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Klassiker zu afro-amerikanischen Fragen

Nella Larsen, Tochter einer dänischen Mutter und eines farbigen Vaters, kannte das Leben unter Weißen ebenso wie das unter Schwarzen. Ihr Roman "Seitenwechsel" von 1929 erzählt die Geschichte zweier Schulfreundinnen als dramatisch zugespitzte Abhandlung über ein Leben zwischen zwei Welten: zwischen der des schwarzen Mittelstandes in Harlem und dem weißen Manhattan.

Von Michael Schmitt | 31.07.2012
    Als Nella Larsen, Tochter einer dänischen Mutter und eines farbigen Vaters von den Westindischen Inseln, 1964 im Alter von 72 Jahren starb, wurden ihr keine Nachrufe gewidmet. In den späten Zwanziger, zur Zeit der sogenannten "Harlem Renaissance" hatte sie mit Kurzgeschichten und mit zwei Romanen über Mischlinge und über deren Platz in der amerikanischen Gesellschaft viel Resonanz gefunden. Dann hatte man sie vergessen, und tatsächlich hatte sie nach 1930, nach einer dubiosen Plagiatsäffäre und nachdem ihr als erster afroamerikanischer Frau ein Guggenheim-Stipendium gewährt worden war, nichts mehr veröffentlicht. Drei weitere Romanmanuskripte hatte sie wohl selbst vernichtet, hatte von dem Guggenheim-Geld einige Reisen nach Europa finanziert und schließlich wieder den Beruf einer Krankenschwester ausgeübt, den sie in jungen Jahren, nach einigen Semestern an der afroamerikanischen Fisk-University und an der Universität von Kopenhagen, erlernt hatte. Sie kannte das Leben unter Weißen genauso wie unter Schwarzen. Sie überwarf sich mit ihrer Familie, die ihr ein "weißes" Leben eröffnet hatte; und sie hielt Distanz zu den Lehren eines Booker T. Washington, der den Schwarzen predigte, Fleiß und Intelligenz würden ihnen am schnellsten den Weg zur Gleichberechtigung ebnen.

    "Seitenwechsel", Nella Larsens zweiter Roman aus dem Jahr 1929, den Adelheid Dormagen nun für den schweizerischen Dörlemann Verlag übersetzt hat, gilt heute, gut 80 Jahre nach dem Erscheinen als Klassiker und als kanonische Literatur zu afro-amerikanischen Fragen. Er erzählt die Geschichte zweier ehemaliger Schulfreundinnen, die sich nach 12 Jahren wieder begegnen, als dramatisch zugespitzte Abhandlung über ein Leben zwischen zwei Welten: Zwischen der des schwarzen Mittelstandes, der in den Zwanziger Jahren in Harlem sein schnell wachsendes und pulsierendes Zentrum hat, und dem weißen Manhattan, das an der kulturellen Seite dieses Aufbruchs regen Anteil nimmt, alte Rassenschranken dabei aber nicht überwindet. Es ist ein Buch darüber, wie sich gesamtgesellschaftliche Bewegungen in einzelnen Charakteren brechen; wie sich privates Leben und kollektive Konflikte durchdringen und überlagern; wie zwei gegensätzliche Frauen einander gleichzeitig anziehen und abstoßen, und wie darüber Loyalität durch Eifersucht unterminiert wird.

    Irene und Clare teilen seit ihrer Jugend in Chicago das Schicksal, hellhäutig genug zu sein, um unter Weißen nicht aufzufallen. Ihr Leben aber verläuft in ganz unterschiedlichen Bahnen: Irene lebt als Gattin eines angesehenen Arztes in Harlem und geht zuhause in der Rolle von Mutter und Ehefrau auf. Ihr Ehemann aber träumt davon, nach Brasilien auszuwandern, um für seine Familie ein Leben ohne Rassenschranken, weit weg von den USA zu finden. Irene teilt diese Haltung nicht; sie fühlt sich als Amerikanerin, hofft auf Assimilation und engagiert sich in Komitees für Bürgerrechtsfragen. Nur gelegentlich betritt sie auch einmal ein "weißes" Restaurant und überlegt, was passieren könnte, wenn man sie als Schwarze identifizieren würde.

    Clare ist ganz anders; sie ist als Waisenkind bei zwei weißen alten Tanten aufgewachsen und hat die erste gute Gelegenheit genutzt, um einen Weißen zu heiraten. Clare ist eine auffallend schöne Frau, ihr Mann ist wohlhabend und ahnungslos, er ist sogar ein Rassist. Seither lebt sie komfortabel, aber auch in der ständigen Gefahr, das alles schnell verlieren zu können, wenn die Tarnung auffliegen würde. Clare geht mit Rassenschranken und Konventionen offensiver um als Irene. Sie hat den Mut, sich zu nehmen, was sie haben will – das macht sie gefährlich für alle und jeden – und sie ist bereit, dafür etwas zu riskieren. Clare ist, zugespitzt formuliert, eine Zockerin; sie kann auf beiden Seiten leben und sie hält das permanente Versteckspiel aus, zu dem sie gezwungen ist. Irene dagegen braucht die Ruhe der Angepassten – das hat durchaus spießige Züge und lässt sie panisch reagieren, wenn ihre Ordnung gestört wird.

    Sowohl Irene wie auch Clare wissen alles über den Rassismus ihrer Umgebung, aber sie leben vor allem mit den Vorzügen, die der Aufstieg schwarzer Mittelschichten in Manhattan in den Zwanziger Jahren mit sich bringt, als der Zuzug aus den Südstaaten in den Großstädten des Nordens der USA einen ungeheure Dynamik hervorruft und viele Weiße fasziniert. Junge schwarze Literaten treten hervor und finden weiße Verleger und Leser; der Jazz revolutioniert die Unterhaltungsmusik und auf Theaterbühnen und in halbseidenen Shows spielt die Idee von "Passing", vom Seitenwechsel" zwischen Weiß und Schwarz keine kleine Rolle. Das ist rassistisch, wo Weiße sich in guter alter Tradition schminken, um als Schwarze auf der Bühne anstelle von Schwarzen zu agieren; und es ist pittoresk, wenn etwa ein Schauspieler wie der junge Cary Grant wegen seines dunklen Teints als farbig angehimmelt wird.

    "Seitenwechsel" heißt: die Grenzziehungen werden unscharf – und in Nella Larsens Roman bringt Clare es auf den Punkt, als sie erklärt: "Passing" sei leicht, wenn man den Mut dazu habe, umso leichter, weil die Weißen gar nicht damit rechnen würden. Als Weißer unter Farbigen zu leben und unerkannt zu bleiben, sei demgegenüber viel schwieriger, denn Zusammenhalt und Selbstkontrolle seien unter denen viel ausgeprägter, deren Selbstbild beschädigt sei. "Seitenwechsel" ist also nur bedingt eine Utopie, denn der Preis für die zur Schau gestellte Souveränität von Clare ist völlige Zerrissenheit und andauernde Anspannung. In dieser Tradition von "passing" hat später der farbige Literaturkritiker Anatole Broyard ein Leben als Weißer geführt, und Philip Roth hat daraus schließlich die zentralen Motive für seinen Roman "Der menschliche Makel" destilliert. Denkt man an die jungen deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die hierzulande immer öfter über die Reibungen in einem Leben zwischen der Herkunft aus Migrantenfamilien und einem angestammten deutschen Alltag erzählen, wird außerdem klar, dass die prinzipiellen Fragen von Nella Larsen nichts an Aktualität eingebüßt haben.

    Nella Larsen: Seitenwechsel.
    Roman.
    Deutsch von Adelheid Dormagen.
    Dörlemann Verlag, Zürich 2011, 192 Seiten