Reihe: Wirklichkeit im Radio

Ein weites dunkles Land

81:18 Minuten
Ein Mann steht mit dem Rücken zur Kamera an einer Wand in einem Garten.
Eine Welt für sich: die Psychiatrie. © picture alliance / Maurizio Gambarini
Von Klaus Lindemann · 31.08.2019
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Deutschland ist durchzogen von einem Inselreich aus Psychiatrien. Gemeinsam bilden sie ein dunkles weites Land mitten unter uns. Ein Feature von 1982, das nichts von seiner Intensität verloren hat.
Ein weites dunkles Land - so hat man die Psychiatrie in Deutschland genannt. Man könnte - analog zu Solschenizyns Bild vom Archipel Gulag - die Psychiatrie als ein Inselreich bezeichnen, das fast unsichtbar nach eigenen Gesetzen existiert und in dem Menschen gepflegt, behandelt oder gefangen gehalten werden, kranke, gestörte, behinderte Menschen oder solche, die in Sackgassen geraten sind. Es ist eine Welt für sich, mit ihren Regeln und Vorschriften, mit ihrer besonderen Menschlichkeit und ihrer besonderen Unmenschlichkeit.

Ein weites dunkles Land
Arbeits- und Lebensbereiche der psychiatrischen Klinik
Von Klaus Lindemann
Regie: Klaus Lindemann
Mit: Wolfgang Unterzaucher, Friedhelm Ptok, Charles Wirths
Ton: Günter Genz
Produktion: SFB 1982
Radiofassung: 53’52
Onlinefassung: 81'12

Den folgenden Essay finden Sie zusammen mit zahlreichen weiteren und vielen Extras auf dieser Webseite.
Das dunkle Land der Psychiatrie betritt man durch ein scheppernd und rasselnd zuschlagendes Tor, das wie ein Gefängnistor klingt. Aus dem Nachhall des Geräusches steigt die klare Stimme eines Mannes auf, der von seinem "Delirium" erzählt. Wie ihn Stimmen bedroht haben: "jetzt holen wir dich, jetzt holen wir dich". Wie rote Fäden um ihn herumschlängelten und ihm den Garaus machen wollten. Wie schließlich seine Frau, die die Fäden nicht gesehen hat, ihn ins Krankenhaus bringen musste.
Nicht alle Menschen sprechen so präzise und klingen so souverän wie dieser Maschinenbauingenieur auf der Innenseite des zugeschlagenen Tores. Im Verlauf des Stückes werden viele andere Varianten der Artikulation auftreten: das Stakkato einer erfundenen Sprache, das Lallen eines erwachsenen Heimkindes, das nie Sprechen gelernt hat, das Schreien einer Frau in der Isolierzelle, das Stöhnen eines alten Mannes, der Angst hat, dass er nicht in sein Bett zurück darf.
Klaus Lindemann schreibt nicht über die Psychiatrie, sondern geht dorthin. Er begleitet Ärzte und Pfleger, vor allem aber ist er teilnehmender Beobachter und nimmt Szenen auf. Er versucht das dunkle Land auszuleuchten und geht ins Badezimmer, in den Schlafsaal, in die Küche und auch in die Isolierzelle. Und kommt mit schmutzigen, teilweise verrauschten, teilweise technisch brillianten Aufnahmen von hoher Intensität zurück. Der Autorentext ist sparsam, er erschließt die Orte und informiert darüber, wer gerade spricht. Und er beschreibt Sinneseindrücke, die man nicht hören, aber riechen kann.
Die Szenen sind eindringlich und nicht zitierbar, denn sie folgen keinem Skript. Ein Mann sagt zur Ärztin in einem erfundenen Schnellsprech mit englischen Brocken, etwa das: "stetokrisirisidokfaiiwassaweckisrumailawjudownidijugoodold", aber ungefähr drei Mal so viel. Sie solle das mal wiederholen. Die Ärztin sagt: "Sie überschätzen mich erheblich, das kann ich nicht", der Mann daraufhin: "Dann wissen sie noch weniger als ich" und fordert sie auf, ihn in die Universitätsklinik zum Test zu bringen, denn in der anderen Klinik seien die Ärzte viel zu dumm gewesen, viel zu dumm.
Aus der Isolierzelle kommen die Schreie einer Frau, Fäuste wummern gegen die Tür. "Ihr Schweine! Ihr Schweine!" Der Arzt öffnet die Tür und spricht mit Elisabeth, die sagt, dass sie sich ungerecht behandelt fühlt, dass sie keine grünen Bohnen knacken will und dass sie die Fensterscheiben mit der Faust eingeschlagen hat, weil sie nicht in die Gemeinschaft aufgenommen wird. "Noch etwas?" fragt der Arzt. "Nein", sagt Elisabeth. Aber es ist nicht die Information aus dem Gespräch, die die Szene so besonders macht. Es ist der Ton des Arztes, der die Patientin duzt, dessen feste Stimme präzise Antworten einfordert und demgegenüber die eben noch wütend hämmernde Elisabeth steht, die ihn siezt, die eher leise antwortet, mit Resignation und Trotz in der Stimme. Das Gefälle von Macht und Hilflosigkeit, von Fürsorge und Fesselung. Nachdem die Schwester Elisabeth aus der Isolierzelle geholt hat, sitzt sie da, wo sie nicht hinwollte, in der Küche beim Bohnenknacken. Man hört einen Singsang von Frauenstimmen, darunter eine, die weint, und erfährt vom Erzähler, dass es Elisabeth ist, die weint und dass es die Schwachsinnigen sind, die sich summend und klagend Elisabeth angeschlossen haben.
Wir waren uns wie bei kaum einem anderen Stück schnell einig, dass es zu den Favoriten gehören soll.
"Dieses Stück habe ich vor zehn oder 12 Jahren gehört und es lag mir schwer im Magen: dunkles Land. Jetzt erst merke ich, wie gut es gemacht ist, mit welch leisen und eindringlichen Mitteln es erzählt ist. Wie es mit Räumen und Fluren und Distanzen spielt."
"Die Protagonisten sind einfach dermaßen gut ausgewählt. Ich liebe jeden einzelnen davon! Und auch den Erzähler, der hört, schaut, nur das Nötigste erklärt, klug ohne sich aufzuspielen."
Stephen Erickson, Tonmeister und Klangkünstler, schrieb im Sommer 2019 seine Erinnerung an Klaus Lindemann auf:
"Ich erinnere mich, wie ich mit Klaus im Studio war, während er Regie führte. Damals stellte ich ihn mir als Dirigenten vor, der den Instrumenten Einsätze gab, den Bläsern, den Trommeln, nicht den Geigen. Maschine eins, Maschine zwei, lauter, Blende. Erst später merkte ich, dass ich alles falsch verstanden hatte, Klaus war kein Dirigent, er malte. Klaus war und blieb in erster Linie Maler, er schuf Bilder, nur war im Tonstudio seine Palette akustisch, seine Farben waren Töne." (Die vollständige Erinnerung siehe unten.)
Das Thema Psychiatrie war hochaktuell in den 1970er Jahren, in denen das "Irresein" als der Aufschrei der Unterdrückten interpretiert wurde. Die Antipsychiatriebewegung kritisierte die gängige Praxis der Fixierung, Zwangsmedikamentierung und Elektroschocks. Sie prangerte den entwürdigenden Alltag in den Psychiatrien an, das Zusammensperren von Drogenkranken mit Schwachsinnigen, mit Depressiven und Schizophrenen. In den Archiven der Radioanstalten liegen zahlreiche Features aus diesen Jahren, die über die neuen Wege der Psychiatrie in Italien berichten, über Arzt-Patienten-Kollektive oder über Versuche, in denen die Patienten als Schauspieler auf der Bühne, als Maler oder als Komponisten gefeiert wurden.
Klaus Lindemann hält zu allen Varianten gleich große Distanz. Er agitiert nicht und analysiert nicht, er stellt nicht aus und verklärt nicht. Sehr viele verschiedene Stimmen kommen zu Wort, auch Menschen, die sich kaum artikulieren können und Fürsprecher brauchen. Ein Wunder, dass das damals so möglich war.
Marianne Weil
Meeting Klaus Lindemann
Von Stephen Erickson
It was 1984. Still young to radio I’d taken a job wildly beyond my experience -Program Director for a chaotic free radio station in New York City. On accepting the position one condition I’d set was that I would be able to make a planned trip to Berlin before I began.
Two years earlier I’d first heard the English language version of Bells in Europe, – Glocken – I hadn’t even noticed the assistant for the production was Klaus Lindemann. Bells changed my life. I searched out Leo Braun, the maker, contacted him, asked to come to Berlin to work with him in some capacity. He responded something about "like clouds in the wind, everything changes" he was no longer making documentary, he was now leading the documentary department. Supportive, he mentioned a colleague would be coming to New York to participate in a radio workshop and he’d put us in contact.
1983. A hotel ballroom in NYC. Klaus Lindemann presents excerpts from a collection of works to a gathering of radio freaks, mostly younger makers trying to find their way in the diverse US radio territory.
After his presentation Klaus and I introduced. In the hotel bar we talked radio. Breathing rarefied air. With little idea what was to follow I told my story, saying I wanted to learn more about making German features. Klaus suggested that when he had a production I come to Berlin for a couple weeks so I could observe, learn. There we left it, Klaus saying that at the moment there was nothing appropriate in his schedule. He’d be in touch.
Some months later a letter arrived, asking could I come to Berlin the first weeks of April 1984. He had a program to make, it wasn’t an important program but one with good elements and problems I might learn from.
Bags packed, flight booked. I arrived for a 3 week stay.
Now, half a step back in our story. Back to that earlier meeting in New York. At the radio gathering, among the excerpts Klaus played was one from a production he’d recently finished. Reading a transcript while listening was a new experience. I understood it was something from mental hospitals, from the sound something important, but something horrible. It lingered, left me unsettled.
Now in Berlin I had a daily schedule. At noon, in an edit room noon I’d listen to features that Klaus selected. All with English transcripts. Eclectic. The story of Lesconil a wonderful French production exploring the changes in the acoustic landscape, a Finnish program that unfolded so slowly it seemed time stood still, and among the German programs, A Far and Dark Country, the program I’d heard the excerpt from the year before. The impression, still stronger.
Later, in the afternoons, I’d meet Klaus, our assistant (sorry but I forget your name but not the wonderful smoked eel you brought back from a weekend at the Ostsee) and Bambi our ton engineer for the evenings of studio work. It was a small production about PfauenInsel, not a feature from Klaus, he was directing and unhappy with the author who didn’t allow at the sessions.
I watched, listened, learned. As Always I learned slowly. I still see the studio, tape machines, still hear the exchanges between Klaus, the assistant and Bambi. Even now I smile. Machines cued, mix begins, the assistant misses a start point but something unexpected happens, something that was at times the magic of analog radio production. Klaus turns to Bambi and says, again just so, but that last fade needs to be a bit longer. A disagreement, the fade was perfect. Again the start, the mix, the same fade. Silence. From Klaus a quiet scowl. Machines again re-cued and now a new fade. Serious and playful.
When these studio sessions ended, about six hours, off to the Florin with Klaus for dinner, drinks, conversation – lasting late. At the time I understood that in these "after hours" I was getting my real lesson, the listening was crucial, the studio fantastic, but the conversation, when it was often just me and Klaus for hours, if the air in New York was rarefied, for a young program maker this was spiritual.
When I returned to New York I was on a mission. I needed to introduce my colleagues to radio as I had experienced it in Berlin. The depth, the delicacy, an unbending power. And where Bells remained a life force, a wonder in it’s blend of subtly and grandeur, A Far and Dark Country had gravitated to a place of awe.
Now, when asked to say some words of introduction, to Ein Weites Dunkles Land, I hesitated. I hadn’t heard the program for perhaps 15 years. But in the years from first hearing excerpts in New York in 1983, to eventually moving to Berlin, learning German, then eventually hearing without need of a translation, the power never diminished. I have a copy, suggested that perhaps I would listen again before I write these words. I have not.
I hear it now as Klaus might have wished. I hear it as a radio maker. I hear stories, I hear the elegant long fades, the abrupt cuts, the blend of delicacy and brutality. I hear it as pictures painted on my soul. Klaus was a painter.
I recall a long presentation from Leo Braun, his concept of acoustic film. I remember being in the studio with Klaus, his directing a production. At that moment I imagined him conducting an orchestra, calling the winds, the drums, not the violins. Machine one, machine two, volume up, fade. Later I realized I had it all wrong, Klaus wasn’t directing an orchestra at all, he was painting, for Klaus was foremost and always a painter, he created pictures and in the audio studio his pallet was acoustic, his color was sound.
Seldom does a person take a gift in one medium and transfer it so completely to another.
A masterwork in imagery. Ein Weites Dunkles Land. The pictures haunt me still.
I’ll listen again now.
Begegnung mit Klaus Lindemann
Von Stephen Erickson
1984, als Neuling im Radio, hatte ich einen Job übernommen, für den ich kaum Erfahrung mitbrachte – Programmdirektor eines chaotischen freien Radiosenders in New York City. Ich hatte die Stelle unter der Bedingung angenommen, dass ich vorher eine bereits geplante Reise nach Berlin antreten konnte.
Zwei Jahre zuvor hatte ich zum ersten Mal "Bells" gehört, die englische Fassung von "Glocken in Europa"; dass der Produktionsassistent Klaus Lindemann hieß, war mir damals gar nicht aufgefallen. Diese Glocken sollten mein Leben verändern. Ich besorgte mir den Kontakt des Autors Leo Braun, schrieb ihm und fragte, ob ich nach Berlin kommen und in irgend einer Funktion mit ihm zusammen arbeiten könne. Er antwortete etwas in der Art von "alles ändert sich, wie Wolken im Wind", er mache jetzt keine Dokumentationen mehr, leite die Featureabteilung. Aber er wollte mir weiterhelfen und erwähnte, ein Kollege komme demnächst nach New-York um an einem Radio-Workshop teilzunehmen, er werde uns beide in Kontakt bringen.
1983, der Ballsaal eines Hotels in NYC. Klaus Lindemann präsentiert Auszüge aus verschiedenen Stücken vor einigen meist jüngeren Radiofreaks, die sich in der vielfältigen US-Rundfunklandschaft orientieren wollen.
Nach seinem Vortrag stellte ich mich Klaus vor. In der Hotelbar sprachen wir über Radio. Atmeten Höhenluft. Ziemlich ahnungslos was die Konsequenzen betraf, erzählte ich meine Geschichte und sagte, ich wolle mehr darüber erfahren, wie die Deutschen ihre Radiofeatures machten. Klaus schlug vor, ich solle zu einer seiner nächsten Produktionen ein paar Wochen nach Berlin kommen, ihn beobachten und lernen. Dabei beließen wir es, Klaus meinte, im Moment habe er nichts Passendes geplant. Er werde sich melden.
Einige Monate später kam sein Brief: ob ich 1984 in den ersten Aprilwochen nach Berlin kommen könne. Er werde eine Sendung mischen, nichts Bedeutendes, aber mit guten Elementen und Schwierigkeiten, aus denen ich etwas lernen könne.
Koffer gepackt, Flug gebucht. Ich reiste an um drei Wochen zu bleiben.
Noch mal ein bisschen zurückgespult. Zurück zu diesem ersten Treffen in New York. Unter den Ausschnitten, die Klaus bei der Radio-Konferenz spielte, war einer aus einer frisch beendeten Produktion. Ein Transkript lesen, während ich eine Sendung anhörte, war ungewohnt für mich, aber immerhin verstand ich, dass es um psychiatrische Kliniken ging, vom Klang her war es etwas Bedeutsames, aber auch Schreckliches. Es blieb hängen, ließ mich nicht los.
In Berlin angekommen, hatte ich sofort einen Tagesplan. Mittags hörte ich mir in einem Schneideraum die Features an, die Klaus für mich ausgesucht hatte, immer mit englischen Transkripten. Eine eklektische Auswahl. Die Geschichte von Lesconil, eine wundervolle französischen Produktion, die die Veränderungen in der akustischen Landschaft erkundet. Ein finnisches Programm, so langsam erzählt als stünde die Zeit still. Und unter den deutschen Programmen war "Ein Weites dunkles Land", die Sendung also, aus der ich ein Jahr zuvor den Ausschnitt gehört hatte. Diesmal war der Eindruck noch stärker.
Später am Nachmittag sollte ich Klaus, unseren Assistenten (Entschuldigung, ich habe Ihren Namen vergessen, aber nicht den köstlichen Räucheraal, den Sie von einem Wochenende an der Ostsee mitbrachten) und den Toningenieur Bambi, bei der Arbeit im Studio treffen. Es war eine kleine Produktion über die Pfaueninsel, Klaus führte Regie und war unzufrieden mit dem Autor, den er nicht ins Studio ließ.
Ich habe zugesehen, zugehört, gelernt. Wie immer lernte ich langsam. Ich sehe immer noch das Studio vor mir, die Bandmaschinen, höre das Gespräch zwischen Klaus, dem Assistenten und Bambi. Noch heute muss ich schmunzeln. Die Maschinen warten, die Mischung beginnt, der Assistent verpasst den Startpunkt, aber es passiert etwas Unerwartetes, das gehörte zur Magie der analogen Radioproduktion. Klaus dreht sich zu Bambi um und sagt, "noch mal genau so, nur die letzte Ausblende, die muss noch viel länger dauern." Eine Meinungsverschiedenheit, die Ausblende war perfekt. Noch mal von vorne, die gleiche Mischung, die gleiche Ausblende. Stille. Klaus runzelt ernst die Brauen. Die Maschinen laufen wieder an, eine neue Blende. Ernst und verspielt.
Am Ende dieser Studio-Sessions, die ungefähr sechs Stunden dauerten, ging es mit Klaus ins Florian zu Abendessen, Drinks und Gesprächen – bis spät in die Nacht. Nach und nach verstand ich, dass ich in diesen Extrastunden den eigentlichen Unterricht erhielt; hören war entscheidend, das Studio aufregend, aber in diesen oft stundenlangen Gesprächen — nur Klaus und ich — bekam der junge Radiomacher, der in New York schon Höhenluft geschnuppert hatte, seine spirituelle Unterweisung.
Zurück in New York hatte ich eine Mission. Ich musste meinen Kollegen die Radioarbeit vermitteln, die ich in Berlin erlebt hatte. Tiefe, Zartheit und eine unbeugsame Kraft. Die "Bells" blieben ein Ausdruck der Lebenskraft, ein aus Subtilität und Erhabenheit gemischtes Wunder. "A Far and Dark Country" hatte sich indessen für mich zu einem Ort der Ehrfurcht entwickelt.
Zunächst zögerte ich, als ich gebeten wurde, ein paar einleitende Worte zu "Ein Weites Dunkles Land" zu sprechen. Vor etwa 15 Jahren habe ich die Sendung zuletzt gehört. Aber in den Jahren zwischen den ersten Hörproben in New York 1983 und meinem Umzug nach Berlin, dem Lernen der deutschen Sprache, so dass ich das Stück endlich ohne Übersetzung hören konnte, hatte es seine Kraft für mich nie verloren. Natürlich habe ich eine Kopie, schlug also vor, ich würde, vor dem Schreiben, die Sendung noch einmal anhören. Was ich nicht tat.
Jetzt endlich höre ich sie, wie Klaus es sich gewünscht hätte. Ich höre als Featuremacher. Ich höre die Geschichten, höre die eleganten langen Ausblenden, die abrupten Schnitte, die Mischung aus Zartheit und Brutalität. Ich höre das alles, Bilder, die auf meine Seele gemalt sind. Klaus war Maler.
Ich erinnere mich, wie Leo Braun einmal sein Konzept des akustischen Films vorstellte. Ich erinnere mich, wie ich mit Klaus im Studio war, während er Regie führte. Damals stellte ich ihn mir als Dirigenten vor, der den Instrumenten Einsätze gab, den Bläsern, den Trommeln, nicht den Geigen. Maschine eins, Maschine zwei, lauter, Blende. Erst später merkte ich, dass ich alles falsch verstanden hatte, Klaus war kein Dirigent, er malte. Klaus war und blieb in erster Linie Maler, er schuf Bilder, nur war im Tonstudio seine Palette akustisch, seine Farben waren Töne.
Es kommt nur selten vor, dass ein Mensch eine Begabung in einem Medium so vollständig auf ein anderes übertragen kann.
Ein Meisterwerk der Bildsprache. Ein Weites Dunkles Land. Die Bilder lassen mich nicht mehr los.
Jetzt werde ich es noch einmal anhören.

Biografie
Klaus Lindemann, Maler, Autor und Feature-Regisseur, geboren am 4. März 1930 in Gütersloh, studierte Malerei bei Karl Schmidt-Rottluff an der Hochschule der Bildenden Künste in Berlin. Seinen materiellen Lebensunterhalt für sein Leben als Maler erarbeitete sich Klaus Lindemann lange Jahre als Garderobier der legendären Bar "Volle Pulle" im Hotel am Steinplatz. Peter Leonhard Braun holte ihn zum Sender Freies Berlin, wo Klaus Lindemann von 1969 bis 1993 als Dramaturg, Autor und Regisseur für die Feature-Abteilung arbeitete. Zwei seiner Radio-Features wurden mit dem Prix Italia ausgezeichnet: "Kann man Verdi ernst nehmen?" (SFB/BR/NDR 1975) und "Ein dunkles weites Land" (SFB/SDR/NDR 1982). Bei über 300 Stücken führte er Regie. Im Ruhestand, seit 1993, fing er wieder an zu malen. Klaus Lindemann starb am 31. Dezember 2004 in Berlin.
"Ein weites dunkles Land" war Teil einer Feature-Reihe im SFB, die sich dem Thema Psychiatrie widmete.
Ausgewählte Stücke
"Die Berge des Orpheus" (SFB 1973)
"Kann man Verdi ernst nehmen?" (SFB/BR/NDR 1975)
"Das Dorf über dem See" (SFB 1976)
"Ein weites dunkles Land" (SFB/SDR/NDR 1984)