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Kölner Kongress 2018 - Erzählen in den Medien
Unkreatives Schreiben - warum?

Im 21. Jahrhundert haben Technologie und Internet die Bedingungen für Literatur neu geschaffen. Sie erfordern erweiterte Definitionen und Ideen für das, was man bislang Kreatives Schreiben nannte. Dichter und Hochschullehrer Kenneth Goldsmith, Autor von "Uncreative Writing", schlägt neue Verfahren vor.

Ein Gespräch mit Kenneth Goldsmith | 18.03.2018
    Der konzeptionelle Poesiekünstler Kenneth Goldsmith beim Colloquium "Die Zukunft der Dichtung" beim 16. Poesiefestival in Berlin.
    Der konzeptionelle Poesiekünstler Kenneth Goldsmith beim Colloquium "Die Zukunft der Dichtung" beim 16. Poesiefestival in Berlin. (imago/Mike Schmidt)
    Kenneth Goldsmith, geboren 1961 in Freeport, Long Island, ist Konzeptkünstler, Dichter und Literaturwissenschaftler. Er lehrt an der University of Pennsylvania "Uncreative writing" und "Interventionist writing" und erregte international Aufmerksamkeit durch sein Kunstprojekt "Printing out the internet" und seine revolutionäre Poetik.
    2017 erschien sein Buch unter dem Titel "Uncreative Writing - Sprachmanagement im digitalen Zeitalter" bei Matthes & Seitz Berlin auf Deutsch.
    Am Freitag, dem 1. September 2000, begann der US-amerikanische Konzeptkünstler Kenneth Goldsmith die Zeitung abzutippen. Er transkribierte jeden einzelnen Buchstaben, jedes Wort von der oberen linken Ecke bis zur unteren rechten, Seite für Seite. Die fertige Abschrift veröffentlichte Goldsmith im Jahr 2003 unter dem Titel Day, also "Tag". 836 Seiten sind es geworden.
    Für sein Buchprojekt Seven American Deaths and Disasters von 2013 transkribierte Goldsmith "Sieben amerikanische Todesfälle und Katastrophen". Er verschriftlichte Radioberichte über tragische Ereignisse der jüngeren US-amerikanischen Geschichte, über das Attentat auf John F. Kennedy etwa, über die Anschläge auf das World Trade Center oder über den Tod von Michael Jackson.
    Abschreiben klingt erst einmal ziemlich simpel. Kenneth Goldsmith aber wurde durch Abschreiben zum ersten jemals ernannten Hausdichter des renommierten New Yorker Museum of Modern Art. Michelle und Barack Obama empfingen Goldsmith als Vertreter der amerikanischen Lyrik im Weißen Haus. Für die First Lady veranstaltete der Autor sogar einen eigenen Schreib-Workshop.
    In den USA generiert Goldsmith eine unglaubliche Aufmerksamkeit und hat sich längst als zeitgenössischer Künstler von Bedeutung etabliert. In Deutschland dagegen ist der Schriftsteller allenfalls Fachkreisen und der Lyrikszene bekannt. Das mag auch daran liegen, dass keines seiner literarischen Konzeptstücke ins Deutsche übertragen wurde. Die Bücher jedoch gelten ohnehin als nahezu unlesbar. Es ist die dahinterstehende Poetik, mit der Goldsmith immer wieder Diskussionen provoziert.
    Kopieren, Appropriieren und Plagiieren als literarisches Konzept
    In seinem Essayband Uncreative Writing, dem einzigen Werk, das auch auf Deutsch vorliegt, expliziert Goldsmith 2011 die ästhetischen Grundzüge seiner Schreibpraxis. Hier erhebt er das Kopieren, Appropriieren und Plagiieren zum literarischen Konzept. In seinem formalistischen Ansatz ist das Wort weniger Träger semantischer Bedeutung als materielles Objekt. Seine Texte seien demnach nicht ausschließlich dafür geschrieben, gelesen zu werden. Man sollte sie auch teilen, bewegen und manipulieren. Zweckentfremdung und Missverständnisse gehören zum Wesen digitaler Sprache, sagt Goldsmith.
    Sein unkreatives Schreiben feiert die Freiheit des Internets, es sagt das Ende von Geniekult, Plagiatsvorwürfen und von geistigem Eigentum voraus. Entsprechend gründete der Autor bereits 1996 das Online-Archiv Ubu Web. Avantgardistische Kunstwerke aller Art werden hier gesammelt und kostenfrei zur Verfügung gestellt. Das Einverständnis der Künstler holt Goldsmith dafür nicht ein. Urheberrecht existiert für ihn im Internet-Zeitalter nicht mehr.
    Seine Praktiken und Projekte sind nicht immer unumstritten. Einigen Widerstand erfuhr ein politisches Gedicht, das Goldsmith im März 2015 im Rahmen einer Konferenz an der Brown University in Providence vortrug. Unter dem Titel "The Body of Michael Brown" hatte Goldsmith den offiziellen Autopsiebericht des afroamerikanischen Jugendlichen Michael Brown abgeschrieben. Ein Jahr zuvor war der unbewaffnete Brown bei einer Polizeikontrolle in Ferguson erschossen worden. Goldsmiths Gedicht bestand aus einer neu geordneten und leicht veränderten Version des ursprünglichen Autopsieberichts. Als unangemessene Aneignung kritisierten Gegner das Gedicht. Goldsmith jedoch hält bis heute an seiner Poetik fest.
    Zeitverschwendung im Internet als Unterrichtsfach
    Als Professor für Literatur an der University of Pennsylvania gibt Kenneth Goldsmith seine Überlegungen auch an Studierende weiter. Aufsehen und Amüsement erregte sein Seminar "Wasting time on the Internet". Hier sollte Zeitverschwendung im Internet unterrichtet werden. Durch mehrere Länder tourte Goldsmith mit diesem Konzept und veröffentlichte es 2016 unter demselben Titel als Essayband.
    Am 3. März 2018 sprach Kenneth Goldsmith per skype auf dem Kölner Kongress über seine Ästhetik, seine Überzeugungen und die Aktualität seines Internet‑euphorischen Ansatzes.

    Unkreatives Schreiben - warum jetzt?
    Vorgestellt und übersetzt von Miriam Zeh
    Ich werde heute ein wenig über unkreatives Schreiben sprechen. Und zu Beginn möchte ich ihnen eine Geschichte erzählen, die mir passiert ist. Es muss etwa 1993 gewesen sein.
    Ich hatte damals bereits einiges geschrieben, auch ganze Bücher, in denen ich Sprache sammelte. Ich lief einfach nur herum, hörte zu, was die Leute so sagten und schrieb es auf. Ich saß im Kino und schrieb auf, was ich hörte. Ich las Zeitung und schrieb alles von Hand ab. Daraus stellte ich dann diese riesigen Sammelwerke zusammen. Ich ging nach Hause und tippte meine Notizen in den Computer. Dann ordnete ich sie und so sind diese gigantischen Bücher entstanden.
    Eines Tages aber, im Jahr 1993, hatte ich meine erste Internet-Verbindung. Es war eine Wählverbindung. Ich stöpselte also meinen Laptop ein. Ich benutzte damals ein Unix-Betriebssystem und in dem war wirklich alles Text. Ich las mich also durch die Fenster. Und ich weiß nicht, ob es ihnen auch so geht, aber ich werde immer ziemlich unruhig, wenn ich im Internet bin. Ich nehme dann meine Maus, markiere den Text, den ich gerade lese, und ziehe den Text an meinem Cursor herum. Das ist zwar hektisch, macht den Text aber auch gleichzeitig sehr interaktiv. Ich saß also vor meinem kleinen Unix-Fenster und spielte mit diesem Textausschnitt und auf einmal hatte ich ein Microsoft Word-Dokument geöffnet. Aus Versehen zog ich den Text dort hinein und ließ ihn los. Der Text fügte sich dann genau in der Schriftart ins Word‑Dokument, die ich gerade verwendet hatte. Und ich dachte: "Moment mal! Was ist denn da gerade passiert?" Ich konnte dieses gesamte Sprachmaterial auf diesem kleinen Computerbildschirm einfach greifen und in mein Dokument ziehen. "Das ist doch verrückt!", dachte ich. "Mein Schreiben wird nie wieder dasselbe sein. Schreiben an sich wird nie wieder dasselbe sein."
    Aufsammeln, Herausziehen, Aufspüren und Neuzusammenstellen
    Von da an ging ich einfach ins Internet, anstatt alles von Hand abzuschreiben. Ich rief diese textbasierten Anzeigen auf und begann, alles herauszuziehen und dann einzufügen in mein eigenes Word‑Dokument. Das Schreiben schrieb sich damit selbst. Es wurde eine Art automatisches Schreiben.
    Ich hatte mich ohnehin bereits gefragt, warum ich überhaupt Originalwerke verfassen sollte. Warum nicht einfach die Sprache wiederverwenden, die um mich herum existierte und daraus etwas Neues schaffen? Das funktionierte auf analoge Weise schon ziemlich gut. Aber sobald das Schreiben digital wurde, lag auf der Hand, dass ich in meinem ganzen Leben nie wieder ein Wort selbst würde verfassen müssen. Stattdessen wurde mein Schreiben zu einem Prozess aus Aufsammeln, Herausziehen, Aufspüren und Neuzusammenstellen.
    Sie müssen wissen, dass ich als Bildhauer ausgebildet wurde. Mir war deshalb klar, dass Sprache nicht immer entschlüsselbar sein muss, so wie Sie jetzt gerade zum Beispiel entschlüsseln können, was ich sage. Ich kam aus der konkreten Poesie und aus der Konzeptkunst. Den Gedanken, dass Sprache auch Material sein kann, trug ich damit bereits in meiner DNA. Ich wollte nie konventionell schreiben, obwohl ich manchmal natürlich auch anders schreibe. Nur weil man Avantgarde ist oder weil man Lyriker ist, heißt das ja nicht, dass man nur Gedichte schreibt oder nur avantgardistisch. Ich schreibe ganz verschiedene Textsorten mit sehr unterschiedlichen Konzepten. Es hängt davon ab, für welchen Ort der Text bestimmt ist.
    Ich möchte betonen, dass ich niemandem etwas vorschreibe. Manchmal trete ich recht kämpferisch auf und dann wollen Leute mich austricksen und sagen: "Du hast ein Buch geschrieben mit dem Titel Uncreative Writing, also "Unkreatives Schreiben". Darin sind aber lauter kreative Gedanken über Unoriginalität." Unkreatives Schreiben funktioniert an einigen Stellen, an anderen funktioniert es nicht. Mir ist es wichtig, da nicht präskriptiv zu sein.
    Ich bin überzeugt davon, dass Originalliteratur ihre Berechtigung hat. Es muss einen Platz auf dieser Welt geben für Liebesbriefe und für lyrische Gedichte. Trotzdem aber haben jeder Liebesbrief und jedes lyrische Gedicht heutzutage meiner Meinung nach zu berücksichtigen, dass alles Sprachmaterial aus dem Internet kopiert werden kann.
    Das Internet hätte nicht kopierbar sein müssen
    Das klingt ziemlich simpel. Wir kopieren schließlich ständig irgendwelchen Text aus dem Internet und fügen ihn irgendwo ein. Wir denken aber nicht darüber nach.
    Meine ganze Poetik und mein kritisches Denken basieren nun auf der Beobachtung, dass es im Internet diese irrsinnige Dauerschleife gibt, die alles kopierbar macht. Das Internet hätte schließlich nicht kopierbar sein müssen. Vielleicht erinnern Sie sich an die Benutzeroberfläche Flash, die einem vor wenigen Jahren noch häufiger begegnete. Flash verwandelte Text in Bild. Man konnte einen Text dann nicht mehr mit dem Mauszeiger markieren. Wenn man also abends in ein Restaurant gehen wollte, musste man die Website öffnen, einen Stift zur Hand nehmen und die Adresse des Restaurants auf ein Stück Papier schreiben, anstatt sie einfach zu kopieren. Das hätte auch heute noch so sein können. Ist es aber nicht. Und solange das Internet kopierbar ist, behalten meine Poetik und mein Begriff des unkreativen Schreibens ihre Gültigkeit.
    Und selbst wenn sich das ändert, bleibt das Grundwesen der digitalen Praxis sprachlich. Ich werde das auf ganz simple Art und Weise erläutern, genauso wie ich es beim Kopieren und Einfügen getan habe.
    Vielleicht haben Sie per Email schon mal eine JPEG-Bilddatei erhalten, die nicht richtig angekommen ist. Statt des Bildes kam nur meterlanger Quellcode, der Programmcode des Bildes. Im Internet ist jedes Bild, jeder Ton und jedes Video aus alphanumerischen Zeichen zusammengesetzt, also aus Zahlen und Buchstaben. Sie könnten nun diesen Quellcode der JPEG-Datei umsortieren. Sie könnten zum Beispiel ein Shakespeare-Sonett daraus basteln. Die Zeichen sind ja dieselben. Es sind dieselben Ziffern und Buchstaben. Im Internet ist alles ein ständiger Prozess des Lesens, Schreibens und des Übersetzens.
    Es zeigt sich also: Selbst wenn man das Internet versiegeln würde und nichts mehr kopierbar wäre, bliebe es eine sprachliche Praxis. Das ganze Internet basiert auf Lesen und Schreiben. Und dann wollen mir Leute erzählen, wir wären wegen unserer elektronischen Geräte nicht mehr in der Lage zu lesen und nicht mehr in der Lage zu schreiben. Wir würden nur noch auf diese Bildschirme starren. Ich erwidere dann: Auf gar keinen Fall! Wir lesen und schreiben mehr als jemals zuvor. Wir tun es nur anders. Wir schreiben Textnachrichten, Statusmeldungen, Emails und Emojis. Wir lesen ständig. Quantitativ lese ich heute sehr viel mehr als noch vor 20 Jahren.
    Eine richtige Fülle an Konzentration
    Man hört auch immer wieder, wir hätten die Fähigkeit verloren, uns zu konzentrieren. Dabei sehe ich nichts als Konzentration, wenn ich Menschen an ihren elektronischen Geräten beobachte. Da ist eine richtige Fülle an Konzentration. Niemals habe ich Menschen konzentrierter und fokussierter gesehen.
    Ich glaube, dass uns das ganze 20. Jahrhundert darauf vorbereitet hat, anders zu lesen und zu schreiben. Die Moderne hat den Weg bereitet für das Digitale.
    Nehmen wir zum Beispiel Ernest Hemingways berühmte Kurzgeschichte aus sechs Wörtern. Sie lautet: "Zum Verkauf stehen: Babyschuhe, nie getragen." Das sind circa 30 Zeichen, blieben noch 100 und ein paar Zerquetschte für einen Tweet, als der noch 140 Zeichen lang sein durfte. Die Idee der sprachlichen Verdichtung gibt es seit dem Telegramm, seit der Zeitungsschlagzeile. Im Verlauf der Moderne bewegt sich Sprache in einem Zug hin zur Kompression. Das bereitet den Weg zum Digitalen und zum unkreativen Schreiben.
    Meinem Buch über unkreatives Schreiben habe ich ein Zitat des Konzeptkünstlers Douglas Huebler vorangestellt. Er schrieb 1969: "Die Welt ist voller mehr oder weniger interessanter Objekte. Ich habe nicht vor, ihnen noch irgendwelche hinzuzufügen." Ich habe diese Idee von Huebler aufgegriffen und abgewandelt zu: "Die Welt ist voller mehr oder weniger interessanter Texte. Ich habe nicht vor, ihnen noch irgendwelche hinzuzufügen."
    Wir ertrinken heutzutage in einer nie dagewesenen Sprachmasse. Das ganze Internet ist Sprache und wir ertrinken darin. Damit sind aber auch unsere Vorstellungen von Originalität und Genie in Frage gestellt. Will ich am Ufer dieses Ozeans sitzen, mit einer Pipette einige Tropfen hineinträufeln und dann zufrieden davongehen? Wenn wir ehrlich sind, werden diese Tröpfchen doch einfach nur vom Ozean absorbiert. Allenfalls ein paar Web Spiders, Computerprogramme, die automatisch das Netz durchforsten, werden unsere Sprachtropfen auffangen und irgendwie weiterverkaufen. Die meisten Arbeiten aber werden nicht einmal von diesen Web Spiders eingesammelt, nicht einmal die Bots wollen das haben. Unser Text wird einfach nur vor sich hin vegetieren als Tropfen im Ozean.
    Warum verhalten sich Schriftsteller nicht mehr so wie DJs?
    Unkreativen Schreiben fragt: "Warum springen wir nicht mitten hinein in diesen Ozean? Denn warum nicht schwimmen, warum nicht ganz darin versinken?" Das wäre Sprach-Recycling. Ich stelle mir die Wiederverwertung von Sprache besonders nachhaltig vor. Warum sollten wir mehr herstellen, wenn es schon genug gibt? Wir können Vorhandenes wiederverwenden und neu zusammensetzen.
    Manchmal denke ich: Warum verhalten sich Schriftsteller nicht mehr so wie DJs? Ein DJ geht auf die Bühne mit einem Laptop voller Samples. Diese Samples mischt er neu ab und erschafft im Remix etwas Neues. Mit Sprache ist das nicht erlaubt. Es passiert einfach nicht. Niemand würde behaupten ein DJ mache keine Kunst. Natürlich gibt es gute und schlechte, brillante und furchtbare DJs. Aber beim Schreiben ist nicht einmal erlaubt, überhaupt irgendetwas neu abzumischen. Da müssen wir uns schlicht an die Vorstellung von Originalität halten. Für einige Textsorten ist das ja auch in Ordnung. Aber es ist nicht die einzige Möglichkeit.
    Trotzdem wird man immer wieder mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert.
    Plagiats‑Skandale scheinen kein Ende zu nehmen. Dabei könnten wir doch einfach anerkennen, dass Sprache der Ozean ist, in den wir eintauchen und Textstücke hervorholen. Ich weiß selbst nicht einmal, ob das, was ich gerade sage, ursprünglich von mir ist oder ob es überhaupt originell ist. Meine Ästhetik ist ein Remix aus Gedanken, die ich irgendwo aufgeschnappt und neu gemischt habe. Dadurch wurden sie meine Gedanken. Oder vielleicht nenne ich sie auch einfach nur meine und damit gehören sie mir. Im digitalen Zeitalter ist schwer zu bestimmen, was mir gehört und was nicht. In gewissem Sinne verstehe ich unkreatives Schreiben als literarischen Kommunismus, als gemeinsame Erfahrung.
    Diese gesamte Sprache aus nur 26 Buchstaben, die ich zu bereits existierenden Wörtern zusammenstelle, die wiederum ein fixes Vokabular bilden, mit dem ich mein Werk verfassen kann - das ist beinahe eine oulipotische Beschränkung. Was soll daran originell sein?
    Die Idee einer Schreibweise, die auf Einschränkung und formalen Zwängen basiert, geht zurück auf die französische Autorengruppe Oulipo. Bis 2018 hatte auch Twitter eine Beschränkung auf 140 Zeichen pro Tweet. Und die Leute sagten: "Ok, ich werde 140 Zeichen schreiben. Ich kann keine 141 Zeichen schreiben oder 151." Das war noch, bevor die Beschränkung auf 280 Zeichen angehoben wurde. So beschlossen Millionen von Menschen, Textstücke zusammenzusetzen, die der Beschränkung auf 140 Zeichen Folge leisteten.
    Etwas auf 140 Zeichen für Twitter zu kürzen heißt es zu lektorieren
    Damit begannen sie, Sprache zu materialisieren. Natürlich brüllen viele Menschen einfach nur ihren Hass ins Internet oder teilen, was sie gerade zum Frühstück gegessen haben. Aber viele setzen sich wirklich hin und schreiben. Sie fragen sich: "Ach, jetzt sind es 142 Zeichen. Was kann ich kürzen, damit es 140 werden? Kann ich etwas zusammenfassen, etwas prägnanter sagen?" Das ist ein Lektoratsprozess, ein Schreibprozess im ganz herkömmlichen Sinne.
    Millionen von Menschen begannen so, nach einem Prinzip zu schreiben, das auf formaler Beschränkung basiert. Sogar der Präsident der Vereinigten Staaten verbreitet seine gesamte politische Agenda in dieser sprachlichen Form. Ich möchte nicht über die Inhalte sprechen, die dieser Typ da verbreitet. Mich interessiert die Tatsache, dass er es auf einer Plattform tut, die formaler Restriktion unterliegt. Der Präsident der Vereinigten Staaten ist damit, wie jeder andere Twitter-Nutzer auch, ein oulipotischer Schreiber. Er macht Politik in oulipotischer Form. Das ist doch verrückt!
    Die Literaturkritikerin Marjorie Perloff verwendet einen bestimmten Begriff für jene Menschen, die diese beschränkungsbasierten Schreibweisen am besten beherrschen und damit das unkreative Schreiben am besten beherrschen. Sie spricht in diesem Zusammenhang von "Unoriginalgenie". Dahinter steht die Vorstellung, dass Technologien und Internet unseren Geniebegriff verändert haben. Bei einem Genie denken wir normalerweise an eine romantische, einsame Figur – diese Vorstellung ist aber total veraltet. Eine zeitgemäße Auffassung des Genies trüge im Kern die Fähigkeiten zum Beherrschen und Verbreiten von Informationen.
    Perloff verwendet außerdem den Begriff der "Informationsbewegtheit". Sie bezeichnet damit einerseits den Akt des Umherschiebens von Sprache, andererseits aber auch die Tatsache, dass man sich von diesem Prozess emotional bewegen lässt. Nach Perloff ähnelt der heutige Schriftsteller damit eher einem Programmierer als einem gemarterten Genius. Auf eine brillante Weise konzeptualisiert und konstruiert er einen Schreibautomatismus. Er führt ihn aus und hält ihn am Laufen. Wie bei den Oulipoten der 1970er‑Jahre wird damit weniger der erzeugte Text interessant als vielmehr jener Automatismus, der den Text hervorgebracht hat.
    Ein ganzes Semester lang unoriginell und unkreativ sein
    Wenn der Automatismus gut ist, wird sein Produkt gut sein. Was genau "gut" bedeutet, muss letztlich natürlich jeder selbst entscheiden. Es gibt eine Menge schlechter Texte, die durch kopieren und einfügen als Produkte unkreativen Schreibens entstanden sind. Nur weil man es kopieren und einfügen kann, bedeutet das noch lange nicht, dass es gut ist.
    An meiner Universität gebe ich ein Seminar zum unkreativen Schreiben, in dessen Rahmen auch mein gleichnamiges Buch Uncreative Writing entstanden ist. Ich verlange von meinen Studierenden, ein ganzes Semester lang unoriginell und unkreativ zu sein. Sie dürfen kein bisschen kreativ sein, sondern werden danach beurteilt, so unoriginell wie möglich sie zu sein. In einer Sitzung lernen die Teilnehmer, dass - egal wie unkreativ sie versuchen zu sein - immer noch ihre Persönlichkeit hindurchscheint. Denn eine Auswahl zu treffen ist Autorschaft. Und wofür du dich entscheidest, ist autobiographisch.
    Ich sage zu meinen Studierenden zum Beispiel: "Als Hausaufgabe für nächste Woche schreibt ihr bitte fünf Seiten ab." Sie rollen dann immer mit den Augen und erwidern: "Das ist so dämlich. Ich verschwende hier nur meine Zeit." Letztlich tun sie es meistens aber doch und kommen in die darauffolgende Sitzung mit ihren fünf abgeschriebenen Seiten. Sie werde diesen Text dann nicht vorlesen, aber die Diskussion darüber, warum sie sich entschieden haben, dieses oder jenes abzutippen und wie sie sich dabei gefühlt haben, das wird zum Konzeptstück.
    Ich erinnere mich an ein Mädchen, das ihre Lieblingsgeschichte aus der High-School abschrieb. Beim Abtippen merkte sie, dass es eigentlich keine besonders gute Geschichte war.
    Andere Studenten achteten weniger auf den Text als auf ihren Körper. Wir denken immer, dass wir keinen Körper haben, wenn wir schreiben, sondern dass wir uns nur auf das konzentrieren, was wir schreiben. In Wirklichkeit aber bewegen sich unsere Hände. Schreiben ist ein körperlicher Prozess und beim Abschreiben wird das den Studierenden klar.
    Am Ende des Semesters steht die Erkenntnis, dass, egal wie sehr man versucht, die eigenen Wahlmöglichkeiten zu begrenzen und die eigene Biographie außen vor zu lassen, beides immer zum Vorschein kommt. Es ist nicht möglich, sich selbst nicht mit einzuarbeiten. Meine Methode ist also expressiv, sie ist gefühlsbetont, autobiographisch und politisch.
    Manchmal ist die abgeschriebene politische Überzeugung nicht meine eigene. Es hängt davon ab, ob ich ein politischer Schriftsteller sein will. Dann kann ich ein politisches Stück abschreiben. Wenn ich ein rechter Schriftsteller sein will, kann ich ein politisch rechtseinzuordnendes Stück abschreiben oder es kopieren und zusammenfügen. Ob ich nun ein linker Schriftsteller sein will, ein Anarchist, ein Naturalist, ein Kapitalist oder ein Globalist - ich kann jede erdenkliche Art von Schriftsteller sein einfach nur, indem ich Informationen bewege und behaupte, sie wären meine.
    Ich muss nicht immer an meine Inhalte glauben. Vor vielen Jahrzehnten hat uns Roland Barthes gezeigt, dass alle Sprache, die wir benutzen, Text ist und dass dieser in seiner Textualität sehr viel mehr Bedeutungen hat als die, denen wir uns bewusst sind, wenn wir ihn benutzen.
    Selbst wenn man also denkt, dass man etwas mit einer zielgerichteten Bedeutung aufschreibt, schreibt man in Wahrheit die Geschichte eines anderen auf.
    Unkreatives Schreiben erzeugt realistische Literatur. Es ist fotorealistische Literatur, hyperrealistische. Es ist die Literatur des 21. Jahrhunderts, denn im 21. Jahrhundert teilen wir alles. Sprache, die du einmal ins Internet gestellt hast, kannst du vergessen. Sie gehört dir nicht länger. Du musst sie gehen lassen. Menschen wollen Essays ins Netz stellen und ein Urheberrecht darauf einfordern. Das ist Irrsinn! Man kann doch alles kopieren und einfügen.
    Unsere Vorstellungen von sprachlichem Eigentum aufgeben
    Im Zeitalter von fake news sind die Vorstellungen von Wahrhaftigkeit und Authentizität völlig unhaltbar. Das haben fake news uns vor Augen geführt. Ich hoffe, die Menschen kriegen endlich in ihre Köpfe, dass nichts ihnen gehört.
    Es gehört ihnen vorübergehend, aber in der Minute, in der sie einen Text in einen öffentlichen Ort wie das Internet stellen, ist es nicht länger ihr Eigentum. Also hört bitte auf, Texte für euch zu beanspruchen. Zweckentfremdung gehört zur Wesensart digitaler Sprache. Worte werden zweckentfremdet und fälschlich wiedergegeben werden. Davor ist niemand sicher. Ich kann doch einfach deinen Namen entfernen und durch meinen ersetzen. Ich kann jedes Pronomen von "er" zu "sie" ändern. Ich kann aus jedem "ja" ein "nein" machen, alles Positive ins Negative verkehren. Eine Million Dinge kann ich mit einem Text anstellen und ihn mein Eigentum nennen. Es gibt nichts, was man dagegen tun kann. Wir müssen vielmehr unsere Vorstellungen von sprachlichem Eigentum aufgeben.
    All diese Entwicklungen ignoriert der etablierte Literaturbetrieb aber offenkundig komplett. Dort werden dieselben Bücher immer und immer wieder geschrieben, woraus dann immer wieder dieselben Filme gedreht werden. Alle Bücher, die mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet worden sind oder für diesen Preis nominiert waren - das ist unkreatives Schreiben. Jedes dieser Bücher ist nach einem bestimmten Rezept geschrieben, jedes bedient sich einer ganz bestimmten Sprache und einer ganz bestimmten Verkaufsstrategie. Für mich ist das nicht kreativ.
    Ich interessiere mich eigentlich sehr für Kreativität. Was mich aber nicht interessiert, ist das, was aus Kreativität geworden ist. Deshalb verwende ich das Wort unkreativ, um dem Begriff wieder Leben einzuhauchen. Ich will Kreativität gefährlich machen. Ich will sie radikal machen. Kreativität soll wieder kreativ sein.
    Das ist heute nur noch realisierbar mit Operationen, die gemeinhin nicht als kreativ gelten: Nachahmung, Unauthentizität, Identitätsbetrug, Diebstahl, Raub, Plünderung, Rückforderung, Wiederverwertung, Zweckentfremdung. All diese Dinge finde ich heutzutage ziemlich kreativ.
    Warum kann ich am Flughafen kein Buch kaufen, das ein Remix ist?
    Vor einigen Jahren gab es in Deutschland den Fall dieser jungen Schriftstellerin, Helene Hegemann, die einen autobiographischen Bestseller veröffentlicht hatte. Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, das war 2010. Es stellte sich heraus, dass große Teile des Buches plagiiert waren. Nachdem ein Blogger Hegemann entlarvt hatte, folgten die üblichen Entschuldigungen. Aber sogar nach dieser Enthüllung wurde das Buch auf die Shortlist zum Preis der Leipziger Buchmesse gewählt in der Kategorie "Belletristik". Der Preisjury waren die Plagiatsvorwürfe bei ihrer Entscheidung bewusst.
    Die New York Times berichtete damals, dass Frau Hegemann sich zwar dafür entschuldigt hätte, nicht transparenter mit ihren Quellen umgegangen zu sein, sich aber auch mit dem Argument verteidigte, einer neuen Generation anzugehören. Diese Generation bediene sich freizügig an der beunruhigen Flut von Informationen und vermische einzelne Bruchstücke quer durch neue und alte Medien, um etwas Neues zu schaffen. "Originalität gibt es nicht, nur Echtheit", ließ Frau Hegemann in einer Stellungnahme verlauten, die während des Skandals von ihrem Verlag veröffentlicht wurde. Über Echtheit müsste ich mich mit Frau Hegemann streiten, aber ansonsten habe ich das Gefühl, dass das schon in die richtige Richtung ging.
    Allerdings hat dieser Skandal wirklich gar nichts verändert. Es gibt immer noch keine jungen Autoren, die in marktgängiger Art und Weise kombinieren und vermischen. Warum kann ich am Flughafen kein einziges Buch kaufen, das ein Remix ist, das Fehler enthält oder Plagiate? Diese Verfahren werden immer noch verachtet.
    Dabei tun wir den ganzen Tag nichts anderes als Informationen zu bewegen, zu kopieren und zu zerschneiden. Lasst uns endlich ehrlich sein, lasst es uns zugeben! Ich glaube, wenn wir zugeben, dass wir auf diese Art heute schreiben, lesen und teilen, dann wird eine große Last von uns genommen, von uns als Autoren und von uns als Produzenten.