Donnerstag, 25. April 2024

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Klose: Zuwanderungsregelung für ganz Europa überfällig

Jürgen Liminski: "Unsere Kinder oder die der anderen" - auf diese knappe Formel brachte der große französische Demograph Alfred Sauvy die internationalen Zusammenhänge der sinkenden Geburtenzahlen schon in den sechziger Jahren. Hierzulande diskutiert man seit Jahren über eine Neuregelung der Zuwanderung, aber die Demographie hat eben auch geopolitische Implikationen, und darüber wollen wir nun reden mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses und langjährigen Experten in Fragen der Bevölkerungspolitik Hans-Ulrich Klose. Herr Klose, das Thema Demographie wird hierzulande meist nur diskutiert in Bezug auf die Sozialsysteme. Es fehlen Kinder, also auch künftige Beitragszahler. In der Zuwanderungsdebatte tauchen Kinder auch auf, zum Beispiel beim Thema Nachzugsregelung. Die Franzosen, die Briten und die Amerikaner sehen da größere Zusammenhänge. Haben wir vergessen, über den Tellerrand zu schauen, oder ist das alles nicht so dramatisch?

Moderation: Jürgen Liminski | 05.04.2004
    Hans-Ulrich Klose: Wir haben lange Zeit vergessen, überhaupt zu schauen, und zwar über den Tellerrand zu schauen. Erstens haben wir die Bevölkerungsentwicklung lange nicht zur Kenntnis genommen. Zweitens haben wir nicht erkannt, welche außerordentlichen nicht nur nationalpolitischen, sondern geopolitischen Konsequenzen diese Entwicklung hat.

    Liminski: Also ist die Demographie Ihrer Meinung nach schon ein geopolitischer Faktor?

    Klose: Sie ist es längst, wie man an ganz praktischen Beispielen in unserer Nähe und in weiter Entfernung sehen kann. Nehmen wir von den aktuellen Konflikten, die es gibt, den Kosovo-Konflikt. Der Kosovo-Konflikt war vor langer Zeit ganz anders angelegt, weil es eine Mehrheit von Serben gab und eine Minderheit von Albanern. Das hat sich in weniger als 100 Jahren umgedreht, so dass die Albaner in die Mehrheitsposition gerieten und die Serben in die Minderheit. Die Konsequenzen dieser Entwicklung haben wir miterlebt. Ähnliches erleben wir heute in Mazedonien, wo wir hoffentlich klug genug sind, die Konsequenzen zu vermeiden, die es im Kosovo gegeben hat. Im Übrigen können wir das überall in der Welt verfolgen, die ganze islamische Welt hat ein außerordentlich starkes Bevölkerungswachstum. Südlich des Mittelmeers wird sich die Bevölkerung in den nächsten 50 Jahren nochmals verdoppeln, und im Norden des Mittelmeers geht die Bevölkerung stark zurück.

    Liminski: Auch Entwicklungsländer geraten wegen der Alterung in die Versorgungsfalle, zum Beispiel China. Was bedeutet das für uns?

    Klose: Also zunächst einmal muss man wissen, Japan ist kein Entwicklungsland, hat den Alterungsprozess aber ganz schnell nachgeholt. Das nächste und größte Problem wird nach meiner Einschätzung in China entstehen, wo nicht zuletzt als Folge der Ein-Kind-Politik eine außerordentlich schnelle Alterung der Gesellschaft stattfinden wird mit enormen Problemen, weil gleichzeitig zumindest in den großen Städten Chinas die Familie nicht mehr das ist, was sie in früheren Zeiten war. Ich habe gelegentlich mit Politikerkollegen aus China darüber gesprochen. Sie kennen das Problem, kennen aber noch keine Lösung. Eine ganz pessimistische Konsequenz könnte sein, dass es Unruhen in China gibt, und wenn dieser Gigant ins Trudeln gerät, dann haben wir alle ein Problem.

    Liminski: Müssen wir uns angesichts dieser Probleme, die auch auf uns zukommen, auf die Festung Europa zurückziehen?

    Klose: Ich glaube das nicht, aber wir brauchen für ganz Europa rationale Zuwanderungsregelungen, damit nicht eine Entwicklung stattfindet, die absolut ungesteuert abläuft, denn dann könnte es zu erheblichen Problemen, ja auch zu gewalttätigen Konflikten kommen. Das heißt, das, worüber wir hier in der Bundesrepublik seit langem reden, eine Zuwanderungsregelung, hätten wir in Wahrheit schon vor 15 Jahren gebraucht, aber jetzt endlich sollten wir zu einem Abschluss kommen, der vielleicht beispielhaft für ganz Europa ist.

    Liminski: In wenigen Jahren werden in mehreren Großstädten Deutschlands die Nichtdeutschen die Mehrheit bilden. In diesem Zusammenhang steht auch die Türkeifrage. Kann Europa es sich leisten, die junge, dynamische Nation als Mitglied aufzunehmen?

    Klose: Das ist eine außerordentlich komplizierte Frage, weil es unterschiedliche Argumentationsebenen gibt, außen- und sicherheitspolitische, europapolitische und nationalstaatliche. Es gibt keinen Zweifel, dass der Sicherheitsgewinn durch die Mitgliedschaft einer demokratischen muslimischen Türkei erheblich ist, aber es gibt durchaus Fragen, ob Europa mit diesem großen Mitglied, dessen Bevölkerung stark wächst, nicht seine europäische Identität verliert. Welche Konsequenzen sich ergäben - das formuliere ich ausdrücklich im Konjunktiv -, wenn wir eine weitere starke Zuwanderung aus der Türkei hätten, ist schwer vorauszusagen. Allerdings kann man auch nicht voraussagen, dass sie stattfindet. Meine Meinung ist also, wir sollten die Tür offen halten und zu gegebener Zeit entscheiden. Die Zeit ist meines Erachtens noch nicht gegeben.

    Liminski: Das Thema Bevölkerungspolitik hat immer noch den leichten Beigeschmack des politischen Unkorrekten. Sie befassen sich schon seit Jahrzehnten mit dem Thema, haben auch einiges publiziert. Die Politik wollte es nicht hören - haben Sie uns eben auch gesagt. Brauchen wir eine große Bevölkerungsdebatte?

    Klose: Wir hätten sie längst gebraucht. Das, was hier, wenn man so will, schleichend stattfindet, so dass man es am Anfang nicht bemerkt, ist in Wahrheit eine gigantische Umwälzung, eine richtige Revolution, und wenn wir uns nicht damit beschäftigen, laufen wir angesichts der gegenwärtigen Entwicklungstrends in eine demographische Katastrophe hinein, von der ich nicht sicher bin, ob wir sie kontrollieren werden.