Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Klassisches Drama in drei Akten

Silvio Huonders dritter Roman "Dicht am Wasser" spielt in seiner Wahlheimat Brandenburg. Der 1954 in Chur geborene Schweizer gewann 2005 mit der Erzählung "Tobi" den MDR-Literaturpreis. Darin geht es um die Einsamkeit eines Kindes in einer zerrütteten Familie, ein Thema, das auch im neuen Buch anklingt.

Eine Besprechung von Eva Pfister | 10.06.2009
    Weiße und schwarze Wolkentürme jagten einander in Richtung Potsdam, dazwischen öffnete sich für kurze Zeit ein strahlend blauer Himmel, und gleißendes Sonnenlicht ließ plötzlich die Farben aufleuchten. Windböen wirbelten sekundenschnell über den See, dessen Wasser grau schimmerte wie gebürsteter Stahl, mit weißen Schaumfetzen auf den Wellenkämmen.
    Das war richtiges Julenwetter.


    Wenn im Sommer der Wind aus Westen über den Julensee weht und die Bäume schüttelt, macht er die Menschen in Neumühl nervös. Dann sagen sie: Die Jule pfeift. Der Ich-Erzähler in Silvio Huonders neuem Roman musste sich erst erkundigen, woher dieser Ausdruck kommt. Denn der Musiklehrer ist eine Bulette, wie die aus Berlin zugezogenen Bewohner von den Einheimischen genannt werden. Und die mochten es dann gar nicht, wie er die Sage von der unglücklichen Jule, einer untreuen Müllersfrau, die von ihrem Mann an einem Mühlenflügel aufgehängt wurde, in einem selbst komponierten "Requiem" wiedergab. Viel zu makaber fanden sie es, gar nicht marketingtauglich für ihr Dorf.
    Silvio Huonder lebt selbst als Zugezogener in Brandenburg in einem kleinen Dorf an der Havel. Die Sage von Müllers Jule hat er zwar erfunden, aber die Region ist berühmt für ihre Bockwindmühlen und auch sonst sehr anregend für einen Schriftsteller.

    "Zum ersten finde ich Brandenburg als literarischer Schauplatz sehr verlockend, es steht in der Geschichte für einen ganzen Staat, den es jetzt nicht mehr gibt, es steht aber auch für eine ganze Generation von jungen Familien, die aus Stadt hinaus wollen ins Grüne, für ihre Kinder ein anderes Leben als in der Großstadt. Die Landschaft ist nicht einfach nur eine schöne Landschaft, sondern sie steht eben als Ort für etwas ganz Bestimmtes."

    In Neumühl, dem fiktiven Schauplatz von Huonders Romans "Dicht am Wasser" gibt es neben neuen und renovierten Häusern auch Schrottimmobilien aus DDR-Zeiten, etwa die Ruinen einer Nerzfarm. Es gibt ökologisch engagierte Frauen, melancholische Musiklehrer, pragmatische Politiker. Es gibt Ehen, die nach den ersten glücklichen Jahren in die müde Phase gekommen sind und Seitensprünge produzieren, die Verwicklungen nach sich ziehen, - auch wenn keiner mehr seine Frau an der Windmühle aufhängt.
    Wenn Ehepartner sich anderweitig orientieren, sind Kinder die Opfer. So sieht das der Musiklehrer, der ab und an das Wort führt, und der tadelt dezidiert den Anspruch der Eltern auf zuviel Selbstverwirklichung. Auch Silvio Huonder begreift sich als Anwalt der Kinder.

    "Es ist einfach eine Realität, wenn man eben Familien, die auseinander gehen, Paare, die sich trennen, betrachtet, dass die Kinder diejenigen sind, die am meisten darunter zu leiden haben. Ich war jetzt jahrelang Elternsprecher und habe in viele Familien hineingesehen und konstatiere da so viele Probleme, dass wir als Familie, die über Jahre hinweg zusammen bleibt, fast schon eine Ausnahme darstellen."

    Silvio Huonder schrieb das Buch überwiegend in der allwissenden Erzählperspektive, so dass wir Leser Einblick in die Sorgen und Gedanken von jeder wichtigen Figur erhalten. Insofern stellt sich die Frage, warum er dennoch einen moralisierenden Ich-Erzähler braucht, der außerdem eher eine Randfigur ist.

    "Als Autor erzähle ich eben darüber, wie man heute so leben könnte in einer Familie, wie Mann und Frau zusammen leben können, da entdecke ich viel Ungereimtes, viel Problematisches, viele Lügen, viele Selbstlügen auch, und ich wollte aber nicht gottähnlich über all dem stehen und habe mit dem Ich-Erzähler eine Figur erfunden, die selber darin verwickelt ist."

    Die Geschichte beginnt mit dem Verschwinden des neunjährigen Nelson Petri. Um 15 Uhr verlässt der Junge seine Klavierstunde, kommt aber nicht zu Hause an. Am Spätnachmittag werden die Eltern nervös, gegen Abend beginnt die Polizei, ihn zu suchen. Die Spannung steigt, und mit ihr steigt der Druck in der Atmosphäre, der Julenwind wird zum Sturm.
    Silvio Huonders neuer Roman ist sehr spannend, nicht nur wegen der Handlung. So schlicht und gradlinig sein Erzählstil auch daherkommt, er ist sehr dicht und weckt unser Interesse am Mikrokosmos, den er entfaltet. Wir bangen mit den frustrierten Eltern und leiden mit den verstörten Kindern. So zieht der Autor die Leser hinein in das Dorf am See, dessen Landschaft immer stärker magisch aufgeladen wird. Als würde das Gespenst von Müllers Jule darüber schweben.

    "Ist eine Mühle so stark, dass sie eine Frau in die Luft heben kann?", wollte Jakob wissen.
    "Das kommt ganz auf den Wind an", sagte Ballina, "bei starkem Wind ist das wahrscheinlich kein Problem."
    "Ist der Wind heute stark genug?", fragte Jakob.
    "So was macht ja keiner", sagte Ballina, "einen Menschen am Windmühlenflügel aufhängen, jedenfalls nicht bei uns und nicht mehr heute."
    "Aber als Jule hier wohnte, da haben sie das noch gemacht?"
    "Im Märchen." Die Beharrlichkeit seines Kindes begann ihn zu nerven. ( ... )
    Jakob ließ nicht locker. "Wenn jemand drei Tage lang am Hals aufgehängt und durch die Luft gedreht wird, wird der Hals ja so lang. Fällt da nicht der Kopf ab?"
    "Das weiß ich nun wirklich nicht, Jakob, weil so etwas zum Glück keiner macht. Wir sind gleich zu Hause."
    "Ist Mama eine Prostituierte?", fragte Jakob plötzlich.


    Jakobs Mutter hat die Familie verlassen, und der Sohn versucht auf seine Weise damit fertig zu werden. Die Jule spukt also auch in seinem Kopf herum und mischt sich mit den tabuisierten Konflikten zwischen seinen Eltern. Das macht deutlich, welche Funktion die Sage in Huonders Buch erfüllt.

    "Diese Sage von Jule, der Müllersfrau, die von ihrem Mann ganz brutal umgebracht wird, die dient als Bindeglied zwischen gestern und heute, also erzählt aus einer Zeit, in der nicht viel möglich war, entweder war man treu oder man wurde ausgestoßen. Heute sind wir sehr liberal und haben aber meiner Meinung nach noch nicht die Antwort darauf gefunden, wie das eigentlich gehen könnte, dass alle damit zufrieden sind."

    "Dicht am Wasser" ist Silvio Huonders vierte Prosaveröffentlichung und sein drittes Buch, das in Berlin oder Brandenburg spielt. Der Verlag "Nagel & Kimche" hat jetzt auch seinen ersten Roman "Adalina" wieder aufgelegt, der zuletzt vergriffen war. In Huonders Erstling kehrt der Designer Johannes Maculin aus Berlin in seine Schweizer Heimatstadt zurück und wird seiner Jugend konfrontiert. Diese Jugend war ein Alptraum, nicht nur wegen des schrecklichen Schicksals der titelgebenden Adalina. Maculin gerät völlig aus dem Tritt, als die Erinnerungen an die erstickende Enge, an die Verklemmtheit und spießbürgerliche Boshaftigkeit ihn überwältigen.

    "Im Nachhinein habe ich auch gemerkt, dass es durchaus einen therapeutischen Effekt hatte, diesen Roman zu schreiben, für mich. Das wusste ich gar nicht, hatte ich auch in dem Sinne nicht vor. Das war für mich eine Art Standortbestimmung, wer bin ich eigentlich, wo komme ich her, wo stehe ich, und dabei sind sehr viele Dinge zum Vorschein gekommen, von denen ich gar nicht vermutet hatte, dass sie ins Buch einfließen würden."

    Der Schauplatz ist Chur, die Hauptstadt des Kantons Graubünden, in der der Autor fast 30 Jahre lang gelebt hat, bevor er in die Welt hinaus zog. Mit "Adalina" hat er sich offensichtlich frei geschrieben. Der Erstling ist geprägt von einem drängenden, expressiven Stil, während die Handlung auf der Gegenwartsebene, ähnlich wie der Rückkehrer selbst, etwas ziellos durch eine lange Nacht taumelt. Seither hat sich Silvio Huonder zu einem souveränen Erzähler mit einer verdichteten Sprache entwickelt, der sein Material dramaturgisch raffiniert organisieren kann. So wie im neuen Roman "Dicht am Wasser", der seine Handlung in drei Akten an einem Tag und an einem Ort entfaltet - wie ein klassisches Drama.

    Silvio Huonder: "Dicht am Wasser". Roman. Verlag Nagel & Kimche, Zürich, 240 S., Euro 17,90