Klassische Musik

Hochbegabter Faulpelz

Eine Geige, eine Flöte, eine Mundharmonika und ein Banjo liegen auf einem Notenblatt.
Anatoli Ljadows war eine Art Oblomow der Musikgeschichte. © picture-alliance / dpa / Wolfgang Thieme
Von Michael Stegemann · 28.08.2014
Anatoli Ljadow trägt wohl selbst die Schuld daran, dass er heute nicht zu den ganz Großen zählt: Seine legendäre Faulheit stand ihm immer im Weg. Und doch ist das, was von ihm bleibt, höchstkarätige Spätromantik.
Im Sommer 1909 lag der Weltruhm für den 54-jährigen russischen Komponisten Anatoli Ljadow womöglich zum Greifen nahe: Der Impresario Sergej Diaghilew bestellte bei ihm ein Märchenballett, mit dem er die neue Pariser Saison seiner legendären "Ballets russes" eröffnen wollte. Als er monatelang nichts hörte und schließlich ungeduldig nachfragte, wann das Werk denn endlich fertig sei, soll Ljadow freundlich geantwortet haben:
"Oh, lieber Sergej Pawlowitsch, es dauert gewiss nicht mehr lange - ich habe sogar schon das Notenpapier gekauft!"
Woraufhin Diaghilew seinen Auftrag zurückzog und einen jungen, noch völlig unbekannten Komponisten namens Igor Strawinsky mit der Partitur des "Feuervogel" beauftragte, der damit seinen Weltruhm begründete.
Ob die Anekdote nun stimmt oder nicht, sie entspricht dem Bild Anatoli Ljadows, das bis heute fortlebt: Ein hochbegabter Faulpelz, eine Art Oblomow der russischen Musikgeschichte. So beschreibt ihn etwa der Musikkritiker Wjatscheslaw Karatygin:
"Ljadow hat jedes nur denkbare Talent: hervorragende Technik, Originalität, echte dichterische Fantasie, seltenen Humor, unfehlbaren Geschmack, Intelligenz; doch alles, was er in einem Jahr komponiert hat, sind knapp zehn Seiten Musik."
Ljadows Œuvre umfasst – neben einer unvollendeten Oper und Bearbeitungen russischer Volkslieder – ein Dutzend kleiner Orchesterwerke, und rund 100 Klavier-Miniaturen, zumeist im national-russischen Stil, wie dieses Allegro aus der Sammlung Biryulki ("Splitter") op.2.
Anatoli Konstantinowitsch Ljadow, geboren am 11. Mai 1855 in St. Petersburg als Spross einer angesehenen Musiker-Dynastie, war schon früh vom sogenannten "Mächtigen Häuflein" beeinflusst worden: Von Komponisten wie Modest Mussorgsky oder Nikolai Rimsky-Korssakow, die für eine nationale Schule der russischen Musik eintraten, und denen er nacheiferte – etwa in der Ballade aus alten Zeiten.
Mit 23 wurde Ljadow Dozent und später Professor am Petersburger Konservatorium, wo unter anderem Sergej Prokofjew bei ihm studierte. Der Mäzen und Philanthrop Mitrofan Beljajew berief ihn zum künstlerischen Leiter der von ihm finanzierten "Russischen Symphoniekonzerte" und zum Lektor seines neu gegründeten Musikverlags, wo Ljadow mit Alexander Glasunow die "Zweite Petersburger Schule" gründete, in der Nachfolge des "Mächtigen Häufleins".
Bis zuletzt blieb Ljadow ein Traditionalist, trotz vereinzelter Ausflüge an den Rand der Dur/Moll-Tonalität wie 1909 in den (von Alexander Skrjabin beeinflussten) Grimassen aus den vier Klavierstücken op.64.
Zwischen seiner Arbeit in St. Petersburg und seinem Landgut Polinowka im Gouvernement Nowgorod, wo er die Sommer verbrachte, führte Anatoli Ljadow ein sehr zurückgezogenes, friedliches Leben; und auf Polinowka ist er auch am 28. August 1914 an den Folgen einer Herzkrankheit gestorben.
Was blieb, waren eine Handvoll Meisterwerke – und die Erinnerung an einen hoffnungslosen Phlegmatiker, der nicht nur seinen Lehrer und Freund Rimsky-Korssakow zur Verzweiflung brachte:
"Er konnte nur das tun, wozu es ihn von sich aus trieb. Hinter seiner katastrophalen Faulheit aber verbargen sich ein wacher Verstand, ein gutes Herz und eine große musikalische Begabung."