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Klaus Nüchtern: "Kontinent Doderer"
Ein Mann der gelebten Widersprüche

Mit der "Strudlhofstiege" und den "Dämonen" hat Heimito von Doderer zwei der bedeutendsten Großstadtromane des 20. Jahrhunderts geschrieben. Zum 50.Todestag des Schriftstellers legt der Wiener Literaturkritiker Klaus Nüchtern eine umfangreiche Doderer-Studie vor, die Lust auf eine kritische Lektüre des Monumental-Romanciers machen soll.

Von Günter Kaindlstorfer | 20.12.2016
    Der österreichische Schriftsteller Heimito von Doderer (u.a. "Die Strudelhofstiege", "Die Dämonen", "Die Merowinger oder Die totale Familie") in einer zeitgenössischen Aufnahme vor der Strudelhofstiege.
    Doderers Roman "Die Strudlhofstiege" ist ein virtuoses Spiel mit verschiedenen Zeitebenen. (picture alliance / Imagno / Votava)
    Im Juni 1957 zierte Heimito von Doderers Konterfei das Cover des "Spiegel": Nach dem Tod von Bertolt Brecht und Thomas Mann erklärte das Hamburger Magazin den verkauzten Meisterromancier aus Wien zum Thronanwärter für den "verwaisten Kronsessel der deutschen Literatur". Kurz zuvor hatte der österreichische PEN den Autor der "Dämonen" und der "Strudlhofstiege" bereits für den Literaturnobelpreis nominiert. Zu jener Zeit, der Dichter war Anfang sechzig, befand sich Heimito von Doderer auf dem Höhepunkt seines Ruhms.
    Von einer Krise des Romans – oder gar vom viel zitierten Tod desselben – wollte Doderer in einem seiner letzten Interviews nichts wissen:
    "Darauf kann ich nur antworten: Das breite, groß angelegte epische Kunstwerk ist nicht nur möglich und bleibt weiter möglich, sondern es ist das eigentliche Kunstwerk unserer Zeit. Freilich kann ich vom Roman nur als von einer Möglichkeit, einer Idealität sprechen, aber der Roman in seiner Idealität wäre wirklich ein Gesamtkunstwerk, wie es frühere Zeiten – ich denke an die Gotik im Kirchenbau, – hatten."
    Der moderne Roman als monumentale Form des Gesamtkunstwerks, der – in Weiterentwicklung des gotischen Kathedralenbaus – ein multiperspektivisches Bild der Welt zu entwickeln in der Lage ist: So konnte sich – zwanzig Jahre nach dem Tod von James Joyce – nur ein Konservativer äußern. Der Wiener Literaturkritiker Klaus Nüchtern hält es allerdings für zu kurz gegriffen, wenn man Heimito von Doderer als rein restaurativen Schriftsteller abkanzelt.
    "Er war sicher ein eher konservativer Autor, und all diese Reden, die er zum Beispiel dem Hofrat Gürtzner-Gontard in den Mund legt in den "Dämonen", also die Invektiven gegen den Typus des Revolutionärs, sind, glaube ich, eins zu eins die eigenen Ansichten. Aber er hatte auch einen stark anarchistischen Zug, einen bockigen Individualismus, der ihn zumindest vor einem konservativen Spießertum geschützt hat."
    Reklame für Doderers Romane und Erzählungen
    Heimito von Doderer, das arbeitet Klaus Nüchtern in seiner Studie heraus, war ein Mann der kraftvoll gelebten Widersprüche: Apolliniker und Dionysiker, Traditionalist und Modernist, polterndes Originalgenie und feinsinniger Gentleman Altwienerischer Prägung. Nüchtern, der langjährige Feuilletonchef der Wiener Wochenzeitung "Falter", nähert sich dem 1896 geborenen Sohn einer k.u.k.-Ingenieursfamilie mit Kenntnisreichtum und ironischer Distanz, etwa, wenn er Doderers Spanner-Roman "Die erleuchteten Fenster" mit Alfred Hitchcocks berühmtem Thriller "Fenster zum Hof" vergleicht. Diese respektvolle, aber stets um Abstand bemühte, mitunter auch spielerische Haltung Nücherns zum Objekt seiner Analyse ist wohltuend. Blindgläubige Doderer-Verehrung ist seine Sache nicht:
    "Meine Haltung ist eher die eines Atheisten, der eine Kirche besucht. Das hindert mich ja nicht, den kunsthistorischen Prunk und die Ästhetik der Kirche wohlwollend zu ästimieren, ohne dass ich dort beten muss."
    Nein, von Anbetung kann keine Rede sein in Klaus Nüchterns Doderer-Buch. Gleichwohl, das verhehlt der 55-Jährige nicht, will er durchaus Reklame machen für Doderers Romane und Erzählungen, die er eifriger gelesen haben möchte:
    Klaus Nüchtern: "Er ist im Grunde genommen ziemlich genau das Gegenteil von dem Klischee, das im Umlauf ist: dass es sich um einen umständlichen, schwierigen, altmodischen Autor handelt. Das finde ich überhaupt nicht."
    Heimito von Doderer: "Den Roman als vergangen und als in einer tödlichen Krise befindlich zu erachten, halte ich für verfehlt. Es heißt nur, seine Technik noch weiter zu entwickeln und von einer additiven und rein aufeinanderfolgenden Erzählung langsam fortzuschreiten zu einer höheren Art der Erzählung, zu einer Gleichzeitigkeit der Zeiten im Roman oder zu ähnlich, kühneren Griffen in die Wirklichkeit des Lebens, ohne sich so sehr an dessen Oberfläche zu klammern."
    Acht Essays über sein Leben
    In Heimito von Doderers figurenreichen Romanen verknüpft sich ein ironisch-melancholischer Hang zum Neo-Barock mit einem ingenieurhaft akribischen Konstruktionsinteresse. Altösterreichische Opulenz trifft moderne Rationalität. Vielhundertseitige Werke wie die "Dämonen" und "Die Strudlhofstiege", aber auch ein leichter zugänglicher Roman wie "Die Wasserfälle von Slunj" sind Meisterwerke planerischer Umsicht und kompositorischer Detailversessenheit.
    Klaus Nüchtern hat sich durch das Doderersche Gesamtwerk geschmökert, viele tausend Seiten. Seine Landvermessung des "Kontinents Doderer" kommt humorvoll und angenehm unakademisch daher. In acht Essays nimmt sich Nüchtern interessanter Fragen an: Was hat es mit Doderers kurzzeitigem Flirt mit der NSDAP auf sich? Wie konnte der Autor nach dem Krieg trotz seiner NS-Verstrickung zum österreichischen Staatsdichter aufsteigen? Was für ein Wien zeigt sich in den Großstadtromanen Doderers? Und wie stand es wirklich um die sexuellen Vorlieben des Schriftstellers, die bis heute Anlass zu pikanten Spekulationen geben? Völlig zu Unrecht übrigens, wie Klaus Nüchtern meint:
    "Er hat sowohl aus seinen voyeuristischen als auch aus seinen sadomasochistischen Neigungen kein Hehl gemacht. Also der Voyeurismus spielt in den 'Erleuchteten Fenstern' eine wesentliche Rolle, da geht’s einfach um einen pensionierten Amtsrat, der mit Feldstecher und Fernglas die vis a vis wohnende Weiblichkeit beim Entkleiden beobachtet. Diesem Hobby ist er mit Freunden auch persönlich nachgegangen. Und in den 'Dämonen' geht’s auch um einen fingierten Hexenprozess, da lebt er halt seine SM-Neigungen aus, die er auch mit seinen Ehefrauen und Geliebten privat nachgestellt hat."
    Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht: In diesem Punkt – möglicherweise nicht nur in diesem – war Heimito von Doderer ein lupenreiner Nietzscheaner.
    In seinen öffentlichen Stellungnahmen, zumal in seiner Spätzeit, präsentierte sich der Schriftsteller, in dessen Werk die verblasste Grandezza der einstigen k.u.k.-Metropole Wien als ferner Nachhall weiterklingt, als weltgewandter Kosmopolit.
    "Ich verstand und erfühlte im Laufe des Lebens geradezu körperlich viele Sphären: Russische Häuschen an Winterabenden, türkische Cafés, italienische Städte bei Nacht, die französischen Küchen mit dem großen Kamin, die taubengrau gegen das Meer geöffnete Landschaft des Ärmelkanals an der normannischen Küste und die tiefe Freundlichkeit und Melancholie eines kleinen Wiener Cafés in der Vorstadt, und ebenso die höchst schätzenswerten Meriten eines Frühstücks in London. Ich fühle alles das so sehr ins Mark hinein, dass ich – recht österreichisch – viele Vaterländer heute habe."
    Heimito von Doderer, der Mann mit den vielen Vaterländern, hätte sich den Literaturnobelpreis ohne Zweifel verdient. Das Stockholmer Komitee des Jahres 1957 entschied anders: Albert Camus bekam den Preis. Auch keine schlechte Wahl.
    Klaus Nüchtern: "Kontinent Doderer – Eine Durchquerung"
    C.H. Beck, München, 352 Seiten, 28 Euro