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Klimawandel
Meeresgletscher schmelzen schneller als gedacht

Von Alaska bis zur Antarktis münden tausende Gletscher ins Meer. Auch diese schmelzen und lassen den Meeresspiegel steigen - in welchem Ausmaß war bislang allerdings unklar. Nun wurde die Abschmelzrate am LeConte-Gletscher in Alaska mit einer neuen Messmethode bestimmt - mit überraschendem Ergebnis.

Von Dagmar Röhrlich | 30.07.2019
Gletscher in Alaska: Ein Eisbrocken bricht ab und stürzt krachend in den Ozean.
Ein Forschungsteam hat die Schmelzrate eines Gezeitengletschers mit Hilfe einer neuen Methode gemessen. (imago/Anka Agency International)
Wie schnell Gezeitengletscher zurückweichen, die direkt ins Meer fließen, ist bislang noch nie gemessen worden – aus gutem Grund:
"Das Ganze hört sich nur in der Theorie einfach an: Man vermisst vom Schiff aus mit dem Sonar die Unterseite des Eises, außerdem die Strömungsgeschwindigkeit und den Salzgehalt des Wassers – so, wie wir es 2016 und 2017 machten, und zwar Tag für Tag in Mai und August. Doch dazu muss man ganz nah an die Gletscherfront. Von der können Eisberge abbrechen, und es herrschen dort starke Strömungen. Die werfen das Boot umher, das zwischen den Eisbergen hindurch manövriert werden muss – und außerdem steht der Gletscher nicht still: Der LeConte-Gletscher, den wir vermessen haben, schiebt sich pro Tag 25 Meter in den Fjord."
Erzählt David Sutherland von der University of Oregon in Eugene. Während der Kapitän ein Meisterstück vollbrachte, maßen Glaziologen weiter oben auf dem Gletscher die Bewegungen mit Zeitrafferkamera und Radar und nahmen Eisproben. Aus allen diesen Daten berechneten die Wissenschaftler dann, wie schnell sich der Gletscher zurückzieht:
Zehn- bis hundertmal höhere Abschmelzraten
"Wir haben mit unserer neuen Methode herausgefunden, dass die Abschmelzraten zehn- bis hundertmal höher sind als von der Theorie her erwartet."
Die Frage ist, was eigentlich passiert. Denn der LeConte-Gletscher schiebt sich nur wenige Dutzend Meter auf den schmalen Fjord hinaus. Rebecca Jackson von der Rutgers University in New Jersey:
"Der Gletscher endet in einer steilen Stirn, unter der das Schmelzwasser in den Fjord schießt, das sich gletscheraufwärts an seinem Grund angesammelt hat. Wir hatten angenommen, dass dort, wo diese turbulenten Süßwasserfahnen herausschießen, die Abschmelzraten am höchsten sind. In Wahrheit sind die Abschmelzraten über die gesamte Gletscherfront hinweg sehr hoch, auch dort, wo diese Fahnen nicht auftreten. Anscheinend verstärken auch andere Meeresströmungen in Gletschernähe den Schmelzprozess."
Kopflastige Gletscher
Den Daten zufolge schmilzt der Gletscher im Frühjahr vor allem von oben, durch die sich erwärmende Luft. Im August hingegen sind die Prozesse wichtiger, die unterhalb der Wasserlinie ablaufen. Anscheinend drückt das am Gletschergrund ausströmende Schmelzwasser das relativ warme Meerwasser in Richtung Gletscher. Das Eis schmilzt dann von unten her, der Gletscher wird sozusagen kopflastig und kalbt eher. Dadurch sinkt der Widerstand, den die Gletscherfront dem nachrückenden Eis entgegensetzt, der Gletscher rutscht weiter ins Wasser und schmilzt schneller.
"Wir müssen also wohl auch andere Faktoren in unsere Berechnungen des Schmelzprozesses einbeziehen - wie die Meeresströmungen in Gletschernähe."
Um die Mechanismen genau zu entschlüsseln, werden weitere Gezeitengletscher untersucht. Ziel ist es, die Rolle des Ozeans abschätzen zu können – ob er beim derzeitigen Meeresspiegelanstieg den größeren Einfluss hat oder die Atmosphäre. Damit ließen sich die Vorhersagen zum Tempo des Meeresspiegelanstiegs verbessern.