Freitag, 19. April 2024

Archiv


Klatsche für die Kanzlerin

Auch nach dem zweiten Wahlgang im Reichstaggebäude hat Christian Wulff (CDU) noch keine absolute Mehrheit in der Wahl des Bundespräsidenten bekommen. Die Abweichler aus den eigenen Reihen sind wohl auch als Zeichen des Protests gegen die Politik Angela Merkels zu deuten.

Von Christina Selzer und Christiane Wirtz | 30.06.2010
    Christian Wulff, 51 Jahre alt, geboren in Osnabrück. Sechs in Mathe, einmal sitzengeblieben, Rechtsanwalt und – zehnter Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. So, meine Damen und Herren, hätte diese Sendung begonnen, wenn ... ja wenn alles so gelaufen wäre, wie es Angela Merkel kalkuliert hatte. Aber nicht einmal in ihrer eigenen Koalition kann sie noch so richtig durchregieren.

    44 Stimmen des eigenen Lagers fehlten Wulff im ersten Wahlgang. Im zweiten Wahlgang waren es immer noch 29 Wahlmänner und Frauen von Union und FDP, die ihren Kandidaten abblitzen ließen. Ergo: Auch im zweiten Wahlgang keine Mehrheit für Merkels Mann.

    Einer aus dem sogenannten Bürgerlichen Lager, der behielt aber seinen Humor, ja, er bewies sogar Sinn fürs Komödiantische. Guido Westerwelle, der nach dem zweiten Akt des Dramas ankündigte:

    "Wir sind der Überzeugung, dass Christian Wulff der richtige Bundespräsident ist für Deutschland und deswegen wird die FDP sowie auch in den ersten beiden Wahlgängen mit dieser großen Geschlossenheit auch den Kandidaten der Koalition unverändert unterstützen."

    Weiterhin geschlossen, ja, das sagte er wirklich. Und das, obwohl alle Welt wusste, dass die FDP wie die Union, alles andere als geschlossen hinter Christian Wulff stand. Einige der FDP- Wahlmänner wollten lieber Gauck. Einen davon hat Christina Selzer durch den Tag begleitet:

    Oliver Möllenstädt, 32 Jahre alt, klein und schmal, steht im dunklen Anzug vor dem Berliner Reichstagsgebäude in der Sonne. Es ist 9.30 Uhr 30, zweieinhalb Stunden sind es noch bis zur Wahl des Bundespräsidenten. Der Bremer FDP-Bürgerschaftsabgeordnete und Landesvorsitzende gehört zu den vier Abweichlern der FDP, die nicht Christian Wulff wählen wollen, so wie es die schwarz-gelbe Koalition will, sondern Joachim Gauck.

    "Wir haben sehr lange darüber in unserer Bürgerschaftsfraktion diskutiert und wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass wir zwei hervorragende Bewerber für das Amt des Bundespräsidenten haben, dass wir aber glauben, dass Herr Gauck aufgrund seines Engagements für Bürgerrechte und Freiheitsrechte und seine Verbindung auch mit dem Thema Freiheit aus unserer Sicht ein Stückchen vorne liegt, vor Herrn Wulff."

    Gestern Abend hat es noch eine Fraktionssitzung in Berlin gegeben. Eine gute Gelegenheit für den FDP-Bundesvorsitzenden, noch Einfluss zu nehmen und Druck auszuüben. Doch Möllenstädt schüttelt entschieden den Kopf.

    "Ausdrücklich nicht und ich finde das auch sehr vernünftig, eine gute Geste und das auch sehr richtig und begrüße das ausdrücklich, dass das auch in der liberalen Fraktion noch mal deutlich gesagt worden ist, dass hier auf niemanden Druck ausgeübt wird und wir alle in die Lage versetzt werden, nach unserer persönlichen Meinung auch zu entscheiden."

    Die Ankündigung, Gauck zu wählen, hat für Wirbel gesorgt. Es gibt viele Medienanfragen, gerade hat er beim Fernsehsender Phönix ein Interview gegeben. Zuvor war er im ARD-Fernsehen, um Rede und Antwort zu stehen, warum ein FDP-Abgeordneter aus dem kleinen Bremen sich das antut, denn soviel dürfte klar sein, beliebt macht man sich damit nicht. In diesem Augenblick entdeckt er seinen FDP-Kollegen aus Sachsen, auch Holger Zastrow aus Sachsen gehört zu den vier Abweichlern der Liberalen. Sie unterhalten sich am Rand, dann muss auch Zastrow ein Interview geben. Die Abweichler sind interessant, vorher kannte sie kaum jemand in Deutschland, jetzt stehen sie im Rampenlicht. Doch Möllenstädt legt Wert darauf, dass es eine reine Gewissensentscheidung ist und kein Versuch, bundesweit bekannt zu werden. Vor dem ersten Wahlgang ist er jetzt aufgeregt.

    "So, ich glaube, das darf man sein, also als Parlamentarier, der hier auch schon mal mit schwierigen Situationen zu tun hatte. Aber das ist natürlich etwas ganz besonderes hier und das macht ja auch sehr viel Spaß, alleine das mal mit zu erleben und dabei zu sein. Das ist eine große Ehre und das ist eigentlich das, was mich heute nicht nervös macht, aber was den Tag heute anders erscheinen lässt, als die anderen Tage."

    Nach dem ersten Wahlgang: Oliver Möllenstädt kommt aus dem Plenarsaal.

    "Es war total spannend. Also es ist schon etwas Ungewohntes, wenn hier 1244 Personennamen aufgerufen werden, die einzeln hier zur Wahlhandlung schreiten. Es ist schon ein bewegendes Gefühl."

    Möllenstädt ist immer noch überzeugt, dass es nur einen Wahlgang geben wird und dass Christian Wulff ohnehin genügend Stimmen bekommen wird. Kurz nach 14 Uhr. Das Ergebnis überrascht viele. Es reicht nicht für Christian Wulff. 23 Stimmen fehlen. Mehr als die vier bekannten Abweichler aus der FDP.

    "Das weiß man deshalb relativ genau, weil wir ja schon vier Personen in unserer Fraktion hatten, die sich erklärt haben, dass sie anders wählen werden. Das heißt, es wäre für keinen anderen FDP-Abgeordneten ein Problem gewesen, sich anders zu äußern."

    Es gibt eine kurze Fraktionssitzung. Eine weitere Gelegenheit, Abweichler auf Linie zu bringen. Doch auch nach dieser Sitzung bleibt Möllenstädt hart.

    "Es ist von Guido Westerwelle ganz klar gesagt worden, er hat das zur Kenntnis genommen, dass wir vier gesagt haben, wir werden anders abstimmen. Dies ist auch von ihm zu keinem Zeitpunkt als Problem angesehen worden, es wäre auch kein Problem gewesen, aufgrund des Stimmenverhältnisses und Mehrheitsverhältnisses in der Bundesversammlung. Und wir haben eben noch mal bekräftigt, dass es dabei bleibt und die überwiegende Mehrheit hat zum Ausdruck gebracht, dass sie auch im zweiten Wahlgang Herrn Wulff wählen würde. Das heißt für mich, alle Wahlleute der FDP, exklusive dieser vier Personen."

    Es klingelt zum zweiten Wahlgang. Die Wahlmänner und -frauen strömen Richtung Plenarsaal. Oliver Möllenstädt zupft seine Krawatte zurecht und strafft die Schultern. Er bleibt dabei: Er will auch diesmal für Joachim Gauck stimmen.


    Moderator Peter Kapern: Ein Beitrag von Christina Selzer war das und aus München ist jetzt zugeschaltet Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung. Herr Prantl, was haben wir da heute – und der Tag ist ja noch nicht zu Ende – erlebt? Einen schwierigen Amtsbeginn für Christian Wulff oder ein Zeichen für das nahe Ende der Kanzlerin Merkel?

    Heribert Prantl: Erstens einen schwierigen Amtsbeginn für Christian Wulff und zweitens glaube ich nicht die nahen Zeichen für das Amtsende Merkel, aber dieser Wahltag war für sie ein Zahltag. Es wurden innerparteiliche Rechnungen beglichen und diese Bundesversammlung war schon so etwas wie ein Menetekel für die Kanzlerin. Ich selber habe es nicht geglaubt, dass das Menetekel so deutlich und mit so großer und markanter Schrift ausfallen wird. Es ist eigentlich ein Desaster. Nun haben wir ja wochenlang gesagt und geunkt, wenn der Kandidat der Kanzlerin, wenn Herr Wulff nicht gewählt werden wird, dann ist das Ende der Kanzlerschaft da. Ich habe nie gewusst, wie das richtig gehen soll, mit dem Ende der Kanzlerschaft. Aber es wird immer schwerer für sie und der ganze Wahlkampf war ja so angelegt, dass man das Gefühl hatte, die Sympathien, die der Kanzlerin immer mehr verloren gehen, das Vertrauen, das sie verloren hat, das fließt beinahe euphorisch diesem Kandidaten Gauck zu. Und man hatte das Gefühl, die Kanzlerin hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Sie hat einen machtpolitischen, machtstrategischen Fehler gemacht. Sie hat gespielt mit diesem Bundespräsidentenamt, mit dem höchsten Staatsamt und dieses Spiel hat sich im ersten und zweiten Wahlgang wirklich fürchterlich gerächt.

    Kapern: Was waren die Zeichen der Zeit?

    Prantl: Ich glaube, die Zeichen der Zeit haben sich in diesem Wahlkampf und in dieser euphorischen öffentlichen Unterstützung für den Joachim Gauck gezeigt. Man sagt ja ganz allgemein, wenn sie so hören, wie die Soziologen reden, es gibt so etwas wie eine wutgetränkte Apathie der Bevölkerung und es gibt ungeheuer viel Unzufriedenheit. Diese Unzufriedenheit gibt es ja tatsächlich, mit der Politik, mit der Wirtschaft, mit den Kirchen, mit Arbeit und Lohn, mit Bildung und mit den Lebensperspektiven. Und allgemein wird gesagt, es gibt Wahlenthaltung und der allgemeine Frust, die Politikverdrossenheit würde sich in Distanz zur Politik äußern. Diese letzten vier Wochen haben gezeigt, wie ungeheuer wach das Publikum ist. Das Publikum will nur aus der Politikverkrustung ausbrechen, es will nicht mehr diese Entscheidungen nach Parteiraison haben und das in irgendeiner Parteiroutine die Kandidaten ausgewählt werden. Sie wollen etwas überparteiliches haben. Es ist vielleicht eine bisschen naive Hoffnung, aber diese Hoffnung, auch diese Naivität hat politische Kraft.

    Kapern: Wenn Sie sagen, es sei eigentlich nicht vorstellbar, wie die Kanzlerschaft Merkel zu Ende gehen soll, liegt das daran, dass es niemanden mehr gibt, der es ihr sagt, dass die Kanzlerschaft Merkel zu Ende ist?

    Prantl: Es ist ja beinahe eine dialektische Situation. Machtpolitisch ist ja die Kanzlerin in einer beinahe bequemen Position. Es ist niemand mehr da, der ihr gefährlich werden könnte. Man hat ihr nachgesagt, nicht zu unrecht, mit Wulff hat sie den letzten potenziellen Kritiker, jemand der ihr gefährlich werden könnte, abgeschoben. Abgeschoben in Anführungszeichen, in das höchste Staatsamt. Rüttgers ist weg, Koch ist weg, es ist niemand mehr da, der ihr gefährlich werden könnte. Zugleich ist die Situation für die Kanzlerin, weil nichts klappt, weil sich die Regierung nur dahinschleppt, weil nicht einmal die als sicher geglaubte Wahl des Bundespräsidenten auf Anhieb klappt, in einer ungeheuer gefährlichen Situation. Das ist das Wackelige. Einerseits ist sie innerparteilich so unangefochten wie kein CDU-Kanzler vor ihr, zum anderen wird die Situation allgemein immer gefährlicher und das verlorene Vertrauen in diese Regierung wird immer größer. Es ist eine ganz heikle Situation für die es eigentlich vom Prozedere her keinen Ausweg gibt. Ich kann mir momentan keinen Weg vorstellen, wie man zu einer neuen Regierung kommen soll oder wie Neuwahlen erreicht werden sollen. Alles mit Vertrauensfrage und solchen Geschichten wird ja nicht klappen. Da ist eine Mehrheit da im Bundestag, eine komfortable Mehrheit. Trotz dieser komfortablen Mehrheit klappt das Regieren kaum oder mehr schlecht als recht. Das Wort recht traut man sich gar nicht zu sagen. Das heißt, man muss fürchten, die ganze Geschichte schleppt sich in den nächsten Monaten so weiter und dann gibt es im März nächsten Jahres drei Landtagswahlen, in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt und dann wird es, wenn sich nichts grundlegendes ändert, ein furchtbares Desaster geben für die Regierung von Angela Merkel. Und dann stehen vielleicht Konkurrenten und Gegner auf, die man bis heute noch nicht sieht.

    Kapern: Herr Prantl, noch ganz kurz einen Blick auf die Partei Die Linke, die hat sich noch nicht so recht geoutet, wie sie sich jetzt im dritten Wahlgang verhalten wird. Wenn sie bereits im ersten Wahlgang geschlossen für Gauck gestimmt hätte, wäre Gauck jetzt Bundespräsident. Dass sie es nicht getan hat, was sagt das über die Partei?

    Prantl: Nun ja, sie hat sich ja so eindeutig von Gauck distanziert. Sie hat aus ihrer Sicht und aus Sicht ihrer Wählerinnen und Wähler sehr glaubwürdig erklärt, warum sie diesen Bundespräsidenten oder diesen Kandidaten nicht wählen kann.

    Kapern: Zeigt das, wie viel SED noch in der Partei Die Linke steckt?

    Prantl: Nein, man kann auch Kritik an der Art und Weise üben, wie Gauck sein Amt als Leiter der sogenannten Gauck-Behörde ausgeübt hat. Ich denke, auch wenn nicht SED in einem steckt, kann man sagen, den Kandidaten Gauck will ich nicht haben. Da will ich nicht automatisch ein Zeichen der Antidemokratie, ein Zeichen des nachhängenden Totalitarismus drin sehen. Ich denke, da muss man auch die Schlüssigkeit und die in sich Stimmigkeit der Linken-Politik berücksichtigen und eine gewisse Rücksichtnahme auf die Wähler.

    Kapern: Als Roman Herzog die Nummer eins im Staate war, wollte er "unverkrampft" sein. Horst Köhler versuchte es mit "unbequem". Das ist ihm gelungen. Der Präsident macht das Amt, heißt es. Soll bedeuten: Wie er sich im Staatsgefüge positioniert, das hängt vom jeweiligen Amtsinhaber ab. Und da fielen die selbstverfassten Stellenbeschreibungen durch aus weit auseinander. Christiane Wirtz:

    146 Artikel ist das Grundgesetz lang. Acht davon befassen sich mit dem Bundespräsidenten. Ganze acht. Sie regeln, wie er gewählt wird, dass er auf Gott schwören kann, aber nicht muss, nach seiner Wahl aber weder Ministerpräsident noch Gebrauchtwagenhändler sein darf. Das höchste Amt im Staate duldet keinen Nebenjob. Die wirklich wichtigen Aspekte einer Präsidentschaft sind demgegenüber nicht im Grundgesetz geregelt. Zum Beispiel die Frage, wo der Amtsinhaber im Staatsgefüge stehen soll? Ist er Teil des Apparates, der die politischen Entscheidungen trifft, oder versteht er sich als Vertreter derjenigen, über die entschieden wird?

    O-Ton Köhler: Die Bürgerinnen und Bürger haben mir in den vergangenen Jahren viel Unterstützung gegeben.

    Horst Köhler hat sich immer eindeutig positioniert. Nicht nur, als er im Mai 2008 begründete, warum er 2009 noch einmal zur Wahl antreten wird. Er wollte in Bellevue bleiben, weil er beliebt war. Auf der Welle seiner grandiosen Umfragewerte wollte er siegreich durch die Bundesversammlung surfen. Damit, und nicht nur damit, entschied er sich für seinen Standort im System. Er war der Anti-Politiker, der denen da oben im Auftrag derer da unten mal klipp und klar sagte, wo es lang zu gehen hat. Die Banken, zu deren Rettung Regierung und Teile der Opposition gerade atemberaubende Milliardenbeträge mobilisierten: In Köhlers Augen sind sie Monster. Warum sie dann retten? Das erklärte der selbst ernannte Bürgerpräsident nicht. Politiker ließen sich zu sehr von Meinungsumfragen leiten, urteilte er, der sich nie einer allgemeinen Wahl stellen musste aber gleichwohl am Tropf seiner Popularitätswerte hing. Er schmiegte sich ins Gemüt der Massen, schrieb der Spiegel, und schwingt sich zum obersten Politikverdrossenen des Landes auf. Da klingt es schal, wenn ausgerechnet Horst Köhler einen Monat nach seinem Rücktritt seine Sorge über eine wachsende Kluft zwischen Bürgern und Politikern ausdrückt.

    Andere Präsidenten haben ihre Rolle anders definiert. In Phasen der deutschen Geschichte, in denen die Entscheidungen der Politik nicht weniger tiefgreifend und kontrovers waren als heute. Zum Beispiel Gustav Heinemann, der dritte Bundespräsident. Nach der erbittert geführten Auseinandersetzung um Willy Brandts Ostverträge, die nicht nur die Parteienlandschaft, sondern die gesamte Gesellschaft spalteten, rief er die Bürger dazu auf, ihren Frieden mit den Entscheidungen der Politik zu machen:

    "Die Auseinandersetzungen waren hart. Das Gegeneinander vergangener Jahre muss jetzt zu einem Miteinander in der Zukunft werden."

    2001. Nach den Terroranschlägen von New York und Washington schickt Rot-Grün Truppen nach Afghanistan. Ein Beschluss, der damals von den Bürgern mit fast so viel Skepsis betrachtet wurde wie heute. Bundespräsident Rau versucht sich als Vermittler:

    "Niemand hat sich diese Entscheidung leicht gemacht. Das halte ich für fast genau so wichtig wie die Entscheidung selber."

    Horst Köhler war allerdings nicht der erste Bundespräsident, der sich auf der Woge seiner Popularität zum obersten Politikkritiker aufschwang. Unvergessen Richard von Weizsäckers Generalabrechnung mit den gleichermaßen machtversessenen wie machtvergessenen Parteien. Posten und Pöstchen seien ihr Ziel, ihre Utopie sei der Status Quo, ätzte von Weizsäcker. Skrupelloser hatte noch kein Staatsoberhaupt die Hand derer gebissen, von denen er sich Jahrzehntelang hatte füttern lassen. Ein Präzedenzfall, urteilte damals Hans-Jochen Vogel. Und von Weizsäckers Nach-Nach-Nach-Nachfolger? Wie wird er die Frage beantworten, auf wessen Seite er steht? Joachim Gauck hatte Sympathien gewonnen als Mann, der nicht aus einer Partei stammt. Gleichwohl hat er immer deutlich gemacht, dass er sich nicht als Anti-Politiker versteht. Gaucks Chancen aber stehen schlecht. Und auf welcher Seite steht Wulff, wenn er denn gewählt wird?

    Kapern: Also, Herr Prantl, was denken Sie, wie würde sich ein Bundespräsident Christian Wulff positionieren? Auf der Seite der Politikverdrossenen oder auf der Seite der Politik?

    Prantl: Nein, ich glaube nicht auf der Seite der Politikverdrossenen. Er ist ja selber Parteipolitiker. Nun weiß man, dass das Publikum, die Wählerinnen und Wähler, eigentlich einen wahnsinnigen Verdruss über Parteipolitiker haben. Er wird erst einmal versuchen müssen, sich ganz schnell frei zu schwimmen, von den Leuten und von den Parteien, die ihn gewählt haben. Es ist ja wieder eigentlich wie bei Köhler. Er wurde auch deswegen ausgewählt, weil er eine CDU-FDP-Regierung verkörpert und er soll sozusagen, das war wohl die Absicht auch von Merkel, diese Regierung stabilisieren. Wenn er so etwas zu erkennen gibt, hat er schon am ersten Tag verloren. Er muss schon versuchen, etwas zu machen, was Gauck angekündigt hat. Ein kritischer Beobachter von Politik zu sein und etwas, das Gustav Heinemann, der dritte Bundespräsident so vorzüglich gekonnt hat, ein Makler, ein Vermittler zu sein zwischen Staat und Bürger, zwischen Politik und Bürger. Nicht einem nach dem Munde zu reden um sich bei denen einzuschmeicheln sondern tatsächlich aus eigener Kenntnis von Parteipolitik, deren Schwierigkeiten zu schildern und Verständnis beim Bürger zu wecken, aber auch zu kritisieren. Also, sozusagen seinen Sensus in beiden Lagern zu haben und zu versuchen, sie wieder zusammenzubringen. Man muss sagen, es hat sich eine tiefe Kluft aufgetan, in dieser Kluft ist auch dieser euphorische Wahlkampf für Gauck geführt worden. In diesem Loch, das da gebaggert worden ist, steht jetzt der künftige Bundespräsident Wulff und muss versuchen, ein bisschen was von dem als Antrieb für die Demokratie zu gewinnen, was sich in dem euphorischen Eintreten für Gauck in den letzten Wochen gezeigt hat.

    Kapern: Heribert Prantl war das, live zugeschaltet aus München, von der Süddeutschen Zeitung mit seinen Einschätzungen zur Bundesversammlung, die in Berlin derzeit läuft. Ich sage Danke nach München.

    Wir haben jetzt das Serbien-Spiel gehabt, jetzt kommt das England-Spiel. "Lasst uns das richtig machen". Das ist ein Zitat, das die Nachrichtenagentur DAPD gerade aus Berlin liefert. Ein Zitat, das Angela Merkel zugeschrieben wird. So hat sie ihre Fraktion vor dem dritten Wahlgang eingeschworen. Warten wir ab, ob es ausgeht wie das letzte England-Spiel in München. Das haben wir eins zu fünf verloren. Wir halten sie permanent über den Stand der Dinge im Reichstag auf dem Laufenden, meine Damen und Herren, bei uns erfahren sie, wer Bundespräsident wird.