort erklärt Rik Thijssen, die Enkelin von Theo, den Besuchern immer wieder gern, warum man das fast einhundert Jahre alte Buch lesen sollte.
Rik Thijssen, Enkelin von Theo Thijssen: "Weil es ein romantisches Buch für Männer ist. Die Phantasien eines Jungen, der an der Grenze zur Pubertät steht und Phantasien über sein Leben hat. Es gibt wenige Bücher, in denen Jungen so verletzlich und schön beschrieben werden. Und er ist sehr sensibel. Also eigentlich alles, was man sich heutzutage wünscht, aber das wurde damals geschrieben und ist einfach großartig, deshalb muss man es lesen."
Art des Schaukunstlaufens
Vor dem Museum haben sich unterdessen ein paar Jungen im Alter von Kees Bakels versammelt, um den "Schwimmbadschritt" vorzuführen, der dem Jungen im Buch das Gefühl gibt, etwas Besonderes zu sein.
"Wenn man mal schnell vorankommen wollte, musste man sich beim Gehen vornüber neigen, ganz als ob man ständig hinfiele, und dann immer die Arme schwenken, hin und her. Auf diese Art des Gehens verlegte sich Kees ganz speziell; (…) Er führte diese Art des Schaukunstlaufens auch in der Schule ein und hatte viel Erfolg damit. Wochenlang sah man die Jungen seiner Schule mit ernsten Gesichtern die neue Gangart betreiben.
Wenn sie so zwischen zwölf und zwei ins Schwimmbad gingen, waren sie immer in Eile, und dann kam ihnen das Kunstlaufen gut zustatten. Die Jungen erzählten sich gegenseitig auf die halbe Minute genau, wie kurz es diesmal von der Schule zum Schwimmbad gedauert hätte, und sprachen schon bald vom "Schwimmbadschritt". Für Kees war der Schwimmbadschritt ein Glück im Leben."
Von den Träumen in die Realität
Der Übersetzer Rolf Erdorf hat die Sprache des 19. Jahrhunderts sehr sensibel und ohne sich einem Zeitgeist anzubiedern in die Gegenwart geholt. Für ihn ist der "Schwimmbadschritt" mehr als eine merkwürdige Gangart.
Rolf Erdorf: "Dieser kleine Kees, der denkt immer, ja ich würde und wenn ich das könnte und das hätte, dann könnte ich. Und dieser Schwimmbadschritt ist eigentlich das erste, wozu er nichts mehr braucht, das kann er wirklich selber, dafür braucht es nur ihn. Und das ist eigentlich die innere Entwicklung, die er in dem Buch macht, vom Träumer später auch hin zu einem Handelnden, und das ist ganz präzise angelegt von Thijssen. Da ist ein Kind, das von den Träumen in die Realität wächst, aber ohne die Träume in so einem ganz furchtbaren Sinn zu verlieren. Das ist so eine Gratwanderung und das ist eigentlich der Kern, worum es in diesem Buch wirklich geht."
Kees de jongen heißt es eigentlich
Ein Kern, den Theo Thijssen literarisch so anspruchsvoll verhandelt, dass sein Roman nie als Jugendbuch gelesen wurde, sondern immer nur als Buch über eine Jugend. Oder, wenn man eine zweite Ebene einziehen wollte, auch als poetische Metapher für das ganze Land, wie Rolf Erdorf in seinem erhellenden Nachwort schreibt. Denn nach dem sogenannten goldenen Zeitalter im 17. Jahrhundert kämpften die Niederlande schon bald mit der Übermacht ihrer großen Nachbarn und dem eigenen Bedeutungsverlust, über den wohl nur Träume hinweghelfen konnten. Doch auch abgesehen davon handelt "Kees de jongen", wie das Buch im Original heißt, von universell menschlichen Themen.
Kees träumt sich nicht nur in bessere Verhältnisse, er verliebt sich auch, in Rosa Overbeek, ein Mädchen, das neu in seine Klasse kommt. Außerdem macht er sich Gedanken darüber, was er einmal werden will und - wohl der tragischste Moment - er muss erleben, wie sein Vater langsam stirbt. Das alles beschreibt Theo Thijssen ohne Pathos, in schlichten Worten und doch sehr berührend.
Rolf Erdorf: "Das größte Talent vielleicht von Thijssen liegt darin, dass er Zwischenmenschliches in ganz kleinen Szenen und Begebenheiten, sehr präzise beschreiben kann, ohne dass er das so direkt benennt. Also dieses ‘dont tell them, show them‘, man könnte glauben, der Satz wäre von ihm."
Zitat aus "Ein Junge wie Kees": "Hallo, Pa", sagte Kees ganz leise, und doch erschrak er noch von dem merkwürdigen Klang seiner eigenen Stimme. Pas eine Hand winkte ihm, und begierig kam Kees näher, beugte sich nah über die Bettdecke und nahm die Hand seines Vaters. Er wollte das Gleiche sagen, was er schon öfters gesagt hatte, früher, als sein Vater genauso dagelegen hatte: etwas wie "natürlich bald gesund werden"; aber die Augen seines Vaters verwirrten ihn, und wieder brachte er nichts heraus als: "Hallo, Pa."
Besonders schön gemachte Ausgabe
Bis heute ist "Ein Junge wie Kees" in den Niederlanden sehr lebendig. Es gibt einen Film, ein Theaterstück, eine Graphic Novel und immer wieder beziehen sich auch jüngere Schriftsteller auf die Geschichte vom verträumten Kees. Auf einer Brücke zwischen Theo Thijssen-Museum und Westerkerk streichelt Bernard Kruithof schließlich liebevoll über ein paar weiße, schon leicht angeschlagene Buchstaben an der Brüstung.
Bernhard Kruithof von der Theo Thijssen-Stiftung: "Es gibt in Amsterdam 1500 oder 2000 Brücken, die meisten haben nur Nummern, nur manche haben auch einen Namen. Aber ein Name wie Kees de Jongen, das ist ein fiktiver Charakter aus einem Roman. Und die nächste Brücke ist die Rosa-Overbeek-Brücke, das ist seine Freundin und sie können einander noch sehen und zuwinken."
"Ein Junge wie Kees" von Theo Thijssen: mit der ersten vollständigen Übersetzung soll dieser Klassiker der niederländischen Literatur nun auch die Herzen der deutschen Leser erobern. Mit einer besonders schön aufgemachten Ausgabe aus dem Wallstein Verlag und der wirklich gelungenen und zeitlosen Übersetzung Rolf Erdorfs könnte es gelingen.
Theo Thijssen "Ein Junge wie Kees"
Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
Wallstein Verlag Göttingen, 432 Seiten, 24 Euro